Lady Pye lag, halb in ihren Morgenmantel und halb in die zerknüllten Laken gehüllt, auf dem Bett. Sie hatte gerade Champagner getrunken. Das halbvolle Glas stand noch auf ihrem Nachttisch. Die Flasche selbst ragte schräg aus einem eisgefüllten Sektkübel. War das eine kleine Feier oder nur ein Beruhigungsmittel? In Frasers Augen konnte es beides sein, und der Gesichtsausdruck der Frau, als sie eintraten, war genauso schwer zu entziffern. Einerseits war sie ärgerlich über die Störung, andererseits hatte sie wohl so etwas erwartet. Sie hatte keine Lust zu reden, hatte sich aber schon ein paar Antworten auf die Fragen zurechtgelegt, mit denen sie rechnete.
Sie war auch nicht allein. Ein junger Bursche in einem weißen Pullover und weißen Hosen, gekleidet wie fürs Kricketspiel, saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel. Das war wohl ihr Sohn. Er hatte dasselbe schwarze Haar und denselben blasierten Blick und aß einen Apfel. Mutter und Sohn sahen nicht so aus, als wären sie besonders betrübt. Frances Pye hätte auch wegen eines Anflugs von Grippe im Bett liegen können. Und ihr Sohn hätte ihr einen Krankenbesuch abstatten können.
»Frances …« Dartford übernahm es, sie vorzustellen. »Das ist der Detective Inspector von der Polizei in Bath.«
»Wir sind uns schon gestern Abend kurz begegnet«, sagte Chubb. »Kurz bevor der Krankenwagen Sie abholte.«
»Ach ja«, sagte Lady Pye. Ihre Stimme war heiser und desinteressiert.
»Und das ist Mr Pond.«
»Pünd«, sagte Pünd und nickte. »Ich unterstütze die Polizei. James Fraser ist mein Assistent.«
»Sie wollen dir ein paar Fragen stellen«, sagte Dartford. »Ich bleibe da, wenn du willst.«
»Danke, das wird nicht nötig sein«, sagte Chubb. »Wir rufen Sie, wenn wir Sie brauchen.«
»Ich möchte Frances eigentlich nicht gern allein lassen«, sagte Dartford.
»Wir werden nicht lange brauchen.«
»Ist schon gut, Jack.« Lady Pye setzte sich im Bett zurecht und stützte sich dabei auf die Kopfkissen in ihrem Rücken. Dann wandte sie sich den unwillkommenen Besuchern zu. »Ich denke, wir sollten es hinter uns bringen.«
Es gab noch einen Augenblick der Verlegenheit, als Dartford überlegte, was er jetzt tun sollte. Selbst Fraser wusste, was in seinem Kopf vorging: Er überlegte verzweifelt, wie er Lady Pye mitteilen konnte, was er über ihren Aufenthalt in London gesagt hatte. Er wollte, dass ihre Aussagen übereinstimmten. Aber das würde Pünd natürlich nicht zulassen. Man musste die Verdächtigen trennen. Und ihre Aussagen danach vergleichen. So arbeitete Pünd.
Dartford verzog sich. Chubb schloss die Tür hinter ihm, und Fraser stellte drei Stühle bereit. Das große Zimmer war üppig möbliert: Fest eingebaute Kleiderschränke, bodenlange Vorhänge, dicke Teppiche und vor allem eine antike Frisierkommode mit geschwungenen Beinen und zahllosen Puderdosen, Lippenstiften, Flakons, Parfümzerstäubern, Bürsten und Kämmen beherrschten den Raum. Fraser, der ein Freund von Charles Dickens war, dachte sofort an Miss Havisham aus Große Erwartungen. Das Zimmer war überladen und viktorianisch. Fehlten nur noch die Spinnweben.
Pünd setzte sich. »Ich fürchte, ich muss Sie ein paar Dinge über Ihren Mann fragen«, begann er.
»Ich verstehe. Es ist eine scheußliche Sache. Wer macht denn so etwas? Bitte fragen Sie.«
»Vielleicht möchten Sie lieber, dass Ihr Sohn nicht dabei ist?«
»Aber ich will dabei sein!«, protestierte Freddy sofort. Es lag eine gewisse Arroganz in seiner Stimme, die umso unpassender wirkte, als er den Stimmbruch noch nicht ganz hinter sich hatte und etwas quiekte. »Ich habe noch nie einen Detektiv gesehen.« Er starrte Pünd unverschämt an. »Wie kommt es, dass Sie so einen ausländischen Namen haben? Sind Sie bei Scotland Yard?«
»Sei nicht so unhöflich, Freddy!«, ermahnte ihn seine Mutter. »Du kannst bleiben, aber nur, wenn du den Mund hältst und dich nicht einmischst.« Ihre Augen zuckten zu Pünd zurück. »Fangen Sie an!«
Pünd nahm seine Brille ab, polierte sie und setzte sie wieder auf. Fraser ging davon aus, dass es ihm unangenehm war, in Anwesenheit des Jungen zu reden. Pünd konnte mit Kindern nicht umgehen, vor allem mit englischen nicht, die immer noch überzeugt waren, dass er der Feind war. »Na schön. Darf ich Sie zunächst fragen, ob Sie von irgendwelchen Drohungen wissen, denen Ihr Mann in letzter Zeit ausgesetzt war?«
»Drohungen?«
»Hat er irgendwelche Briefe oder Telefonanrufe erhalten, die darauf hinwiesen, dass sein Leben in Gefahr war?«
Frances warf einen Blick auf das große, weiße Telefon, das auf dem Nachttisch stand, neben dem Eiskübel. »Nein«, sagte sie. »Warum sollte er Drohbriefe erhalten?«
»Ich glaube, es gab da dieses Grundstück, das er verkaufen oder bebauen lassen wollte. Eine neue Siedlung …«
»Ach, Sie meinen Dingle Dell!«, sagte Frances verächtlich. »Ich weiß nicht, was damit los war. Ja, kann schon sein, dass sich ein paar Leute im Dorf deswegen erregt haben. Die Leute hier sind sehr engstirnig, und Magnus hat wohl ein paar Proteste erwartet. Aber Todesdrohungen? Das glaube ich kaum.«
»Wir haben einen Brief auf dem Schreibtisch Ihres Gatten gefunden«, unterbrach Chubb. »Er war mit Schreibmaschine geschrieben und trug keine Unterschrift, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass der Verfasser sehr wütend auf Ihren Mann war.«
»Wieso?«
»Der Brief enthielt eine sehr spezifische Drohung, Lady Pye. Außerdem haben wir diesen Armeerevolver im Schreibtisch Ihres Mannes gefunden.«
»Dazu kann ich nichts weiter sagen. Der Revolver war normalerweise im Safe. Und mir gegenüber hat Magnus keine Drohung erwähnt.«
»Lady Pye, darf ich fragen« – Pünd wirkte jetzt sehr verlegen. »Darf ich fragen, was Sie gestern in London gemacht haben? Ich will nicht neugierig sein«, ergänzte er hastig. »Aber es ist absolut notwendig für uns, genau zu wissen, wo die Beteiligten sich aufgehalten haben.«
»Glauben Sie, dass Mama beteiligt war?«, fragte Freddy aufgeregt. »Glauben Sie, dass sie es gewesen ist?«
»Halt den Mund, Freddy!« Frances Pye warf ihrem Sohn einen verächtlichen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zuwandte. »Es ist tatsächlich eine etwas merkwürdige Frage«, sagte sie. »Ich habe dem Detective Inspector gesagt, was genau ich getan habe, aber ich kann Ihre Neugier befriedigen. Ich hatte Lunch bei Carlotta’s mit Mr Dartford. Es war ein ziemlich ausführliches Essen. Wir redeten über geschäftliche Dinge. Ich verstehe nicht viel von Geld, und Jack ist ein sehr guter Berater.«
»Um wie viel Uhr haben Sie London verlassen?«
»Ich bin mit dem Zug um sieben Uhr vierzig gefahren.« Sie machte eine Pause, wahrscheinlich, weil ihr bewusst wurde, dass es da eine lange Zeitspanne gab, die erklärt werden musste. »Nach dem Essen war ich noch einkaufen. Gefunden habe ich nichts, aber ich bin die Bond Street hinuntergegangen und hab’ auch bei Fortnum & Mason hineingeschaut.«
»Ja, es ist angenehm, in London ein bisschen Zeit zu verbringen«, bestätigte Pünd. »Haben Sie vielleicht noch eine Galerie besucht?«
»Nein. Diesmal nicht. Im Courtauld gab es eine Ausstellung, glaube ich, aber ich hatte keine besondere Lust.«
Dartford hatte also gelogen. Sogar James Fraser bemerkte die offensichtliche Diskrepanz in den Aussagen von Dartford und Lady Pye, aber noch ehe irgendjemand darauf hinweisen konnte, klingelte das Telefon. Nicht im Schlafzimmer, sondern im unteren Stockwerk.
Lady Pye warf einen kurzen Blick auf den Apparat neben sich und runzelte die Stirn. »Könntest du bitte runtergehen und dich darum kümmern, Freddy? Sag, dass ich mich ausruhen muss und nicht gestört werden darf.«
»Und wenn es für Daddy ist?«
»Sag, wir könnten keinen Anruf entgegennehmen.«
»In Ordnung.« Freddy war unzufrieden, dass er so weggeschickt wurde, erhob sich aber von seinem Sessel und trottete zur Tür. Die drei Männer hörten zu, wie das Telefon von unten heraufklingelte. Nach einer halben Minute hörte es auf.
»Das Telefon hier ist kaputt«, erklärte Frances Pye und nickte zum Nachttisch. »In solchen alten Häusern ist immer irgendwas nicht in Ordnung. Jetzt sind es gerade die Telefone. Letzten Monat war es die Elektrizität. Trockenfäule und Holzwürmer hatten wir auch schon. Die Leute regen sich auf über Dingle Dell, aber die neuen Häuser sind wenigstens modern und es funktioniert alles. Sie ahnen ja gar nicht, wie das ist, in so einem alten Kasten zu wohnen.«
Fraser war verblüfft, wie geschickt sie das Thema gewechselt hatte. Aber Pünd ließ sich nicht ablenken. »Wann sind Sie denn in der Mordnacht aus London zurückgekommen?«
»Lassen Sie mich überlegen … Der Zug war ungefähr um halb neun in Bath. Er war ziemlich langsam. Ich hatte den Wagen am Bahnhof gelassen, und bis ich dann hergefahren war, muss es so halb zehn gewesen sein.« Sie machte eine Pause. »Als ich in die Einfahrt einbiegen wollte, kam gerade ein anderer Wagen heraus.«
Chubb nickte. »Ja, das haben Sie schon gestern Abend erwähnt, Lady Pye. Den Fahrer haben Sie wohl nicht erkennen können?«
»Vielleicht hab’ ich einen kurzen Blick auf ihn geworfen.« Sie zögerte. »Das ist eigentlich schon fast zu viel gesagt. Ich bin mir nicht mal sicher, dass es ein Mann war. Das Auto war grün. Das hab’ ich ja schon gesagt. Und auf dem Nummernschild waren die Buchstaben FP. Aber welche Marke es war, kann ich beim besten Willen nicht sagen.«
»Und es saß nur eine Person darin?«
»Ja. Nur der Fahrer. Ich habe ihn nur von hinten gesehen. Den Hut und die Schultern.«
»Wie ist er denn gefahren?«, fragte Pünd.
»Er schien es sehr eilig zu haben. Der Wagen schleuderte, als er auf die Straße kam.«
»Ist er nach Bath gefahren?«
»Nein. In die andere Richtung.«
»Dann sind Sie zum Haupteingang gekommen. Das Licht war eingeschaltet.«
»Ja. Ich habe die Tür aufgemacht und bin hineingegangen.« Sie schauderte. »Ich habe meinen Mann da liegen sehen und sofort die Polizei angerufen.«
Es entstand eine Pause. Lady Pye schien erschöpft. Als Pünd weiterfragte, war seine Stimme sehr sanft. »Wissen Sie zufällig die Kombination vom Safe Ihres Mannes?«
»Ja. Die kenne ich. Ich hebe meinen Schmuck darin auf. Jedenfalls die besonders wertvollen Stücke. Er ist doch nicht geöffnet worden?«
»Nein, nein, keineswegs, Lady Pye«, beeilte Pünd sich ihr zu versichern. »Obwohl es denkbar ist, dass er vor kurzem geöffnet wurde, denn das Bild, hinter dem er versteckt ist, stand etwas von der Wand ab.«
»Vielleicht war das Magnus. Er hat immer einiges Bargeld da drin. Und die wichtigsten Papiere.«
»Und wie lautet die Kombination?«, fragte Chubb.
Lady Pye zuckte die Achseln. »Siebzehn nach links, neun nach rechts, siebenundfünfzig nach links, und dann muss man die Scheibe zweimal ganz herumdrehen.«
»Vielen Dank.« Pünd lächelte freundlich. »Ich bin sicher, dass Sie sehr müde sind, Lady Pye, und wir wollen Sie nicht länger stören. Zwei Fragen hätte ich allerdings doch noch. Die erste betrifft eine Notiz, vermutlich in der Handschrift Ihres Mannes geschrieben, die wir auf seinem Schreibtisch gefunden haben.«
Chubb zog den Notizblock heraus, den er als Beweismittel sichergestellt hatte. Er reichte ihn Lady Pye. Mit einem raschen Blick studierte sie die drei mit Bleistift geschriebenen Zeilen:
ASHTON H
Mw
Ein Mädchen
»Ja, das ist die Handschrift von Magnus«, bestätigte sie. »Es ist nichts weiter Geheimnisvolles dabei. Er hatte die Angewohnheit, sich Notizen zu machen, wenn er telefonierte. Er hätte sonst alles vergessen. Ich weiß allerdings nicht, wer oder was Ashton H ist. MW? Ich nehme an, das sind die Initialen von irgendwem.«
»Das M ist großgeschrieben, aber das w ist klein«, sagte Pünd.
»Dann ist es vielleicht ein Wort. Das wäre auch typisch für ihn. Wenn man ihn gebeten hat, eine Zeitung mitzubringen, notierte er sich zum Beispiel Ztg.«
»Könnte es sein, dass dieses Mw ihn irgendwie geärgert hat? Er hat solche wütenden Striche auf das Blatt gemacht, dass beinahe das Papier zerrissen wäre.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Und dieses Mädchen?«, fragte Chubb. »Wer könnte denn das sein?«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Wir brauchten natürlich eine neue Haushälterin. Vielleicht hat jemand irgendein Mädchen empfohlen.«
»Ihre frühere Haushälterin, Mary Blakiston – «, begann Pünd.
»Ja, es ist alles schrecklich – einfach nur schrecklich. Wir waren in Urlaub, als es passiert ist, in Südfrankreich. Mary war schon ewig bei uns. Magnus hat sie sehr gemocht, und sie hat ihn angebetet. Von dem Moment an, als sie ins Pförtnerhaus gezogen ist, fühlte sie sich ihm verpflichtet, als wäre er ein Monarch und sie seine Leibgarde. Ich persönlich fand sie manchmal etwas ermüdend, aber man soll ja über die Toten nichts Böses sagen. Wollten Sie sonst noch etwas wissen?«
»Mir ist aufgefallen, dass in der Eingangshalle ein Bild fehlt, das dort an der Wand hing, wo Ihr Mann gefunden wurde. Es muss gleich neben der Tür gehangen haben.«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Jede Einzelheit ist für mich relevant, Lady Pye.«
»Es war ein Porträt von mir.« Lady Pye schien mit der Antwort zu zögern. »Magnus hat es nicht gemocht. Deshalb hat er’s weggeworfen.«
»Ist das kürzlich gewesen?«
»Ja. Es kann eigentlich nicht länger als eine Woche her sein. Wann es genau war, weiß ich nicht mehr.« Lady Pye sank in die Kissen zurück, um anzudeuten, dass sie jetzt lange genug geredet habe. Pünd nickte, und seinem Beispiel folgend, erhoben sich auch Chubb und Fraser. Sie bedankten sich und verließen den Raum.
»Was halten Sie davon?«, fragte Chubb, als sie draußen auf der Galerie standen.
»Was London anging, hat sie eindeutig gelogen«, sagte Fraser. »Wenn Sie mich fragen, haben sie und dieser Dartford den Nachmittag zusammen verbracht, aber eingekauft haben sie nicht.«
»Es ist nicht zu übersehen, dass Lady Pye und ihr Gemahl das Bett nicht länger geteilt haben«, bestätigte Pünd.
»Woher wissen Sie das?«
»Das konnte man schon an der Ausstattung des Schlafzimmers sehen. Denken Sie an die bestickten Kissen. Im ganzen Zimmer gab es keine Spur eines Mannes.«
»Dann gibt es also noch zwei Leute mit einem guten Motiv für den Mord«, murmelte Chubb. »Der älteste Grund auf der Welt. Bring den Ehemann um und schnapp dir die Beute.«
»Da können Sie Recht haben, Detective Inspector. Vielleicht finden wir im Safe ja eine Abschrift des Testaments von Sir Magnus. Aber die Familie ist schon sehr alt. Es kann sehr gut sein, dass der Besitz direkt auf seinen einzigen Sohn übergeht.«
»Das ist ja auch so ein Ekelpäckchen«, knurrte Chubb.
De facto enthielt der Safe nichts wirklich Interessantes. Es gab verschiedene Schmuckstücke, ungefähr fünfhundert Pfund in verschiedenen Währungen und eine Vielzahl von Dokumenten. Einige davon waren neueren Datums, andere auch schon zwanzig Jahre alt. Chubb nahm sie mit.
Sie trennten sich an der Haustür. Chubb fuhr nach Hamswell, wo seine Frau Harriet auf ihn wartete. Welcher Laune sie war, würde er gleich beim Eintreten merken, hatte er Pünd einmal erzählt: Sie ließ es ihn durch das Klappern der Stricknadeln wissen.
Pünd und Fraser verabschiedeten sich mit Handschlag von ihm und kehrten dann in den fragwürdigen Komfort der Queen’s Arms zurück.