Kapitel dreiunddreißig

Ein Jahr später

»Bereit, sie kennenzulernen?« Kate ließ Emma auf ihrem Schoß auf und ab hüpfen, während sie mit dem kichernden kleinen Mädchen redete. »Weil ich weiß, dass sie dich unbedingt treffen wollen, meine Süße! Willst du ihnen zeigen, wie groß du schon bist?«

Emma lachte, doch Kate hatte keine Zeit, eine Antwort zu gurren, als es schon an der Tür klopfte und sie aufsprang. »Da sind sie!«

Leichtfüßig eilte Kate durch die Wohnung, in der sie zusammen ein Mädelswochenende in New York City verbringen würden. Nach dem Vorfall vor einem Jahr waren die Frauen alle wieder ihrer Wege gegangen. Kate hatte den Kontakt zu allen gehalten, indem sie einmal im Monat Textnachrichten verschickte und energisch darüber Auskunft verlangte, wie es allen ging.

Sie hatte ihnen erst von ihren Adoptionsplänen erzählt, als der Papierkram erledigt war. Innerhalb weniger Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Spa hatte Kate bei den besten Adoptionsagenturen alle notwendigen Unterlagen eingereicht. Sie hatte keine Kosten gescheut und nach reiflicher Überlegung beschlossen, dass sie keinen Astronauten als Vater oder eine Ärztin als Mutter brauchte. Sie wollte nur ein Kind.

Eigentlich hatte sie mit widerstreitenden Gefühlen während des Adoptionsprozesses gerechnet, doch diese stellten sich nicht ein. Dass sie keine Zweifel hatte, war wie ein Schock. Stattdessen hatte sie sich gefragt, ob sie vielleicht gar nicht beschädigt war. Vielleicht hatte sie ihren Sohn oder ihre Tochter einfach nur noch nicht kennengelernt. Noch nie war Kate sich einer Sache sicherer gewesen.

Der Anruf war fast acht Monate später gekommen. Kate wusste, dass das außergewöhnlich schnell war – sogar wundersam schnell –, aber zum ersten Mal in ihrem Leben glaubte sie an Wunder. Als sie Emma sah, wusste sie es. Sie würden eine Familie sein.

Auch wenn es Kate gelegentlich schmerzte, dass Emma ohne Vater aufwachsen würde, konnte nichts ihre Freude mindern, endlich ein Kind zu haben. Nicht die schlaflosen Nächte, die hektische Arbeit, die Erschöpfung, die fehlenden Verabredungen oder die Tatsache, dass sie es fünf volle Tage lang nicht ins Fitnessstudio geschafft hatte. Kate war bis über beide Ohren verliebt, und sie wollte es genau so.

Außerdem, dachte sie, als sie die Tür öffnete, war sie ja nicht allein. Sie hatte viele starke Frauen in ihrem Leben, die wunderbare Vorbilder für Emma werden würden. Wie die beiden, die jetzt vor ihrer Tür standen.

»Hallo!« Kate umarmte die beiden Frauen ungelenk mit einem Arm. »Ich bin so froh, dass ihr es einrichten konntet. Ich hoffe, ihr seid bereit für ein paar Massagen – nur ein Witz. Aber im Ernst, ich habe einige lustige Sachen für uns geplant, solange wir sie um die Nickerchen herum machen.«

»Darf ich sie mal halten?« Elsie war kaum durch die Tür. »Emma ist hinreißend, Kate.«

»Ich weiß. Sie kommt nach ihrer Namensvetterin.« Kate zwinkerte. »Emma Elsie Cross.«

Elsie blinzelte. »Was?«

»Benannt nach einer sehr mutigen Frau«, sagte Kate mit breitem Lächeln. »Kommt schon rein.«

Sie wusste aus den Nachrichten, die sie mit Elsie austauschte, dass das Mädchen und Ginger sich im letzten Jahr wieder nähergekommen waren – nicht zuletzt wegen der schrecklichen Dinge, die Elsie im Resort hatte mit ansehen müssen. Doch das Leben hatte sie alle eingeholt, und Kate freute sich zu hören, dass Elsie ins Cheerleader-Team aufgenommen worden war. (Und dass Ginger sehr stolz auf die Leistungen ihrer Tochter war.) Die Kondome waren schon vor langer Zeit im Müll gelandet, doch Mutter und Tochter sprachen mittlerweile über das Thema. Und Elsie hatte Freundinnen in ihrem Alter gefunden, mit ähnlichen Interessen, die auch zerfledderte kleine Bücher lasen, gefühlvolle Songs schrieben und gern ins Kino gingen. Kate wusste, dass Ginger darüber sehr froh war.

»Wo ist Lulu?«, fragte Elsie und lächelte Emma an, als sie die Arme nach ihr ausstreckte. »Und Emily?«

Wie immer war Kate einen Moment besorgt, wenn sie ihre Tochter jemand anderem gab, doch sie hätte sich keine Gedanken machen müssen. Elsie war ein Profi. »Lulu landet bald. Sie wollte nicht, dass wir es hier zu eng haben, und wohnt im selben Hotel wie Emily. Wir treffen die beiden zum Abendessen.«

»Und Pierce?«, fragte Ginger mit einer unausgesprochenen Neugier.

»Er schafft es nicht«, antwortete Kate leichthin. »Er wird im Moment vor Gericht gebraucht. Irgendwann in den nächsten Monaten soll das Urteil fallen.«

Ginger beobachtete ihre Tochter, die trotz der Konzentration auf das Baby aufmerksam zuhörte. »Ist Emily schon da?«

»Sie kommt aus Frankreich zurück«, erzählte Kate und wackelte mit den Augenbrauen. »Mit einem Mann. Einem guten, wie es klingt.«

»Ich kann nicht glauben, dass es schon ein Jahr her ist, seit wir uns gesehen haben«, sagte Ginger. »Es ist fast, als wäre gar keine Zeit vergangen.«

Kate stimmte zu. »Ein Jahr ist viel zu lang.«

»Hast du etwas von …« Ginger zögerte und wartete, bis Elsie mit Emma weiter ins Wohnzimmer gegangen war. Sie biss sich auf die Lippe und sprach weiter. »Hast du etwas von Sydney gehört?«

»Ginger, sie ist vor einem Jahr verschwunden.« Kate drückte Gingers Schulter. »Sie ist weg. Lass es gut sein. Es ist nicht unsere Schuld. Wir haben unser Bestes gegeben in Anbetracht dessen, was wir wussten. Wie hätten wir ahnen können, dass Lydia nicht Sydneys Kind war?«

»Glaubst du immer noch …« Ginger zögerte. »Dass Lydia es bei Sydney besser hat?«

»Meine Meinung hat sich nicht geändert«, sagte Kate. »Ich glaube, Lydia wäre am besten bei ihrer Mutter aufgehoben gewesen.«

»Ich kann es immer noch nicht fassen.« Gingers Augen wurden groß. »Als wir Sydney kennengelernt haben, hat sie das Leben einer anderen Frau gelebt. Alles, was sie uns erzählt hat … Das alles muss Carolyn passiert sein. Aber ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass wir etwas falsch gemacht haben. Ich habe Albträume, dass Sydney vielleicht von Anfang an alles geplant hat und wir ihr geholfen haben, einen unschuldigen Mann zu töten.«

»Henry war nicht unschuldig«, erwiderte Kate. »Aber wie gesagt, wir werden mit einigen offenen Fragen leben müssen. Ich habe die Fotos gesehen. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir die Wahrheit vielleicht nie erfahren werden.«

Ginger zuckte mit den Schultern. »Ich schätze mal, jemand hat Carolyn getötet, und das war wahrscheinlich nicht Sydney. Oder?«

Kate konnte Ginger kaum in die Augen sehen.

»Ich denke, wir sollten uns um uns kümmern«, sagte sie schließlich. »Ein Jahr ist vergangen, und die Polizei hat immer noch keine Ahnung, wo das arme Baby ist. Wie sollen wir etwas herausbekommen, wenn die Polizei es nicht schafft?«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

»Also, sollen wir eure Sachen reinbringen?«, fragte Kate entschlossen. »Oder möchtet ihr im Flur schlafen?«