»Ehrlich gestanden, hab’ ich es heute Morgen selbst rausgenommen. Es tut mir aber nicht leid, dass ich es ausgehängt habe. Dazu habe ich mich nach meinem Besuch in London entschlossen, als ich bei Ihnen war. Irgendetwas musste ich ja unternehmen. Aber nach dem, was dann passiert ist – ich meine nach dem Tod von Sir Magnus, als die Polizei hier überall Fragen stellte und so –, da schien es mir nicht mehr richtig. Außerdem hatte es ja gewirkt. Sobald einer es gelesen hatte, wussten bald alle im Dorf Bescheid. So läuft das hier nun mal. Die Leute haben mich ganz schön blöd angeschaut, und der Pfarrer war auch sauer. Aber das ist mir egal. Robert und ich werden heiraten. Was wir tun, geht nur uns etwas an, und ich werde es nicht dulden, dass die Leute Lügen über ihn erzählen, oder über mich.«

Joy Sanderling saß allein in der modernen, ebenerdigen Praxis im oberen Teil von Saxby-on-Avon, die von Reihenhäusern und Bungalows aus den letzten Jahrzehnten umgeben war. Es war ein zweckmäßiges, billig gebautes Gebäude, das keinerlei Charme besaß. Dr. Redwings Vater hatte gesagt, es sähe wie eine öffentliche Toilette aus (er selbst hatte seine Praxis in seinem Privathaus gehabt). Seine Tochter hatte es aber ganz angenehm gefunden, dass sie ihren Arbeitsplatz von ihrem Privatleben trennen konnte. Es wohnten jetzt so viel mehr Menschen im Dorf als zu der Zeit, als ihr Vater noch ordiniert hatte.

Die Patienten betraten die Praxis durch eine Tür mit geriffeltem Glas und gelangten auf diese Weise direkt in den Wartebereich, der mit zwei Kunstledersofas, einigen Stahlrohrstühlen, einem Nierentisch und ein paar Zeitschriften ausgestattet war (schon etwas älteren Ausgaben von Punch und Country Life). Es gab auch Kinderspielzeug, das Lady Pye vor vielen Jahren gespendet hatte. Eigentlich hätte es längst ersetzt werden müssen. Joy saß an ihrem Schreibtisch in der Arzneimittelausgabe im Nebenraum. Das Schiebefenster zwischen beiden Räumen diente als eine Art Schalter, so dass sie die Patienten nicht nur sehen, sondern auch ansprechen konnte. Der Terminkalender lag direkt vor ihr auf der Ablage, das Telefon stand links und die Olympia im rechten Winkel auf dem kleinen Schreibmaschinentisch daneben. Hinter ihr sah man die weißen Regale mit Medikamenten, die Hängeregistratur mit der Patientenkartei und einen kleinen Kühlschrank, der zur kurzfristigen Aufbewahrung von Blut- und Urinproben diente, die ins Labor geschickt werden sollten.

In Joys Zimmer gab es zwei Türen, die eine führte zum Eingangs- und Wartebereich, die andere ins Sprechzimmer. Neben dem Telefon gab es ein kleines grünes Lämpchen, das anzeigte, wenn Dr. Redwing bereit war, den nächsten Patienten zu empfangen.

Jeff Weaver, der Totengräber, war gerade mit seinem Enkel im Sprechzimmer. Der kleine Billy hatte seinen Keuchhusten jetzt hinter sich und war mit einer Energie in die Praxis gestürmt, die mehr als deutlich machte, dass er so schnell wie möglich wieder hinauswollte. Weitere Patienten standen für heute nicht mehr im Terminkalender, und Joy war sehr überrascht gewesen, als sich die Tür öffnete und Atticus Pünd mit seinem blonden Assistenten hereinmarschiert war. Sie hatte zwar gehört, dass sie im Dorf waren, aber ein Besuch an ihrem Arbeitsplatz wäre das Letzte gewesen, womit sie gerechnet hätte.

»Haben Ihre Eltern erfahren, was Sie geschrieben haben?«, fragte Pünd.

»Bisher noch nicht«, sagte Joy. »Aber ich bin sicher, es wird ihnen schon noch jemand erzählen.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn sie es erfahren, ist mir das auch egal. Dann ziehe ich eben zu Robert. Das wollte ich ohnehin.«

Fraser hatte das Gefühl, dass sie sich verändert hatte in den wenigen Tagen, seit sie in London gewesen war. Er hatte sie sehr gemocht und war im Stillen enttäuscht gewesen, als Pünd ihr nicht hatte helfen wollen. Die junge Frau, die jetzt auf der anderen Seite des Schalters saß, war immer noch sehr attraktiv und genau die richtige Ansprechpartnerin, wenn man sich nicht wohlfühlte. Aber sie wirkte doch härter. Es fiel ihm auf, dass sie nicht aus ihrem Zimmer gekommen war, um sie zu begrüßen.

»Ich hatte gar nicht erwartet, Sie noch einmal zu sehen, Mr Pünd«, sagte sie. »Worum geht’s denn?«

»Sie denken vielleicht, dass ich Ihnen gegenüber nicht fair gewesen bin, als Sie mich in London besucht haben, Miss Sanderling«, sagte Pünd. »Vielleicht sollte ich mich entschuldigen. Aber ich bin einfach nur ehrlich gewesen. Ich war nicht überzeugt, dass ich Ihnen hätte helfen können. Als ich vom Tod von Sir Magnus Pye gehört habe, blieb mir allerdings gar nichts anderes übrig, als mich in die Ermittlungen einzuschalten.«

»Glauben Sie denn, das eine hat etwas mit dem anderen zu tun?«

»Das könnte durchaus der Fall sein.«

»Nun, wenn Sie nicht direkt der Ansicht sind, dass ich es getan habe, wüsste ich nicht, wie ich Ihnen dabei behilflich sein könnte.«

»Hatten Sie denn einen Grund, sich zu wünschen, dass er tot ist?«

»Nein. Ich kannte ihn kaum. Ich habe ihn gelegentlich gesehen, aber zu tun hatte ich nichts mit ihm.«

»Und was ist mit Ihrem Verlobten, Robert Blakiston?«

»Robert haben Sie doch hoffentlich nicht im Verdacht!« In Joys Augen flackerte ein gefährliches Feuer. »Sir Magnus war immer sehr freundlich zu ihm. Er hat ihm den Job in der Werkstatt verschafft. Sie hatten nie Streit. Sie haben sich auch kaum je gesehen. Sind Sie gekommen, damit ich gegen Robert aussage? Wollen Sie mich gegen ihn aufhetzen?«

»Aber keineswegs.«

»Was wollen Sie dann?«

»Eigentlich wollte ich mit Dr. Redwing sprechen.«

»Im Moment ist sie mit einem Patienten beschäftigt«, sagte Joy. »Aber ich nehme an, dass sie bald fertig ist.«

»Vielen Dank.« Pünd zeigte sich nicht besonders gekränkt wegen Joys Feindseligkeit, Fraser hatte den Eindruck, dass er sie mit einem gewissen Bedauern ansah. »Ich glaube, ich sollte Sie darauf hinweisen«, sagte er, »dass ich auf jeden Fall auch mit Robert sprechen muss.«

»Wieso?«

»Weil Mary Blakiston seine Mutter war. Es ist durchaus möglich, dass er Sir Magnus eine Mitschuld am Tod seiner Mutter gibt. Und schon das wäre ein mögliches Motiv für einen Mord.«

»Rache? Das glaube ich nicht.«

»Auf jeden Fall hat er mal in Pye Hall gewohnt, es gibt eine Beziehung zwischen ihm und Sir Magnus, und die muss ich überprüfen. Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich glaube, dass Sie vielleicht dabei sein möchten, wenn ich mit ihm rede.«

Joy nickte. »Wo wollen Sie mit ihm reden? Und wann?«

»Vielleicht kann er ja zu mir ins Hotel kommen? Ich wohne in den Queen’s Arms.«

»Ich bringe ihn zu Ihnen, wenn er Feierabend macht.«

»Vielen Dank.«

Die Tür zum Sprechzimmer öffnete sich, und Jeff Weaver kam heraus. Er hatte einen kleinen Jungen an der Hand, der eine Schuluniform mit kurzen Hosen trug. Joy wartete, bis er gegangen war, dann verschwand sie aus ihrem Zimmer. »Ich sage Frau Dr. Redwing Bescheid«, sagte sie.

Das war genau die Gelegenheit, auf die Pünd gewartet hatte. Er gab Fraser ein Zeichen. Der zog ein Blatt aus seiner Tasche, beugte sich vor und spannte es in die Schreibmaschine. Dann tippte er hastig ein paar Buchstaben, zog das Blatt wieder heraus und reichte es Pünd. Der musterte die Buchstaben, nickte zufrieden und gab es Fraser zurück.

»Ist es dieselbe Maschine?«, fragte Fraser.

»Ja. Das ist sie.«

Joy Sanderling kehrte zurück. »Sie können jetzt reingehen«, sagte sie. »Dr. Redwing hat bis elf Uhr Zeit.«

»Vielen Dank, Miss Sanderling«, sagte Pünd und fragte dann beiläufig. »Benutzen Sie dieses Büro eigentlich ganz allein?«

»Dr. Redwing hat gelegentlich hier zu tun, aber sonst niemand«, erwiderte Joy.

»Sind Sie sich da ganz sicher? Außer Ihnen hat niemand Zugang zu dieser Maschine?« Er zeigte auf die Olympia.

»Warum wollen Sie das wissen?«

Pünd sagte nichts, deshalb sprach sie weiter. »Außer Mrs Weaver kommt niemand in diese Räume. Das ist die Mutter von dem kleinen Jungen, den Sie gerade gesehen haben. Sie putzt hier zweimal die Woche. Aber ich bezweifle stark, dass sie die Schreibmaschine benutzen würde, und bestimmt nicht, ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen.«

»Ach ja, noch etwas: Was halten Sie eigentlich von dieser neuen Siedlung, die Sir Magnus bauen lassen wollte? Sie wissen schon, er wollte so ein Wäldchen namens Dingle Dell abholzen lassen …«

»Denken Sie, deswegen ist er umgebracht worden? Ich glaube, Sie haben keine Ahnung von unseren englischen Dörfern, Mr Pünd. Es war eine blöde Idee. Saxby-on-Avon braucht keine neue Siedlung, und wenn, dann gäbe es viel bessere Plätze, um neue Häuser zu bauen. Ich hasse es, wenn Bäume abgehackt werden, und die meisten Leute im Dorf denken genauso. Aber deswegen hätte ihn doch niemand umgebracht. Sie hätten allenfalls Leserbriefe an die Lokalzeitung geschickt oder im Wirtshaus darüber geschimpft.«

»Vielleicht geht es ja jetzt, wo er nicht mehr da ist, gar nicht mehr weiter mit dem Projekt«, sagte Pünd.

»Ja, das kann sein.«

Pünd hatte jetzt sein Beweisstück. Er lächelte und ging auf die Tür zum Sprechzimmer zu. Fraser faltete das Blatt Papier, das er immer noch in seinen Händen hielt, und steckte es ein. Dann folgte er Pünd.