Sie weiß es.
Emily starrte Lulu nach, bis sich die Aufzugtüren geschlossen hatten, um die eigenartige Frau nach oben zu bringen. Sie hatte ihren Blick gesehen, das abrupte Drehen des Kopfes, als Emily noch einen Drink bestellt hatte. Die ältere Frau hatte sie sofort durchschaut. Lulu hatte einen Blick in die dunkle Abwärtsspirale geworfen, zu der ein Drink, zwei Drinks, drei Drinks schnell wurden. Der Durst, der nicht zu stillen war.
Lulu hatte höflich den Blick abgewendet, um sie nicht mit der Enttäuschung ansehen zu müssen, die Emily aus den Gesichtern ihrer Familie und ihrer Freunde vertraut war. Einer Enttäuschung, wegen der Emily mittlerweile eine Meisterin darin war, in Gegenwart anderer genau den richtigen Alkoholpegel zu halten. In der Öffentlichkeit schöpfte niemand Verdacht, weil Emily immer die Kontrolle zu haben schien. Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle.
Emily konnte aufhören zu trinken, wenn sie es wollte, und deshalb war sie keine Alkoholikerin. Sie hatte sogar einen Drink abgelehnt! Alkoholiker machten so etwas nicht. Sie konnten es nicht. (Es war egal, dass Emily danach sofort etwas bestellt hatte – das war ihre Wahl gewesen. Eine schlüssige, logische Entscheidung – kein Zwang.) Sie hatte nur nicht gewollt, dass Lulu dafür bezahlte.
Selbst jetzt war Emily nicht betrunken. Ja, im Flugzeug war nach ein paar Bechern Champagner alles ein wenig undeutlich gewesen, und wahrscheinlich hatte sie Henry deshalb so eifrig auf der Flugzeugtoilette bestiegen. Andere mögliche Gründe erschienen ihr weniger ansprechend.
Andererseits hatte Emily auch in nüchternem Zustand keine tolle Männerbilanz vorzuweisen. Es war beinahe zehn Jahre her, dass sie in einer ernsthaften Beziehung mit einem Mann gewesen war, und daran wollte sie auch nichts ändern. So war es viel einfacher.
Und seit zehn Jahren trauerte sie. Zugegeben, ihrer Therapeutin gegenüber hatte sie von drei Jahren gesprochen, weil die anderen sieben zu verschwommen gewesen wären. (Emilys Therapeutin fand das nicht besonders witzig.)
Gehen Sie unter die Leute, hatte Sharleen gesagt.
Dann hatte sie sich auf die üblichen Floskeln verlegt. »Es ist nicht Ihre Schuld. Sie hätten nichts tun können.«
Schwachsinn, dachte Emily und sah sich nach Lulu um. Sie war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie ihr Mann. Emily zog ihr Handy aus der Tasche und wählte Sharleens Nummer. Sie wusste nicht, ob sie ihre Therapeutin schockieren oder wirklich ihren Rat hören wollte. Vielleicht beides.
»Hallo?«, antwortete Sharleen und klang überrascht, dass man sie weit nach Feierabend unter ihrer beruflichen Nummer anrief. »Emily, alles in Ordnung?«
»Dr. Sharleen, ich wollte Sie auf den neuesten Stand bringen«, antwortete Emily. »Ich habe einen Mann kennengelernt.«
»Haben Sie getrunken, Emily?«
»Ein bisschen, aber ich bin nicht betrunken, ganz ehrlich. Nur ein paar Gläser Champagner zur Feier des Tages.«
»Emily, wo sind Sie? Ich mache mir Sorgen«, sagte Sharleen. »Sie sind doch nicht mit dem Auto unterwegs, oder?«
»Nein, es geht mir gut, wirklich. Ich bin in einem Hotel – nein, Entschuldigung, Resort –, wegen der Hochzeit einer Freundin«, erzählte Emily. »Ich habe im Flugzeug einen sehr netten Mann kennengelernt, und wir hatten so eine Art Date. Er sieht sehr gut aus.«
»Das ist … großartig«, antwortete Sharleen vorsichtig. »Und Sie mochten ihn? Er hat Sie gut behandelt?«
»Sozusagen.« Emily kicherte anzüglich. »Ich dachte, Sie wären vielleicht stolz auf mich.«
»Natürlich, aber ich würde Ihnen wirklich raten, sich vom Alkohol fernzuhalten. Wir haben ja bereits darüber gesprochen, und ich dachte, wir würden Fortschritte machen …«
»Sharleen, Sie haben es selbst gesagt. Sie können mir nicht helfen, solange ich mir nicht selbst helfen will.«
»Ja, aber Sie sind mir wichtig, und ich möchte, dass es Ihnen gut geht. Sie haben sich so gut weiterentwickelt. Doch ein Schritt zurück muss nicht die ganzen Fortschritte zunichtemachen, die wir uns erarbeitet haben. Warum trinken Sie nicht ein Glas Wasser und gehen auf Ihr Zimmer? Morgen ist ein neuer Tag, und wir fangen wieder an. Vergessen Sie nicht, der Wein lässt Ihre Probleme nicht verschwinden.«
»Und was ist mit Champagner?«
»Emily.«
»Hören Sie, Sharleen«, erwiderte Emily scharf. »Sie wissen nicht, wie es ist. Ich bin allein hier. Ich werde meine frühere beste Freundin treffen, die mich hasst. Und da ist ein Baby, das verdammt noch mal nicht aufhören will zu schreien!«
»Oje«, sagte Dr. Sharleen sanft und nicht mehr ganz so professionell distanziert. »Aber Sie haben Werkzeuge, um damit umzugehen – vergessen Sie nicht, es ist über zehn Jahre her.«
Die leichte Kritik, die auf Emilys Ausbruch gefolgt war, hatte sich zu Mitleid abgeschwächt. Oder Mitgefühl. Emily konnte es nie genau sagen. »Und mit der Zeit soll dann alles verschwunden sein?«, entgegnete sie hart. »Es tut mir leid, dass ich Sie angerufen habe. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie am Abend gestört habe, Sharleen.«
»Emily.«
»Ich muss auflegen. Ich ertrage das Schreien nicht mehr.«
Abrupt beendete Emily das Gespräch mit ihrer Therapeutin und bestellte ein Wasser bei der Barkeeperin, die erleichtert wirkte. Sie wusste nicht, ob es etwas war, das Sharleen gesagt hatte, oder ob das brüllende Baby einen Schalter in Emilys Gehirn umgelegt hatte, aber irgendetwas war anders. Sie spürte eine Art Neugier, die durch ihre Adern kroch, ihr Blut vergiftete und sie zu dem unzufriedenen Säugling trieb.
Doch als sie gerade aufstehen wollte, trafen sowohl Lulus Chili Cheese Fries ein als auch ein älterer Herr, der etwas verloren wirkte. Pierce, dachte Emily, und ihre Vermutung bestätigte sich, als er fragend auf den Barstuhl blickte, auf dem Lulu bis vor Kurzem noch gesessen hatte.
Emily winkte ihm kurz zu. »Suchen Sie nach Ihrer Frau?«
»Lulu«, antwortete er zurückhaltend und kam auf Emily zu. »Haben Sie sie gesehen?«
Pierce Banks hatte dichtes Haar, das sorgfältig frisiert und zu einer Seite gescheitelt war, wobei ein paar Strähnen liebenswert abstanden. Er trug einen teuren Anzug mit charmanten Hosenträgern, was ihn wie eine Mischung aus einem distinguierten älteren Herrn und liebenswertem Großvater wirken ließ. Für sein Alter war er sehr attraktiv, und Emily würde wetten, dass er früher umwerfend ausgesehen hatte.
»Ja, wir haben uns eine Weile unterhalten«, antwortete Emily und deutete auf Lulus Platz. »Sie hat mich gebeten, hier auf Sie zu warten, um Ihnen zu sagen, dass sie gleich zurück ist. Sie hatte kurz etwas zu erledigen und hat sich Sorgen gemacht, Sie könnten denken, dass sie Sie vergessen hat.«
Pierce lachte, was seine Miene aufhellte, und Emily verspürte plötzlich glühende Hoffnung für das Paar. Die Hoffnung, dass die beiden für immer zusammenbleiben würden, denn auch wenn Lulu ihre früheren Ehen leichtfertig abgetan hatte, war völlig klar, dass die Frau mit Pierce ihre große Liebe gefunden hatte und am Boden zerstört wäre, wenn er sie verließe.
»Wo genau wollte mich meine Frau suchen, haben Sie gesagt?«, fragte Pierce plötzlich, und Emily zuckte zusammen, als hätte er ihre Gedanken gelesen und gemerkt, dass sie etwas verheimlichte. »Ich sollte ihr nachgehen.«
»Nein, genau das wollte sie nicht«, antwortete Emily rasch. Sie hatte das Gefühl, Lulu wolle allein sein, was auch immer sie vorhatte. »Bleiben Sie. Sie ist gleich wieder da. Nehmen Sie von den Cheese Fries – die hat Lulu bestellt. Ich werde mal schauen, ob die Frau da drüben Hilfe gebrauchen kann.«
Emily schob das Essen zu Pierce hinüber und ging in die Richtung, aus der das Weinen des Babys kam. Zufrieden stellte sie fest, dass sie nüchterner war als gedacht. Kontrolle. Sie schwankte kaum, und ihre Augen waren klar, wie ihr ein Blick in den Taschenspiegel zeigte.
Es war auch hilfreich, dass Emily wie eine reiche Gesellschaftstrinkerin aussah. Sie trug ihre teuersten Jeans und High Heels, darüber eine schmal geschnittene schwarze Bluse mit Spitzensäumen. Dazu hatte sie ein paar ihrer Lieblingsaccessoires angelegt – eine schlanke Armbanduhr, die sie schon seit Jahren hatte, zwei kleine Diamantstecker in den Ohren und eine billige, aber mit Erinnerungen behaftete Silberkette, die Whitney ihr in der Collegezeit geschenkt hatte. Es war ganz bestimmt kein luxuriöses Outfit, aber sie hatte sich bemüht, ordentlich auszusehen. Das gehörte alles zu der Scharade.
Als Emily sich dem weinenden Baby näherte, verflüchtigte sich das fast schon ätherische Bild, das sie sich von der beseelten Mutter mit ihrem Kind gemacht hatte. Die Stirn der jungen Frau war von Furchen der Erschöpfung durchzogen, und die dunklen Ringe unter den Augen zeugten von chronischem Schlafmangel. Sie schien kaum alt genug für ein eigenes Kind zu sein und sah eher aus, als sollte sie mit einem Rucksack auf dem Rücken über einen Campus spazieren, statt einen Säugling an der Brust zu halten.
Die junge Frau hatte ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten gebunden, und man sah, dass es einmal lang und wunderschön gewesen sein musste; jetzt war es schlaff und glanzlos. Sie trug ausgeblichene Jeans und ein offenes Flanellhemd mit hochgerollten Ärmeln. Darunter war ein schwarzes Top zu sehen, das einen schmalen Streifen blasser Haut an ihrem Bauch entblößte.
Emily stand da, mehr hypnotisiert von dem kleinen Kind als von der rätselhaften jungen Mutter. Sie brachte keinen Ton heraus. So lange war sie einem Baby schon nicht mehr so nahe gewesen, nicht seit …
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau. »Oh, bitte entschuldigen Sie … Wir stören Sie sicher. Ich weiß, ich sollte wahrscheinlich nicht mit einem schreienden Baby hier in der Lobby sitzen, aber ich musste einfach mal raus aus meinem Zimmer.« Sie schauderte. »Die Wände schienen immer näher zu kommen, und es war so dunkel, und Lydia wollte nicht aufhören zu weinen, und …«
»Sie stört mich nicht«, log Emily. »Ich heiße Emily.«
»Hallo, ich heiße Sydney«, erwiderte die junge Frau und versteifte sich, als hätte sie etwas Falsches gesagt. Sie fasste sich rasch wieder, ihr Gesicht hellte sich auf, und sie versuchte, eine Hand zur Begrüßung auszustrecken.
Emily winkte ab. »Lassen Sie nur, Sie haben die Arme schon voll genug.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Sydney und biss sich auf die Lippen, die mit Kirsch-Lipgloss geschminkt waren. »Mittlerweile sollte ich doch ein Profi sein – sie ist schon vier Monate –, aber manchmal tue ich mich noch schwer.«
Emily setzte sich in den Sessel neben der Frau, der weich und bequem aussah, von der Art, mit der Resort-Lobbys einem signalisierten: Setzen Sie sich, entspannen Sie sich, liebe reiche Menschen, wir werden uns um Sie kümmern. In Wahrheit fühlte er sich steif wie Pappe an.
»Das ist doch normal«, sagte Emily, als sie ihr Gewicht auf dem harten Sessel verlagerte. Unerwartet regte sich etwas in ihr, hier in der Lobby voller deutlicher (und sehr teurer) Zeichen der Liebe und Hingabe, als sie sah, wie das Kind sich an der Brust seiner Mutter bewegte. Ein Baby war das ultimative Zeichen der Liebe. Oder?
Auf einmal durchzuckte Emily rasende Wut. Statt dagegen anzukämpfen, ergab sie sich in das Gefühl, ließ schwarze und rote Punkte und Sterne hinter ihren Augen explodieren, während sie das Baby betrachtete, von ihm angezogen wurde wie eine Motte vom Licht.
»Haben Sie Kinder?«, fragte Sydney, und es war, als würde Emily von einem Messer durchbohrt, ausgeweidet und blutend zurückgelassen.
Sie schüttelte den Kopf, den Blick auf das Baby gerichtet. »Nein.«
»Zum Glück, denken Sie wahrscheinlich«, meinte Sydney mit schiefem Lächeln. Dann musste ihr etwas an Emilys Gesichtsausdruck aufgefallen sein, denn sofort nahm sie die Bemerkung mit einem schuldbewussten Blick auf Lydia zurück. »Das habe ich nicht so gemeint. Ich würde Lydia um nichts in der Welt hergeben, es ist nur … Ich bin so erschöpft. So müde. Die ganze Zeit.«
»Ich kann mir das gar nicht vorstellen.«
»Mein Mann … äh, ja, er ist wohl nicht mehr mein Mann«, sagte Sydney und schlug den Blick nieder. »Wir leben getrennt, deshalb kümmere ich mich allein um Lydia. Ich kenne viele Single-Mütter, aber ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie die das schaffen.«
»Das tut mir leid zu hören.«
»Sie denken wahrscheinlich, was für eine schreckliche Mutter ich bin, weil ich nicht versuche, meine Ehe zu retten, wo wir doch eine kleine Tochter haben«, fuhr Sydney fort, als ob sie selbst so dächte. »Ich glaube aber wirklich, dass es so am besten ist. Es muss so sein.«
Emily wusste nicht, was sie sagen sollte, weshalb sie nur leicht den Kopf neigte, um zu signalisieren, dass sie zuhörte. Emily kannte toxische Männer. Darin war sie ein Profi: Sie verliebte sich in sie, fing etwas mit ihnen an, heiratete sie.
»Und jetzt quatsche ich Sie voll, eine Fremde, wo Sie doch wahrscheinlich nur hergekommen sind, um mich zu bitten, mit dem Baby wegzugehen.« Sydney wirkte so bedürftig, dass es Emily das Herz zerriss. »Es tut mir leid, ich bringe sie weg.«
»Nein, bitte …« Emily streckte reflexartig die Hand aus und legte sie auf Sydneys Arm. »Bleiben Sie.«
Sydneys kristallblaue Augen wirkten vor Erschöpfung etwas verschleiert, aber ihre Schönheit war immer noch deutlich zu sehen. Früher musste sie mit ihrer Shirley-Temple-Unschuld und dem breiten, vertrauensvollen Lächeln bildhübsch gewesen sein. Doch jetzt füllten sich diese großen, neugierigen Augen mit Tränen.
»Wirklich?«, fragte sie. »Das … das ist so nett von Ihnen. Die Leute werfen mir schon den ganzen Abend böse Blicke zu. Ich bin mit Lydia um den Pool gelaufen, habe sie in unserem Zimmer in den Autositz gelegt, und ich habe sogar … O Gott. Sie werden mich für furchtbar halten. Ich bin in die Waschküche gegangen und habe ihre Trageschale auf den Trockner gestellt, weil sie zu Hause dabei einschläft. Nichts hat geholfen. Ich … ich kann gerade nicht allein sein, und wenn ich hier zwischen diesen ganzen feinen Leuten sitze, die sich amüsieren, komme ich mir weniger einsam vor.«
»Glauben Sie mir«, sagte Emily. »Ich verstehe Sie. Einsamkeit ist …«
»Sydney!« Ironischerweise wurde Emily gerade in diesem Moment von einer Stimme unterbrochen, die sie zum unerwünschten fünften Rad am Wagen machte. Eine fremde Frau baute sich vor der jungen Mutter auf. »Das kann doch nicht dein Baby sein. Ich dachte, ich hätte dir gerade erst eine Glückwunschkarte zum Highschool-Abschluss geschickt. Ich wusste gar nicht, dass du geheiratet hast?«
»Oh, nun ja, wir haben uns ja auch schon lange nicht mehr gesehen.« Sydney warf Emily ein entschuldigendes Lächeln zu, bevor sie sich wieder an die Frau wandte. »Tante Janice, das ist Emily. Sie …«
»Ist das Baby deins?« Tante Janice beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor und streichelte mit dem Finger über die weiche Wange des Kindes. »Sie ist ja eine ganz Süße. Aber die Augen hat sie von deinem Mann, nicht wahr? Wie lange bist du schon verheiratet? Denn das bist du doch, oder?«
Emily verfolgte unbehaglich die übergriffigen Fragen, die nur von einem Familienmitglied kommen konnten, mit dem man schon lange keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Sie lehnte sich zurück und blickte zur Bar. Erleichtert sah sie, dass Lulu von ihrem Ausflug nach oben zurückgekommen war und gerade auf den Barstuhl neben ihrem Mann glitt, der stirnrunzelnd eine Bemerkung machte.
Sie drehte sich wieder um. Tante Janice musste etwa Ende fünfzig sein, kleidete sich aber wie eine viel jüngere Frau, mit glitzernden Ringen an vielen Fingern und grellem Make-up, das von einer hellrosa Strickjacke betont und von einem Blumenschal gekrönt wurde, der ordentlich um ihren Hals geschlungen war.
An den Füßen trug sie Sandalen mit goldenen Riemen, die Emily an Gladiatoren denken ließ. Ein hauchdünnes schwarzes Kleid, das um ihre Knie schwang und zu der Designerhandtasche über ihrem Arm passte, vervollständigte das Ensemble.
»Ich hätte euch ein Geschenk zur Hochzeit geschickt«, meinte Tante Janice bedauernd. »Und ein Geschenk zur Geburt. Ich weiß, wie hart die erste Zeit ist. Ich kann mich noch gut erinnern, als meine kleine Jackie auf die Welt kam. Jetzt ist sie eine wundervolle Tochter, aber als Baby hätte ich sie manchmal am liebsten für immer der Nanny gegeben!« Janice lachte. »Na, wie auch immer, Whitney und Arthur freuen sich sicher, dass du die Kleine zur Hochzeit mitgebracht hast. Ist dein Mann auch da? Was arbeitest du denn mittlerweile?«
»Ich habe nach Lydias Geburt aufgehört zu arbeiten«, antwortete Sydney und errötete. »Mein … äh, Mann hat darauf bestanden. Er wollte, dass ich mich voll auf unsere Tochter konzentriere.«
Tante Janice nickte zustimmend. »Und wer ist der geheimnisvolle Mann?«
Sydney warf Emily einen Blick zu und biss sich auf die Lippe, was Emily als flehende Geste interpretierte. Emily sah auf ihre Füße und bemerkte eine Schramme an ihrem Absatz, um die sie sich plötzlich kümmern musste. Sie rieb mit dem Daumen über die weiße Stelle und gab vor, nicht zuzuhören.
»Wir haben uns im College kennengelernt. Also, nicht direkt dort, sondern während ich studiert habe«, erzählte Sydney. »Wir haben uns Hals über Kopf ineinander verliebt. Nach ein paar Monaten waren wir verlobt und kurz darauf verheiratet. Wir haben im kleinen Kreis gefeiert.«
»Nun, ich muss sagen, ich bin beeindruckt.« Tante Janice runzelte die Stirn, was das Kompliment zunichtemachte. »Wann hast du das College abgeschlossen? Ich kann mich nicht erinnern, dir eine Karte geschickt zu haben. Wenn ich das auch übersehen habe …«
»Haben Sie nicht gesagt, dass Sie Lydia ins Bett bringen wollten?«, schaltete Emily sich ein. »Wenn ich sie nehmen soll, damit Sie noch etwas mit Ihrer Tante reden können, mache ich das gern. Sie scheinen sich ja schon lange nicht mehr gesehen zu haben.«
»O nein, das kann ich nicht von Ihnen verlangen.« Sydney warf Emily einen erleichterten Blick zu und nahm Lydia umständlich auf den Arm. Mit der anderen Hand schlang sie sich die Windeltasche über die Schulter. »Tante Janice, wollen wir morgen Kaffee zusammen trinken und weiterreden?«
»Sehr gern.« Tante Janice sah leicht verärgert zu Emily, wurde jedoch wieder freundlicher, als sie sich dem Baby zuwandte. »Träum süß, mein kleiner Engel.«
Emily bemerkte, wie Sydney den Atem anhielt, bis Tante Janice im Aufzug verschwunden war und sich die Türen fest hinter ihr geschlossen hatten. Schließlich drehte sie sich zu Emily zurück und seufzte tief. Dann lachte sie verlegen.
»Das tut mir so leid«, sprudelte sie heraus. »Ich habe meine Tante seit Jahren nicht gesehen. Was bildet sie sich eigentlich ein, mich so auszufragen. Vor allem nach dem, wie sie meine Eltern behandelt hat.«
»Was meinen Sie damit?«
»Mein Nachname ist zwar Banks, aber ich gehöre nicht zu denen. Meine Eltern hatten mit der Familie quasi keinen Kontakt, als ich klein war. Wir waren nicht reich, eine normale Familie aus der Arbeiterklasse … bis sie starben.« Sydney schüttelte den Kopf. »Haben Sie gehört, wie Janice mit mir gesprochen hat? Kein Wunder, dass meine Eltern mit der Familie nichts zu tun haben wollten. Ich bin immer noch überrascht, dass ich überhaupt eine Einladung zur Hochzeit bekommen habe, aber Arthurs Mutter war nach dem Tod meiner Eltern wirklich ein Geschenk des Himmels – sie hat uns finanziell mit der Beerdigung unterstützt, solche Sachen. Wahrscheinlich hat sie sich schuldig gefühlt.«
»Das tut mir leid.«
Sydney schüttelte den Kopf und atmete frustriert aus. »Janice hat eine Tochter namens Jackie – sie ist ein bisschen älter als ich –, und sie arbeitet in einem Supermarkt. So unglaublich weit hat es ihr Nachwuchs also nicht gebracht, und trotzdem muss sie mich kritisieren?«
»Ich verstehe Sie wirklich«, sagte Emily. »So ist das mit der Familie. Sie kann …«
»Es ist mir so peinlich.« Sydney wiegte Lydia unbewusst, und die Bewegungen wurden energischer. »Es tut mir leid, dass sie uns unterbrochen hat. Wo waren wir?«
»Oh, wir hatten gerade von dem Baby gesprochen.« Ein Weg schien sich vor Emily aufgetan zu haben, wie ein roter Teppich, dem sie in ihrem Hunger nach dem Kind folgen musste. Wie es wohl wäre, es zu berühren? Es zu halten? Ihm vorzusingen? Sich vorzustellen, das Baby würde ihr gehören? »Wie schwierig es sein muss, alleinerziehende Mutter zu sein und dieses ganze Elterndasein allein zu bewältigen.«
»Ah, stimmt. Sie sind jedenfalls ein Engel, dass Sie mir Gesellschaft leisten und mir und meiner geschwätzigen Familie zuhören«, sagte Sydney. »Ich habe das Gefühl, als hätte ich das letzte Mal vor Wochen mit einem anderen Erwachsenen gesprochen. Ich hoffe, Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie rübergekommen sind. Ich würde gern sagen, ich bin nicht verzweifelt, aber …« Sie lächelte schief.
Emily holte scharf Luft und fühlte sich auf einmal schuldig. Sie war nicht herübergekommen, um Sydney zu hätscheln; das Baby hatte sie hergelockt. Sie wollte sehen, was es für Gefühle in ihr auslöste, wenn sie das kleine, sich windende Bündel in der Decke erblickte. Schon lange war sie einem Säugling nicht mehr so nahe gewesen, und sie hatte überprüfen müssen, ob sie es ertragen konnte. Ob sie es anschauen konnte, riechen, halten, berühren konnte … ohne dass die Wände um sie herum immer näher kamen.
»Erzählen Sie mir mehr über sich«, sagte Emily in dem Versuch, das Gespräch in Gang zu halten. Sie wollte Sydney ablenken, Zeit schinden und die junge Frau so gut es ging ignorieren, um in Ruhe das rosafarbene Bündel beobachten und ihre eigenen Gefühle analysieren zu können. »Ich vermute, Sie sind auch wegen der Hochzeit hier?«
»Ach, wirklich? Tante Janice ist jedenfalls nicht der Grund.« Sydney lachte trocken. »Eigentlich sollte ich überhaupt nicht hier sein. Ich kann mir den Aufenthalt gar nicht leisten. Ich meine, doch, das kann ich schon, aber es reißt ein Loch in den Geldbeutel«, fuhr sie rasch fort, als wolle sie Emily demonstrieren, dass sie eine verantwortungsbewusste Mutter war. »Aber es ist die Hochzeit meines Cousins. Ich weiß, dass es ihm ziemlich egal ist, ob ich hier bin, aber seiner Mutter ist es wichtig, und sie wollte einen Teil der Reisekosten übernehmen. Ich habe versucht, das abzulehnen, aber …« Sie winkte mit der Hand, als wolle sie sagen: Jetzt sind wir hier.
»Arthur Banks ist Ihr Cousin?« Emily rümpfte die Nase. »Er sollte es sich doch leisten können, Ihr Zimmer zu bezahlen.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht, aber ich hasse es, Leuten etwas schuldig zu sein.«
»Das geht den meisten Menschen so«, sagte Emily. »Aber sehen Sie es nicht als Geste des Mitleids. Sie gehören zur Familie, und man möchte Sie dabeihaben.«
»Wahrscheinlich. Ich meine, Arthur und ich sind keine dicken Freunde oder so, aber ich habe seine Mutter immer verehrt. Als meine Eltern starben, war sie fast wie eine zweite Mutter für mich. Als ich älter wurde, haben wir uns, äh, auseinandergelebt, aber wir stehen immer noch in gelegentlichem Kontakt.«
»Es tut mir wirklich leid wegen Ihrer Eltern.« Emily dachte, dass Sydney jetzt sofort die Klappe halten sollte, damit sie ungestört das Baby anstarren konnte. »Das ist schrecklich.«
»Schon gut.« Sydney winkte ab. »Es ist lange her.«
»Nun, Ihre Mutter würde Lydia sicher lieben. Ihre Tochter ist hinreißend. Darf ich?« Emily streckte die Hand in Richtung des Babys aus und wartete auf Sydneys Zustimmung.
»Himmel, natürlich«, antwortete Sydney. »Bitte. Ich würde sie Ihnen geben, aber dann würde sie wahrscheinlich Ihre Trommelfelle zum Platzen bringen.«
»Ich … ich dürfte sie halten?« Emily stotterte errötend. Ihr Hals war sicher schon voller roter Flecken. In ihrem Inneren wirbelten die Gefühle durcheinander. »Nein, das ist sicher keine gute Idee. Ich habe ein paar Gläser Champagner getrunken.«
»Ach was«, meinte Sydney. »Sie sind ja nicht betrunken oder so. Möchten Sie? Hier, nehmen Sie sie einen Moment.«
»Ich, äh …« Angst ergriff ihre Nervenenden und ließ vor ihren Augen Sterne tanzen. Sie schien nicht genug Sauerstoff aufnehmen zu können, egal wie tief sie einatmete. »Lydia will bestimmt nicht, dass ich sie halte.«
»Oh, bitte entschuldigen Sie«, sagte Sydney. »Sie haben sicher noch etwas vor, und ich halte Sie auf. Gehen Sie doch zu Ihren Leuten zurück! Es war sowieso schon so nett, dass Sie rübergekommen sind und mit mir geredet haben.«
Als Emily die ersten Anzeichen einer Ohnmacht spürte, geschah etwas Wunderbares. Etwas Fantastisches und Großartiges und unvorstellbar Schreckliches. Lydia streckte ihre kleine, pummelige Hand nach Emilys erstarrtem Zeigefinger aus und klammerte sich daran. Das Baby hielt sich an Emily fest, als wäre sie sein Rettungsanker. Und hörte wundersamerweise auf zu weinen.
»Oh, sehen Sie nur«, flüsterte Sydney liebevoll und ließ erleichtert die Schultern sinken. »Sie mag Sie.«
Emilys Herz zersprang. Es explodierte in winzig kleine Splitter. Funken wilder, rasender Liebe durchzuckten sie. Einen Moment lang vergaß sie, dass Lydia nicht ihr Kind war. Sie vergaß, dass sie ein Symbol für die Geister aus ihrer Vergangenheit war. Nur ein Auslöser, der Gefühle von Ungerechtigkeit und Schmerz an die Oberfläche holte, sogar von Rachsucht. Wut auf dieses unschuldige kleine Wesen erfüllte sie, und sie fragte sich, warum es lebte und andere Kinder nicht.
Sie hätten nichts tun können … Immer wieder hörte sie die Stimme des Arztes im Kopf. Sie hätten nichts anders machen können, Emily. Sie hätten sie nicht retten können.
»Ich möchte sie halten.« Emilys Stimme klang hart, fordernd, was ihr erst eine Sekunde zu spät bewusst wurde. »Bitte. Wenn ich darf.«
»Klar«, sagte Sydney. »Sie können so gut mit ihr umgehen – kaum hat sie Sie gesehen, hat sie aufgehört zu weinen.«
Das kleine Mädchen hat wahrscheinlich Angst vor mir, dachte Emily. Sie dürstete danach, das Baby zu halten, den Geruch nach neugeborenem Kind in sich aufzusaugen, nach Badeschaum und Babypuder, der noch an der weichen Haut haftete. Emily fragte sich, ob Babys wie Hunde Angst riechen konnten. Sie selbst dünstete Angst und Neid und Wut aus. Und irgendwo unter der Wut lag eine Wunde, die so tief war, dass sie wahrscheinlich nie heilen würde.
»Legen Sie Ihren Arm auf das Kissen dort«, wies Sydney sie an. »Das stützt ihren Kopf, und Sie müssen sich keine Gedanken machen. Babys sind nicht so zerbrechlich, wie man immer glaubt.«
Doch, das sind sie!, brüllte Emily die junge Frau innerlich an. Ein Hauch von Verachtung schlich sich in ihre vergifteten Gedanken, und Emily sah ungehalten nach oben, weil Sydney sie behandelte, als hätte sie noch nie im Leben ein Baby gehalten, als wäre sie eine ahnungslose Außenstehende. Keine Mutter.
Zum Glück legte Sydney ihr bereits die Kleine in den Arm, und die Wärme von Lydias winzigem Körper war beruhigend. Plötzlich hielt Emily ein Baby auf dem Arm.
Ein Baby? Was Sharleen wohl dazu sagen würde? Emily hätte sie am liebsten noch einmal angerufen und ihr alles erzählt. Heute Abend errang sie lauter Siege. Sie wartete darauf, dass die Emotionen in ihrer Brust zum Leben erwachten.
Und tatsächlich: Nach und nach tropften sie wie durch einen Infusionsschlauch in ihre Adern und lösten einen inneren Kampf aus, der sie zu zerreißen drohte. Sie wärmte sich an der vertrauten Nähe eines Babys: am süßen Geruch und dem tröstlichen Druck des Hinterns an ihrem Bauch. Doch dann wurde ihr wieder die Ungerechtigkeit bewusst, dass dieses Baby leben durfte und Emilys eigenes Kind nicht.
Die Ärzte hatten gesagt, es sei an plötzlichem Kindstod gestorben. Eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Doch Emily wusste es besser. Es war ihre Schuld gewesen. Ihre Buße, weil sie ihn nicht eher verlassen hatte – und was für eine höllische Buße, die sie abzuleisten hatte. Sie hätte lieber ihr eigenes Leben für das des Babys gegeben.
Die düsteren Gedanken quälten Emily gnadenlos. Das ständige Wenn nur … Wenn sie ihn doch nur schon beim ersten Mal verlassen hätte. Wenn sie nur auf die Polizei gehört hätte. Wenn sie nicht bewusstlos gewesen wäre, als es passierte, als ihr Kind ihr entglitt. Wenn Emily nur wach gewesen wäre, es hätte aufhalten können – den Notruf wählen –, irgendetwas hätte tun können. Irgendetwas, um ihr Kind zu retten. Doch sie hatte nichts getan.
Ja, dachte Emily und strich Lydia über die Wange. Ich habe nichts getan.
Es war Emilys Schuld gewesen, dass ihre Tochter gestorben war.
In diesem Moment stürmte eine fünfköpfige Familie in die Lobby und durchbrach den Tornado aus Gift, der Emily mit sich zu ziehen drohte. Die lebhafte Gruppe eilte auf die Rezeption zu, der Inbegriff einer perfekten Familie.
Mutter, Vater und drei Kinder – ein Mädchen im Teenageralter, das noch mit der richtigen Menge Lidschatten kämpfte, ein Junge, der sein Tablet fixierte, und ein entzückendes kleines Mädchen, von dessen Kopf nicht weniger als neun Pferdeschwänze wie Radspeichen abstanden. Sie trug Gummistiefel, auch wenn sie sich mitten in der Wüste befanden, und sah sich aufgeregt in der Lobby um.
»Sehen Sie nur diese reizende Familie«, sagte Sydney leise. »Wissen Sie, ich dachte, ich hätte so etwas auch irgendwann, aber …«
Emily brachte kein Wort heraus.
»Das wird wohl nicht mehr passieren.« Sydney seufzte. »Aber das ist schon okay. Lydia reicht mir.«
»Warum haben Sie und Ihr Mann sich getrennt?«
»Unüberbrückbare Differenzen«, erklärte Sydney und beendete das Thema mit steinernem Gesichtsausdruck. »Wie auch immer, ich sollte Lydia jetzt wirklich ins Bett bringen. Sie waren so nett, dass Sie sie so lange gehalten haben. Ach, Scheiße … äh, Schande. Jetzt habe ich sie aufgeweckt, nachdem sie bei Ihnen eingeschlafen war.«
Emily sah nach unten und bemerkte überrascht, dass das Baby sie anblickte. Doch statt wieder zu weinen, verzogen sich Lydias Lippen zu einem hinreißenden Lächeln. Sie sah Emily aus strahlenden Augen an, und ihrem Gesicht mit den Grübchenwangen war unbändige Freude anzusehen. Dann lachte sie, und Emilys Herz verkrampfte sich angesichts des schieren Lebens, das das Kind ausstrahlte.
»Oh, schaut mal, das kleine Baby!« Die Mutter der fünfköpfigen Familie sah von der Rezeption herüber und flüsterte laut, als wären ihre Worte so nicht zu hören. Dann kam die Frau zu Emilys Überraschung auf sie zu, während der Mann die Anmeldung der Familie übernahm.
Erst da erkannte Emily sie. Sie war so von Lydia besessen gewesen, dass sie sich nur auf das Baby konzentriert hatte. Doch als sie aufblickte und ihrer ehemals besten Freundin in die Augen sah, machte ihr Herz einen unerwarteten, wütenden Satz.
»Emily«, sagte Ginger ausdruckslos. »Ist das dein Kind?«
Emily ignorierte ihre frühere Mitbewohnerin. Sie achtete nur auf das Baby in ihren zitternden Händen, darauf, die Wut unter Kontrolle zu bringen, die Gingers Ankunft ausgelöst hatte. Emily hatte erwartet, dass der Anblick ihrer alten Freundin verschiedenste Gefühle hervorrufen würde – Scham, Reue, Verlust. Nicht aber diese wütende Verachtung, die sich plötzlich in ihr breitmachte. Als ob alles Gingers Schuld wäre. Und war es das in gewisser Weise nicht auch?
»Äh«, sagte Sydney unbehaglich, »kennen Sie beide sich? Ich bin Sydney.«
»Ginger«, stellte Emilys alte Mitbewohnerin sich vor und streckte die Hand aus. »Ja, wir sind mit der Braut zusammen aufs College gegangen.«
»Oh, wie schön«, antwortete Sydney etwas hilflos.
»Ja, das war es.« Ginger betonte die Vergangenheitsform. »Nach dem Abschluss haben wir uns etwas aus den Augen verloren.«
»Das ist schade«, sagte Sydney. »Aber das passiert ja oft. Das Leben wird hektischer, Kinder, Ehemänner … Ich verstehe das.«
Ginger sah aus, als wolle sie widersprechen, doch sie wurde unterbrochen.
»Ginger!«, rief der Mann am Rezeptionstresen – das musste Frank sein – ausgelassen durch die Lobby, so sorglos, wie er schon im College gewesen war. Emilys Hals rötete sich vor Scham, als sie aufblickte. »Ginger, Schatz, hast du meinen Geldbeutel? Ich finde den Schlingel irgendwie nicht. Ich hoffe, er liegt nicht im Flugzeug!«
»Nun«, sagte Ginger mit schwachem Lächeln. »Es war schön, Sie kennenzulernen, Sydney. Emily – wir sehen uns wahrscheinlich noch.«
Detective Ramone: Ms. Brown, wann haben Sie Sydney Banks kennengelernt?
Emily Brown: Am ersten Abend im Resort. Wir haben uns eine Weile unterhalten, und ich habe Lydia auf dem Arm gehabt. Ihr Baby.
Detective Ramone: Davor kannten Sie einander nicht?
Emily Brown: Davor habe ich sie noch nie gesehen. Zumindest nicht dass ich wüsste.
Detective Ramone: Wie würden Sie Ihre Beziehung zu ihr jetzt beschreiben?
Emily Brown: Das geht Sie nichts an.
Detective Ramone: Nun, würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass im Resort keine Sydney Banks wohnt? Mit wem haben Sie also gesprochen, Ms. Brown?