»Mary Blakiston hat Saxby-on-Avon für alle ein bisschen schöner gemacht. Ob es darum ging, am Sonntag die Kirche mit Blumen zu schmücken, sich um die Alten und Kranken zu kümmern, Spenden für den Vogelschutzbund zu sammeln oder Besucher in Pye Hall zu begrüßen – sie war immer im Einsatz. Ihr selbstgebackener Kuchen war stets ein Höhepunkt bei unserem Dorffest, und ich kann Ihnen auch verraten, dass sie mich oft genug in der Sakristei mit ihren Mandelplätzchen oder einem Stück Victoria Sponge Cake überrascht hat.«
Die Beerdigung ging so vonstatten, wie Beerdigungen das nun einmal tun: sanft, langsam und mit einem stillen Grundton des Unvermeidlichen. Jeffrey Weaver hatte schon viele davon erlebt. Er stand nur am Rande, aber er interessierte sich für diejenigen, die da kamen und gingen, und natürlich auch für diejenigen, die am Ende dablieben. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass er irgendwann – und zwar möglicherweise schon bald – selbst derjenige sein könnte, der da begraben wurde. Er war ja erst dreiundsiebzig, und sein Vater war hundert geworden. Er hatte noch massenhaft Zeit.
Jeffrey war überzeugt, dass er eine große Menschenkenntnis besaß. Die Leute, die sich um die Grube versammelt hatten, die er persönlich gegraben hatte, betrachtete er mit dem Blick eines Künstlers. Er hatte zu jedem davon eine Meinung. Gab es einen besseren Ort als eine Beerdigung, um die menschliche Natur zu studieren?
Als Erstes war da der Pfarrer mit seinem Gesicht wie ein Grabstein und langen, etwas ungekämmten Haaren. Jeffrey erinnerte sich noch, wie er damals nach Saxby-on-Avon gekommen war und den alten Reverend Montagu ersetzt hatte, der im Alter immer schrulliger geworden war, sich bei den Predigten wiederholte und manchmal mitten im Gottesdienst einschlief. Die Osbornes waren der Gemeinde hochwillkommen gewesen, obwohl sie ein merkwürdiges Paar waren. Die Frau des Pfarrers war so viel kleiner als er, ein bisschen mollig und äußerst kämpferisch. Sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, wofür Jeffrey sie sehr bewunderte, obwohl es vielleicht für die Frau eines Pfarrers nicht so ganz passend war. Sie stand etwas hinter ihrem Mann, und er konnte sehen, dass sie jedes Mal nickte, wenn er etwas sagte, was ihr gefiel, und den Mund verzog, wenn ihr etwas nicht passte. Sie standen sich offensichtlich sehr nahe. So viel war sicher. Aber sie waren in vielfacher Hinsicht merkwürdig. Was, zum Beispiel, interessierte sie so an Pye Hall? Oh ja, er hatte sie schon mehrfach dabei beobachtet, wie sie in dem kleinen Gehölz am Ende ihres Grundstücks verschwunden waren, das ihren Garten vom Park von Sir Magnus trennte. Eine Menge Leute benutzten Dingle Dell als Abkürzung zum Herrenhaus. Es ersparte einem den Umweg über die Straße nach Bath und den Haupteingang. Aber normalerweise machten die Leute das nicht mitten in der Nacht. Was führten die Osbornes im Schilde?
Für Mr und Mrs Whitehead interessierte Jeffrey sich gar nicht und redete eigentlich auch nie mit ihnen. Das waren Leute aus London und hatten nichts zu suchen in Saxby-on-Avon, fand er. Sie brauchten keinen Antiquitätenladen im Dorf. Das war Platzverschwendung. Natürlich konnte man einen alten Spiegel, eine alte Uhr oder sonst irgendwas nehmen, ein fettes Preisschild draufkleben und es eine Antiquität nennen, aber es war trotzdem bloß altes Gerümpel, und wer etwas anderes dachte, war ein Idiot. Genaugenommen traute er weder ihm noch ihr. Er fand, dass sie Schwindler waren, genau wie das Zeug, das sie in ihrem Laden hatten, ein Schwindel war. Und warum waren sie überhaupt auf der Beerdigung? Sie hatten doch Mary Blakiston gar nicht gekannt – und die Verstorbene hätte bestimmt nichts Gutes über die Whiteheads gesagt.
Dr. Redwing und ihr Ehemann hatten dagegen jedes Recht, hier zu sein. Sie war diejenige gewesen, die die Tote gefunden hatte – zusammen mit Brent, dem Gärtner. Der war auch da, drehte die Mütze in den Händen und spähte unter den lockigen Haaren hervor, die ihm in die Stirn fielen. Emilia Redwing hatte immer im Dorf gewohnt. Ihr Vater, Dr. Rennard, hatte vor ihr in der Praxis gearbeitet. Er war heute nicht da, aber das war nicht weiter überraschend, er lebte in Trowbridge in einem Altersheim, und es hieß, dass er selber dieser Welt schon nicht mehr ganz angehörte. Jeffrey hatte nie irgendeine schwere Krankheit gehabt, aber sie hatten ihn beide behandelt. Der alte Dr. Rennard hatte sogar dabei geholfen, seinen Sohn auf die Welt zu bringen, er war Arzt und Hebamme zugleich bei seiner Geburt, was damals durchaus noch üblich gewesen war. Und was war mit Arthur Redwing? Er hörte dem Pfarrer mit einem Gesichtsausdruck zwischen Langeweile und Ungeduld zu. Er war ein gutaussehender Mann. Daran war gar nicht zu zweifeln. Ein Künstler, auch wenn er offensichtlich kein Geld damit verdiente. Hatte er nicht vor kurzem ein Porträt von Lady Pye gemalt, das jetzt wahrscheinlich im Herrenhaus hing? Auf jeden Fall waren das zwei Leute, auf die man sich verlassen konnte. Nicht so wie die Whiteheads. Man konnte sich das Dorf kaum ohne sie vorstellen.
Dasselbe galt für Clarissa Pye. Sie hatte sich mächtig herausgeputzt für das Begräbnis und sah fast ein bisschen lächerlich aus in diesem Hut mit den drei Federn. Dachte sie, das wäre eine Cocktailparty? Trotzdem tat sie Jeffrey leid. Es musste schwer für sie sein, hier zu leben, wo ihr Bruder den großen Herrn spielte. Für ihn war es sicher schön, in seinem Jaguar durch die Gegend zu kurven, während sie in der Dorfschule stand. Dabei war sie gar keine schlechte Lehrerin, soviel er gehört hatte, auch wenn die Kinder sie nicht wirklich mochten. Das lag sicher daran, dass sie ihre Unzufriedenheit spürten. Clarissa war ganz allein. Sie hatte nie geheiratet. Ihr halbes Leben verbrachte sie in der Kirche. Er sah sie ständig hinein- und hinausgehen. Der Fairness halber musste man erwähnen, dass sie oft stehen blieb, um sich mit ihm zu unterhalten. Aber wenn sie nicht gerade in einer Kirchenbank kniete, hatte sie ja auch niemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte. Sie sah ihrem Bruder, Sir Magnus, ein bisschen ähnlich, aber das machte sie auch nicht schöner. Zumindest hatte sie so viel Anstand gehabt, zu erscheinen.
Jemand nieste. Das war Brent. Jeffrey sah zu, wie er sich mit dem Jackenärmel die Nase wischte und dann nervös um sich blickte. Er hatte keine Ahnung, wie er sich unter Menschen benehmen sollte, aber das war nicht weiter erstaunlich. Brent verbrachte den größten Teil seines Lebens allein, aber im Gegensatz zu Clarissa war ihm das ganz recht. Er war von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Park von Pye Hall bei der Arbeit. Nach Feierabend saß er beim Essen im Ferryman, wo er seinen Stammplatz hatte, und schaute hinaus auf die Straße. Geselligkeit kannte er nicht. Er führte keine Gespräche. Manchmal fragte sich Jeffrey, wie es im Kopf des Gärtners aussehen mochte.
Er streifte den Rest der Trauergäste mit einem flüchtigen Blick und wandte sich dem Jungen zu, der mit dem Sarg zusammen gekommen war. Robert Blakiston tat ihm leid. Schließlich war es seine Mutter, die da beerdigt wurde, auch wenn die beiden zerstritten waren wie Kesselflicker. Das ganze Dorf wusste darüber Bescheid, und was Robert am Tag vor dem Unfall vor den Queen’s Arms gesagt hatte, das hatte Jeffrey mit seinen eigenen Ohren gehört: »Warum fällst du nicht einfach tot um, und ich hab’ meinen Frieden?« Na ja, das konnte man ihm nicht übelnehmen. Die Leute sagen oft Sachen, die ihnen später leidtun, und es konnte ja niemand wissen, was am nächsten Tag passieren würde. Der Junge sah jedenfalls ziemlich unglücklich aus, wie er da stand neben dem hübschen, sauberen Mädchen, das in der Praxis bei der Frau Doktor arbeitete. Jeder im Dorf wusste, dass er ihr den Hof machte, und die beiden passten auch wirklich sehr gut zusammen. Sie machte sich ganz offensichtlich Sorgen um ihn. Das sah man an ihrem Gesicht und daran, wie sie an seinem Arm hing.
»Sie war ein Teil unseres Dorfes. Gerade heute, wo wir von ihr Abschied nehmen voll Trauer, sollten wir uns daran erinnern, was sie uns hinterlassen hat …« Der Pfarrer kam allmählich zum Ende der Ansprache. Er war schon auf der letzten Seite. Jeffrey hob den Kopf und sah Adam auf der anderen Seite des Friedhofs hereintreten. Adam war ein guter Junge. Man konnte sich darauf verlassen, dass er immer zur richtigen Zeit kam.
Aber jetzt geschah etwas Merkwürdiges. Einer der Trauergäste ging weg, obwohl der Pfarrer noch sprach. Jeffrey hatte ihn gar nicht gesehen, weil er sich abseits der anderen gehalten hatte und ziemlich im Hintergrund stand. Es war ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug und einem weichen schwarzen Hut, einem Fedora. Jeffrey hatte sein Gesicht kaum gesehen, aber es war ihm vage bekannt vorgekommen: eingefallene Wangen und eine gebogene Nase. Wo hatte er ihn schon gesehen? Nun, jetzt war es zu spät. Der Mann war bereits am Ausgang und ging jetzt über den Dorfplatz.
Irgendetwas veranlasste Jeffrey, den Blick zu heben. Der Fremde war unter der großen Ulme vorbeigegangen, die am Rande des Friedhofs wuchs, und in den Ästen hatte sich etwas bewegt: eine Elster. Und nicht nur eine. Als er zum zweiten Mal hinsah, stellte er fest, dass der Baum voller Elstern war. Wie viele waren es? Es war gar nicht so leicht, sie zu zählen, unter dem dichten Laub, aber am Ende dachte er, dass es sieben waren. Und dabei musste er an den alten Kinderreim denken:
One for sorrow,
Two for joy,
Three for a girl,
Four for a boy,
Five for silver,
Six for gold,
Seven for a secret,
Never to be told.[1]
Also wirklich! War das nicht merkwürdig? Ein ganzer Baum voller Elstern? Als ob sie sich zu diesem Begräbnis versammelt hätten. Aber dann war Adam da, der Pfarrer beendete seine Predigt, die Bestattung nahm ihren Verlauf und die Trauergäste zerstreuten sich. Als Jeffrey das nächste Mal in die Ulme hinaufsah, waren die Elstern verschwunden.