Jeder im Dorf dachte, er wüsste, wer Sir Magnus umgebracht hatte. Bedauerlicherweise stimmten keine zwei Theorien ganz überein.
Jeder wusste, dass Sir Magnus und Lady Pye zerstritten waren. Man hatte sie nur noch selten zusammen gesehen. Sogar in der Kirche schienen sie Abstand zu halten. Gareth Kite, der Wirt des Ferryman, war der Ansicht, Sir Magnus hätte eine Affäre mit seiner Haushälterin gehabt, und seine Frau hätte sie beide umgebracht. Wie es Lady Pye geschafft hatte, die erste Tat zu vollbringen, während sie noch in Frankreich war, wusste er allerdings nicht zu erklären.
Nein, nein. Der Mörder war Robert Blakiston. Hatte er seine Mutter nicht bedroht, unmittelbar vor ihrem Tod? Er hatte sie umgebracht, weil er wütend auf seine Mutter war, und dann hatte er Sir Magnus ermordet, weil der die Wahrheit herausgefunden hatte.
Und dann war da noch Brent. Der Gärtner lebte allein. Er war ein sehr merkwürdiger Mann. Ein Eigenbrötler. Es gab Gerüchte, dass ihn Sir Magnus entlassen hatte, am selben Tag, an dem er gestorben war.
Und was war mit dem Fremden, der bei der Beerdigung der Haushälterin war? Es trug doch niemand so einen Hut, wenn er sich nicht darunter verstecken wollte!
Sogar Joy Sanderling, die nette Sprechstundenhilfe von Dr. Redwing, wurde verdächtigt. Die eigenartige Ankündigung, die an der Bushaltstelle aufgehängt worden war, zeigte ja, dass sie etwas zu verbergen hatte. Mary Blakiston hatte sie abgelehnt. Also musste sie sterben. Sir Magnus hatte es herausgekriegt, deshalb musste auch er sterben.
Und dann war da noch die geplante Abholzung von Dingle Dell. Die Polizei hatte die Todesdrohung zwar nicht veröffentlicht, die sie auf dem Schreibtisch von Sir Magnus gefunden hatte, aber jeder wusste doch, dass alle wütend über die Pläne waren. Je länger jemand in Saxby wohnte, desto wütender war er. Und deswegen war der alte Jeff Weaver mit seinen 73 Jahren in dieser Hinsicht der Hauptverdächtige. Aber auch der Pfarrer hatte viel zu verlieren. Das Pfarrhaus und sein Garten grenzten direkt an den künftigen Bauplatz, und es war den Leuten im Dorf nicht entgangen, wie oft der Pfarrer und seine Frau im Wald von Dingle Dell spazieren gingen.
Eine Bewohnerin von Saxby war kurioserweise nie erwähnt worden: Clarissa Pye. Man wusste zwar, dass die verarmte Schwester von Sir Magnus ignoriert und gekränkt worden war, aber niemandem wäre eingefallen, dass sie das zur Mörderin gemacht haben könnte. Vielleicht lag es daran, dass sie alleinstehend war – und obendrein religiös. Vielleicht war es ihr exzentrisches Äußeres. Das Haar war absurd – man sah aus fünfzig Metern, dass es gefärbt war. Sie strengte sich zu sehr an mit ihren verrückten Hüten, ihrem Modeschmuck und ihrer altmodisch eleganten Garderobe aus zweiter Hand, wenn moderne, praktische Kleider ihr doch viel besser gestanden hätten. Auch ihre Leibesbeschaffenheit sprach gegen sie: sie war weder fett noch plump oder männlich, aber doch gefährlich nahe dran. Mit einem Wort: Sie war so etwas wie ein Witz in Saxby-on-Avon, und Witze begehen nun mal keine Morde.
Clarissa saß in ihrer Wohnung in Winsley Terrace und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was geschehen war. Seit einer Stunde brütete sie jetzt schon über dem Kreuzworträtsel im Daily Telegraph – normalerweise hätte sie es in der halben Zeit gelöst. Eine der Fragen verwirrte sie besonders:
16. Will kein Bulle sein. Die Antwort war ein Wort mit acht Buchstaben. Der zweite Buchstabe war ein O, der vierte ein I.
Sie wusste, dass sie die Antwort direkt vor der Nase hatte, aber aus irgendeinem Grund fiel sie ihr nicht ein. Sollte das irgendein Tier sein? Das erschien irgendwie unwahrscheinlich. Sie kaute auf dem Parker Jotter, der ihr spezieller Kreuzworträtselstift war. Dann fiel es ihr plötzlich ein. Es war ja so einfach: kein Bulle. Natürlich! Will kein Bulle sein … Sie setzte die fehlenden Buchstaben ein: POLIZIST. Und musste natürlich prompt an Magnus denken, an die Streifenwagen im Dorf und an die Polizisten, die auch jetzt noch in Pye Hall waren. Was würde aus dem Haus werden? Wahrscheinlich würde Frances dort weiter wohnen. Verkaufen durfte sie das Haus nicht. Das war Teil des Fideikomiss, der die Eigentumsrechte an Pye Hall seit Jahrhunderten geregelt hatte. Das Erbe würde auf ihren Neffen Freddy übergehen. Er war erst fünfzehn Jahre alt, und als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ihr blasiert und arrogant vorgekommen, fast wie sein Vater. Und jetzt war er Millionär! Wenn er und seine Mutter sterben würden, wenn es zum Beispiel einen schrecklichen Autounfall gab, dann sähe das Ganze schon anders aus. Das Vermögen würde sich … seitwärts bewegen müssen. Nicht der Titel, aber das Vermögen durchaus. Ein interessanter Gedanke. Unwahrscheinlich, aber doch interessant. Eigentlich gab es gar keinen Grund, warum es nicht passieren sollte. Erst Mary Blakiston, dann Sir Magnus. Und schließlich …
Clarissa hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, und legte hastig den Stift und die Zeitung beiseite. Sie wollte ja nicht den Eindruck erwecken, dass sie zu viel Zeit hätte. Sie war schon auf den Beinen und ging in die Küche, als sich die Tür öffnete und Diana Weaver hereinkam. Diana war die Frau von Adam Weaver, eine Person von behaglichem mittlerem Alter mit einer praktischen Einstellung und einem freundlichen Lächeln. Sie erledigte Hausarbeiten und half in der Kirche. Aber vor allem putzte sie: täglich zwei Stunden in der Praxis von Dr. Redwing und ansonsten in verschiedenen Privathaushalten. Zu Clarissa kam sie einmal die Woche.
Sie trug wie immer ein Kopftuch, hatte eine dicke Einkaufstasche dabei und knöpfte sich bereits den Mantel auf, der an diesem warmen Tag eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Clarissa sah ihr zu und dachte: Ja, das ist eine richtige Putzfrau. Für sie ist diese Arbeit angemessen und notwendig. Wie war Magnus bloß auf die Idee gekommen, dass auch sie in diese Kategorie passen könnte? Hatte er das wirklich ernst gemeint, oder war er bloß gekommen, um sie zu beleidigen? Sie bedauerte wirklich nicht, dass er jetzt tot war. Ganz im Gegenteil.
»Guten Tag, Mrs Weaver«, sagte sie.
»Tag, Miss Pye!«
Clarissa wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Frau war niedergeschlagen. Sie schien nervös. »Im Gästezimmer liegt etwas Bügelwäsche. Und ich habe eine neue Flasche Ajax für Sie gekauft.« Clarissa kam direkt zur Sache. Sie hatte nicht die Absicht, ein langes Gespräch zu beginnen. Und das war nicht nur eine Frage der Etikette. Sie konnte sich die zwei Stunden pro Woche kaum leisten, und sie war nicht gewillt, für nette Gespräche zu zahlen. Aber obwohl Mrs Weaver den Mantel ausgezogen hatte, schien sie es mit der Arbeit nicht eilig zu haben. Sie stand nur so da.
»Ist was?«, fragte Clarissa.
»Na ja, es geht um diese Sache im Herrenhaus.«
»Mein Bruder.«
»Ja, Miss Pye.« Die Putzfrau schien weit nervöser als nötig. Schließlich hatte sie nicht dort gearbeitet. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben nur ein- oder zweimal mit Magnus geredet, wenn überhaupt. »Es ist schrecklich, dass so was in Saxby passiert. Ich meine, die Leute haben immer mal gute und mal schlechte Zeiten. Ich hab’ jetzt vierzig Jahre hier zugebracht, aber so was hab’ ich noch nicht erlebt. Erst die arme Mrs Blakiston und jetzt das.«
»Darüber habe ich auch gerade nachgedacht«, sagte Clarissa. »Mein Bruder und ich haben uns nicht sehr nahegestanden, aber er war doch ein Blutsverwandter.«
Blut. Sie schauderte. Hatte er gewusst, dass er sterben würde?
»Und jetzt haben wir die Polizei im Dorf«, schimpfte Diana Weaver. »Überall schnüffeln sie rum und stellen Fragen.« War es das, was sie beunruhigte? Die Polizei? »Glauben Sie, die haben eine Ahnung, wer es gewesen ist?«
»Das bezweifle ich. Es ist ja erst gestern Abend passiert.«
»Sie haben doch bestimmt das Haus durchsucht. Mein Adam sagt …« Mrs Weaver unterbrach sich. Sie wusste nicht, ob sie das wirklich aussprechen sollte. »Mein Adam sagt, jemand hat ihm den Kopf von den Schultern geschlagen.«
»Ja. Das habe ich auch gehört.«
»Das ist entsetzlich.«
»Ja, das war ziemlich schockierend. Können Sie denn heute arbeiten? Oder möchten Sie lieber nach Hause gehen?«
»Nein, nein. Ich arbeite lieber.«
Die Putzfrau verschwand in der Küche, und Clarissa warf einen Blick auf die Uhr. Mrs Weaver hatte zwei Minuten zu spät angefangen. Man würde darauf achten müssen, dass sie die nachholte.