Lulu wachte langsam auf.
Sonnenlicht ergoss sich in das weitläufige, fast schon Penthouse-artige Zimmer. Der blaue Himmel erstreckte sich meilenweit über die Palmen und Kakteen und andere Wüstenpflanzen. Lulu genoss den luxuriösen Komfort eines Hotelzimmers, das speziell dahingehend eingerichtet war, den Gästen Entspannung von der Hektik des Alltags zu ermöglichen.
Sie streckte eine Hand nach Pierce’ Arm aus, um ihm zu zeigen, dass sie wach war; er würde sicher bereits die Zeitung lesen und darauf warten, dass seine Frau die Augen öffnete.
Ihr Arm berührte jedoch nur eine leere Betthälfte. Frische, gestärkte Bettwäsche und ein zusätzliches flauschiges, hypoallergenes Kissen. Auf dem nicht der Kopf ihres Mannes lag. Lulu setzte sich abrupt auf und holte tief Luft, als die Realität sich langsam wie eine schwere Decke auf ihre Schultern senkte.
Sie sah sich im Zimmer um und drängte einen Anflug von Desorientiertheit zurück. Normalerweise wartete ihr Mann neben ihr, bis sie aufwachte. War er hinausgegangen? Frühstückte er ohne sie?
Ihre Augen brannten vor Tränen, als die Dusche im Badezimmer angestellt wurde. Sie schämte sich wegen der Erleichterung, die sie durchströmte. Pierce war noch da. Selbst wenn er das nicht mehr lange sein würde.
Lulu stand auf und hüllte sich in einen weichen weißen Bademantel, in den das Logo des Resorts eingestickt war. Ein elegantes kleines Kaffeearrangement erwartete sie auf einem Zimmerservice-Tablett. Eine der zwei Tassen war bereits benutzt, wie der dunkelbraune Bodensatz zeigte.
Lulu schenkte sich schwarzen Kaffee ein, entschied sich für einen dieser braunen Zuckerbrocken – die edlen, unförmigen aus Rohrzucker, die von irgendeiner karibischen Insel importiert wurden – und ließ ihn in die zarte Tasse fallen. Dampf stieg auf, als sie noch Sahne aus einem exquisiten kleinen Milchkännchen dazugab und alles mit einem winzigen rosa-goldenen Löffel umrührte.
Vorsichtig hob sie die elegante Tasse, die so dünn war, dass ein Windhauch sie hätte zerbrechen lassen können, und ging auf den Balkon, wo sie sich auf einer der bequemen, mit frischen Handtüchern bedeckten Liegen niederließ.
Als sie sich zurücklehnte, spielte die Sonne hinter den Wolken Verstecken. Ausnahmsweise machte sie sich keine Gedanken über den Sonnenschutzfaktor oder Falten oder Hautkrebs. Sie schloss die Augen, nahm die Wärme in sich auf und versuchte, an überhaupt nichts zu denken.
Doch Meditation war noch nie Lulus große Stärke gewesen, und als sie die Augen aufschlug, sah sie ihr Spiegelbild im Fenster. Ohne Make-up, Schmuck, Cremes und Lotionen, die ihr Alter verbargen. Sie beugte sich näher zur Glasscheibe und berührte ihre Wange.
Seltsam, wie wenig die Falten zu der Jugendlichkeit passten, die sie innerlich spürte. An manchen Tagen war Lulu aufgekratzt wie ein junges Mädchen. Dann erhaschte sie einen Blick auf sich im Spiegel und wusste wieder, dass sie alt genug war, um Großmutter zu sein. Es passte nicht zusammen, und für Lulu hatte ihr inneres Selbstbild mit ihrem alternden Körper nicht Schritt gehalten.
Sie hatte sich nie besondere Gedanken um ihr tatsächliches Alter gemacht. Ihr ganzes Leben lang waren Jugend, Schönheit und Charme auf ihrer Seite gewesen. Außerdem hatte sie immer ältere Männer geheiratet. Nicht nur waren diese im Allgemeinen finanziell besser gestellt, sie genoss es auch, die Jüngere von beiden zu sein.
Doch jetzt hatte Lulu einen Punkt erreicht, an dem Männer, die älter waren als sie, allmählich wegstarben. Wobei es ihr darum nicht ging. Lulu wollte sich nicht nach jemand anderem umsehen. Sie wollte nicht wieder nach der Liebe suchen, das ganze Brimborium durchmachen, dass man sich gegenseitig seine Lebensgeschichte erzählte, die Familie des jeweils anderen kennenlernte und von einer gemeinsamen Zukunft träumte. Sie hatte den Willen und den Antrieb dafür verloren, sehr wahrscheinlich weil sie gedacht hatte, dieser Teil ihres Lebens wäre endgültig vorbei.
Die Liebe war noch nie so anstrengend gewesen.
Das Klingeln eines Telefons riss Lulu aus ihren Gedanken. Sie ging wieder ins Zimmer und stellte die Kaffeetasse klirrend aufs Tablett. Sie wollte schon nach dem Zimmertelefon greifen, doch dann wurde ihr klar, dass das Geräusch nicht von dort kam.
Der Klingelton war ihr fremd. Lulu sah auf ihr Handy, doch das Display war schwarz. Es konnte auch nicht Pierce’ Gerät sein, den Ton kannte sie, auch wenn sie zur Sicherheit auf das Ladegerät schaute, das in einer Steckdose an der Wand hing. Kein Telefon. Lulu spürte ein Prickeln im Nacken, als sie sich umdrehte und horchte, aus welcher Richtung das Klingeln kam.
Sie näherte sich Pierce’ Koffer, bückte sich, zog den Reißverschluss auf und suchte vorsichtig zwischen seiner Kleidung. Das Geräusch war jetzt ganz nah. Fluchend wühlte Lulu sich durch die Hosen und Hemden ihres Mannes, schlug die Schlafanzüge und Sportkleidung zur Seite und tastete die Socken ab. Sie nahm sein Arbeitshandy heraus, das sie letzte Nacht schon gefunden hatte, doch das Display zeigte keine verpassten Anrufe.
Das geheimnisvolle Klingeln ertönte weiter. Erst als Lulu einen kleinen Reißverschluss an der Kofferwand ertastete, hinter Pierce’ Sachen, spürte sie die Vibration. Mit zitternden Fingern zog sie das Fach auf und schob die Hand hinein, griff nach dem schlanken Telefon und nahm es heraus. Sie zögerte, auf den Bildschirm zu schauen.
Statt eines vollständigen Namens wurde nur der Buchstabe S angezeigt. Lulu wurde eiskalt, als alle Puzzleteile an ihren Platz fielen. Spätabendliche Treffen, kleine schwarze Notizbücher mit Terminen, bei denen nur ein einzelner Buchstabe stand, Anmerkungen, die sich auf Meetings bezogen, von denen Lulu nichts gewusst hatte … Das war sie.
Ehe der Anruf zur Voicemail weitergeleitet wurde, reagierte Lulu instinktiv. Sie nahm das Gespräch an und hielt sich das Telefon ans Ohr.
»Bist du das, Pierce?«, fragte eine Frauenstimme. »Du solltest mich doch gestern Abend anrufen. Ich dachte, du hättest gesagt, man könne dich erreichen, auch wenn du jetzt eine Woche weg bist. Hallo? Pierce?«
»Wer spricht da?«, fragte Lulu mit seltsam erstickter Stimme. »Und was haben Sie mit meinem Ehemann zu schaffen?«
Detective Ramone: Ms. Franc, Sie haben gestern Abend Zeit mit Kate Cross an der Lobbybar des Resorts verbracht, wenn ich richtig informiert bin.
Lulu Franc: Sie sagen das, als ob wir eine wilde Affäre hätten. Wir haben einige Drinks mit ein paar Freundinnen getrunken.
Detective Ramone: Hatten Sie den Eindruck, dass Kate Cross wütend wegen der Trennung von Maximilian Banks war? Genug, um einen Mann zu töten?
Lulu Franc: Was spielt das für eine Rolle? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich dafür verantwortlich bin. Ich habe dem Mann eine Weinflasche über den Schädel gezogen und ihn damit totgeschlagen. Ich sage Ihnen jetzt bestimmt schon zum dritten Mal dasselbe.
Detective Ramone: Das ist interessant, Ms. Franc. Weil drei andere Frauen genau dieselbe Geschichte erzählen. Vier Geständnisse, alle Frauen behaupten, sie hätten allein gehandelt, und eine Leiche – das passt alles nicht zusammen.