Zu Frasers Enttäuschung hatten die Queen’s Arms tatsächlich zwei Zimmer frei. Und Pünd nahm sie sofort, ohne auch nur nach oben zu gehen und sie sich anzusehen.

Sie waren fast noch schlimmer, als Fraser gedacht hatte. Die Dielen knarrten und hingen durch und die Fenster waren winzig. Er hatte einen Blick auf den Dorfplatz. Pünd hatte den Blick auf den Friedhof, beschwerte sich aber nicht. Ganz im Gegenteil, die Aussicht schien ihn zu amüsieren. Er beschwerte sich auch nicht über den Mangel an Komfort. Als er seine Arbeit im Tanner Court aufnahm, hatte Fraser zu seiner Überraschung festgestellt, dass Pünd in einem schmalen Eisenbett unter einer dünnen, sorgfältig zurückgeschlagenen Wolldecke schlief. Pünd war früher einmal verheiratet gewesen, aber er sprach nie über seine Frau und zeigte keinerlei Interesse am anderen Geschlecht mehr. Trotzdem schien diese spartanische Lebensweise in einer eleganten Londoner Wohnung ziemlich exzentrisch.

Sie aßen gemeinsam zu Mittag. Als sie danach auf den Dorfplatz hinaustraten, sahen sie an der Bushaltestelle eine kleine Menschenmenge versammelt, aber man hatte nicht den Eindruck, dass sie auf den Bus warteten. Sie beschäftigten sich mit etwas anderem und redeten angeregt durcheinander. Fraser war überzeugt, dass Pünd gern hinübergegangen und zugehört hätte, aber in diesem Moment erschien jemand auf dem Friedhof und kam auf sie zu. Es war der Pfarrer. Das konnte man an seinem Hemd und dem Kragen erkennen. Er war hochgewachsen und schlaksig, und sein schwarzes Haar war zerzaust. Fraser sah zu, wie er sein Fahrrad nahm, das an der Friedhofsmauer lehnte, und es in Richtung der Straße schob. Die Räder quietschten bei jeder Umdrehung.

»Der Pfarrer!«, rief Pünd. »Das ist der Mann, der in einem englischen Dorf alle kennt.«

»Es gehen ja nicht alle in die Kirche«, wandte Fraser ein.

»Das müssen sie gar nicht. Er kennt sie trotzdem, auch die Agnostiker und Atheisten.«

Sie überquerten den Platz und schnitten dem Pfarrer den Weg ab. Pünd stellte sich vor.

»O ja«, rief der Pfarrer. Er blinzelte in der Sonne und runzelte die Stirn. »Der Name ist mir bekannt. Sie sind Detektiv, nicht wahr? Sie sind wegen Sir Magnus da. Was für eine schreckliche Geschichte. Eine kleine Gemeinde wie Saxby-on-Avon ist auf so etwas gar nicht vorbereitet. Es wird sehr schwer für uns werden, darüber hinwegzukommen. Aber entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Robin Osborne. Ich bin der Pfarrer von St. Botolph. Na ja, wahrscheinlich sind Sie schon selber darauf gekommen, bei Ihrem Beruf.«

Osborne lachte, und Pünd und selbst Fraser hatten den Eindruck, dass er außergewöhnlich nervös war. Er schien mit dem Reden gar nicht mehr aufhören zu können. Die Worte strömten nur so aus ihm heraus, fast als wolle er damit verdecken, was er eigentlich dachte.

»Ich nehme an, Sie haben Sir Magnus recht gut gekannt«, sagte Pünd.

»Einigermaßen gut, ja. Leider habe ich ihn nicht so oft in der Kirche gesehen, wie ich mir das gewünscht hätte. Er war kein sehr religiöser Mensch. Kam nicht oft zum Gottesdienst.« Osborne richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Sind Sie hier, um die Sache zu untersuchen?«

Pünd bestätigte diese Vermutung.

»Ich bin überrascht, dass unsere Polizei das nicht allein schafft«, sagte der Pfarrer. »Nicht, dass Ihre Hilfe uns nicht willkommen wäre. Ich habe heute Vormittag schon mit Detective Inspector Chubb gesprochen. Er hat angedeutet, dass es Einbrecher gewesen sein könnten. Sie wissen sicher, dass Pye Hall erst kürzlich das Ziel eines Einbruchs war?«

»Pye Hall scheint in letzter Zeit überhaupt ein Unglücksort gewesen zu sein«, sagte Pünd.

»Sie meinen den Unfall von Mary Blakiston?« Osborne wandte sich um und zeigte auf den Friedhof. »Sie liegt da drüben begraben. Ich habe sie selbst ausgesegnet.«

»War Sir Magnus eigentlich sehr beliebt im Dorf?«

Die Frage kam überraschend, und der Pfarrer kämpfte sichtlich um eine Antwort. »Es mag Leute geben, die ihn beneidet haben. Er war sehr vermögend. Aber dann kam diese Sache mit Dingle Dell. Man muss wohl sagen, dass er damit starke Reaktionen ausgelöst hat.«

»Dingle Dell?«

»Das ist ein kleiner Wald, den er verkaufen wollte.«

»An Larkin Gadwall«, mischte sich Fraser ein.

»Ja, so heißen diese Bauunternehmer, glaube ich.«

»Würde es Sie überraschen, dass Sir Magnus deswegen sogar Todesdrohungen erhalten hat, Mr Osborne?«

»Todesdrohungen?« Der Pfarrer war jetzt mehr als nervös. »Das würde mich schon überraschen. Ich bin sicher, dass niemand hier so etwas tun würde. Saxby ist ein sehr friedliches Dorf. Die Leute hier sind nicht so.«

»Aber von starken Reaktionen haben Sie schon gesprochen?«

»Die Leute waren enttäuscht, aber das ist doch etwas anderes.«

»Wann haben Sie Sir Magnus zuletzt gesehen?«

Robin Osborne hatte es plötzlich sehr eilig. Er hielt sein Fahrrad fest, als ob es an der Leine zerrte und ohne ihn wegfahren könnte. Diese letzte Frage beleidigte ihn. In seinen Augen war es klar, dass man ihn irgendwie verdächtigte. »Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht gesehen«, sagte er. »Zur Beerdigung von Mary Blakiston konnte er leider nicht kommen, weil er in Südfrankreich war. Und davor bin ich selbst weg gewesen.«

»Wo denn?«

»Im Urlaub. Mit meiner Frau.« Pünd wartete noch ein bisschen, und Osborne füllte auch prompt die Pause. »Wir waren eine Woche in Devonshire. Tja, ich glaube, meine Frau wartet auf mich. Ich muss mich besser mal auf den Weg machen, wenn Sie erlauben …« Mit einem schiefen Lächeln drängte er sich zwischen ihnen hindurch, und sein Fahrrad quietschte und klapperte freudig.

»Na, der war ja vielleicht nervös«, sagte Fraser, als der Pfarrer die Straße hinunterfuhr.

»Ja. James. Das war ein Mann, der etwas verbergen wollte.«

Während der Detektiv und sein Assistent zu ihrem Wagen gingen, radelte Robin Osborne, so schnell er konnte, zum Pfarrhaus. Er wusste, dass er nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte zwar nicht direkt gelogen, aber doch manches ausgelassen. Es stimmte aber, dass Henrietta auf ihn wartete und schon etwas besorgt war.

»Wo bist du gewesen?«, fragte sie, als er sich an den Tisch setzte. Sie servierte eine selbstgebackene Quiche mit Bohnensalat und nahm ihren Platz ein.

»Ach, ich war nur im Dorf«, sagte er und sprach ein stummes Tischgebet. »Ich habe diesen Detektiv getroffen«, fuhr er fort und ließ sich kaum Zeit für das Amen. »Diesen Atticus Pünd.«

»Wen?«

»Du hast doch bestimmt schon von ihm gehört. Atticus Pünd. Er ist ziemlich berühmt. Ein Privatdetektiv. Erinnerst du dich noch an diese Schule in Marlborough? Da wurde ein Lehrer umgebracht, bei einer Theateraufführung. Da hat er ermittelt.«

»Aber wozu brauchen wir einen Privatdetektiv? Ich dachte, es war ein Einbrecher.«

»Es könnte ja sein, dass die Polizei sich geirrt hat.« Osborne zögerte. »Pünd meint, es könnte etwas mit Dingle Dell zu tun haben.«

»Dingle Dell!«

»Das scheint er zu glauben.«

Schweigend aßen sie weiter. Das Essen schien beiden nicht recht zu schmecken. Dann sagte Henrietta ganz plötzlich: »Wo bist du gestern Abend gewesen, Robin?«

»Was?«

»Du weißt, worüber ich rede. Sir Magnus ist gestern ermordet worden.«

»Wie kommst du dazu, mich so was zu fragen?« Osborne legte Messer und Gabel weg. Dann trank er einen Schluck Wasser. »Ich war wütend«, sagte er. »Das ist eine Todsünde. Es waren Dinge in meinem Herzen, die da nicht hätten sein sollen. Ich war aufgeregt wegen dieser Zeitungsnotiz, aber das ist keine Entschuldigung. Ich musste eine Weile allein sein und mich besinnen. Deshalb bin ich in die Kirche gegangen.«

»Aber du bist so lange weg gewesen.«

»Es war nicht leicht, Henrietta. Ich hab’ eine Weile gebraucht.«

Sie wollte eigentlich nichts mehr sagen, dann überlegte sie es sich anders. »Robin, ich hab’ mir solche Sorgen gemacht, dass ich dich suchen gegangen bin. Dabei bin ich Brent begegnet, und er hat gesagt, er hätte jemanden gesehen, am Eingang von Pye Hall …«

»Was willst du damit sagen, Henny? Glaubst du, ich bin nach Pye Hall gefahren und hab’ ihn ermordet? Hab’ ihm den Kopf mit dem Schwert abgeschlagen?«

»Nein. Natürlich nicht. Es ist nur, weil du so wütend warst.«

»Das ist doch lächerlich. Ich war nicht mal in der Nähe von Pye Hall. Ich hab’ nichts gesehen.«

Es gab noch etwas anderes, was Henrietta eigentlich gern gesagt hätte. Der Blutfleck auf dem Ärmel ihres Mannes. Sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen. Am Morgen hatte sie das Hemd erst mit kaltem und dann mit heißem Wasser und Bleiche gewaschen. Es hing noch draußen in der Sonne zum Trocknen. Sie hätte ihn gern gefragt, wessen Blut das war und wie es da hingekommen war. Aber sie wagte nicht, ihn zu fragen. Sie wollte ihn nicht beschuldigen. Das war undenkbar.

Sie beendeten ihre Mahlzeit in tiefem Schweigen.