Clarissa Pye kam mit einem Tablett ins Wohnzimmer, auf dem drei Teetassen und ein Teller mit Keksen standen. Die Kekse waren symmetrisch angeordnet, so als ob sie das attraktiver machen würde. Der Raum sah schrecklich eng aus mit so vielen Besuchern. Atticus Pünd und sein Assistent saßen nebeneinander auf dem Kunstledersofa und hatten Mühe, ihre Knie nicht aneinanderstoßen zu lassen. Der rundgesichtige Inspektor aus Bath hatte sich in den Lehnstuhl gegenüber gesetzt. Clarissa spürte fast körperlich, wie sie die Wände beengten. Seit ihr Dr. Redwing erzählt hatte, was ihr Vater auf dem Totenbett gestanden hatte, war das Haus nicht mehr dasselbe. Es war nicht ihr Haus. Es war nicht ihr Leben. Sie kam sich vor wie eine Figur aus einem jener viktorianischen Romane, die sie seit jeher geliebt hatte.
»Ich denke, es war nur vernünftig, dass Dr. Redwing Sie informiert hat«, begann sie. »Ich hätte es allerdings vorgezogen, wenn sie mir vorher Bescheid gesagt hätte, dass sie die Absicht hatte, Sie anzurufen.«
»Ich bin sicher, sie hat es in bester Absicht getan«, sagte Chubb.
»Nun ja, wahrscheinlich ist es nur recht und billig, dass die Polizei über diesen Vorgang Bescheid weiß. Was immer man sonst über ihn denken mag, letzten Endes hat Dr. Rennard in diesem Fall ein Verbrechen begangen.« Clarissa stellte das Tablett ab. »Bei der Ausstellung der Geburtsurkunde hat er gelogen. Er hat uns beide entbunden, aber ich war die Erste. Er sollte im Grunde bestraft werden.«
»Ich fürchte, er befindet sich jenseits der Reichweite unserer Gesetze.«
»Der menschlichen Gesetze vielleicht …«
»Sie hatten noch nicht viel Zeit, sich mit alledem vertraut zu machen«, stellte Pünd milde fest.
»Ja. Ich habe erst gestern davon erfahren.«
»Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein.«
»Ein Schock? Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist, Mr Pünd. Es war mehr wie ein Erdbeben. Ich erinnere mich noch sehr gut an Dr. Rennard. Er war sehr beliebt hier im Dorf. Und er ist in Pye Hall gewesen, als ich und Magnus noch klein waren. Ich hatte nie den Eindruck, dass er ein böser Mann war, und doch ist es wirklich abscheulich, was er getan hat. Seine Lüge hat mir mein ganzes Leben weggenommen. Und Magnus? Ich frage mich, ob er es gewusst hat. Er hat mich immer so behandelt, als gäbe es da diesen Riesenwitz und ich wäre die Einzige, die nichts davon wusste. Er hat mich aus meinem eigenen Haus hinausgeworfen. Ich musste mich in London und in Amerika mühsam durchschlagen. Dabei wäre das alles ganz überflüssig gewesen.« Sie seufzte. »Ich bin sehr betrogen worden.«
»Was werden Sie jetzt unternehmen?«
»Ich werde beanspruchen, was mir gehört. Warum nicht? Das ist mein Recht.«
Inspektor Chubb sah unbehaglich aus. »Das könnte schwieriger sein, als Sie denken, Miss Pye. Soweit ich weiß, war Dr. Redwing allein im Zimmer mit ihrem Vater, als der ihr sagte, was er getan hatte. Es gab keine Zeugen für das Geständnis. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Sie in seinem Nachlass einen Beweis finden. Vielleicht hat er irgendwas niedergeschrieben. Aber im Moment steht Ihr Anspruch auf sehr schwachen Füßen.«
»Vielleicht hat er es ja noch jemand anderem gesagt.«
»Mit größter Wahrscheinlichkeit hat er es Sir Magnus mitgeteilt«, sagte Pünd jetzt. Er wandte sich an den Inspektor. »Erinnern Sie sich noch an den Notizblock, den wir auf seinem Schreibtisch gefunden haben? Ashton H. Mw. A girl. Jetzt ist klar, was damit gemeint war. Der Anruf kam aus Ashton House. Edgar Rennard wusste, dass er bald sterben würde. Aus einem Gefühl der Schuld heraus rief er Sir Magnus an und erklärte ihm, dass seine Zwillingsschwester die Erstgeborene war. Der Notizblock zeigte dann einige heftig durchgestrichene Aufzeichnungen. Sir Magnus war von dem, was er gehört hatte, offenbar sehr verstört.«
»Nun, das könnte einiges erklären«, sagte Clarissa Pye, und in ihrer Stimme lag eine kalte Wut. »Am Tag seines Todes ist er nämlich hier gewesen. Hier in meine Wohnung ist er gekommen, da auf dem Sofa hat er gesessen – und hat mir eine Stelle als Haushälterin in Pye Hall angeboten! Ich sollte ins Pförtnerhaus ziehen und den Job von Mary Blakiston übernehmen. Können Sie sich das vorstellen? Wahrscheinlich hatte er Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Er wollte mich unter Kontrolle bringen. Wenn ich bei ihm eingezogen wäre, hätte man am Ende wahrscheinlich mir den Kopf abgeschlagen.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss Pye«, sagte Chubb. »Es ist offensichtlich ein großes Unrecht getan worden, und wenn Sie noch andere Zeugen finden, würde Ihnen das sicher helfen. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Vielleicht ist es besser für Sie, alles so zu belassen, wie es jetzt ist. Sie haben ja ein sehr hübsches Haus hier. Sie sind ein geschätztes Mitglied Ihrer Gemeinde. Es geht mich natürlich nichts an, aber manchmal vergeudet man so viel Kraft bei einer sinnlosen Jagd, dass man dabei alles andere verliert.«
Clarissa Pye sah verwirrt aus. »Vielen Dank für Ihren Rat, Inspektor Chubb. Aber eigentlich dachte ich, Sie wären gekommen, um mir zu helfen. Dr. Rennard hat ein Verbrechen begangen, und es ist durchaus denkbar, dass er dafür bezahlt wurde, auch wenn seine Tochter das abstreitet. Auf jeden Fall hatte ich erwartet, dass Sie in dieser Sache ermitteln wollen.«
»Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht auf die Idee gekommen«, sagte Chubb. Er sah plötzlich extrem verlegen aus und warf Pünd einen hilfesuchenden Blick zu.
»Bitte vergessen Sie nicht, dass wir zwei ungeklärte Todesfälle in diesem Dorf haben, Miss Pye«, sagte Pünd. »Ich kann gut verstehen, dass Sie es begrüßen würden, wenn sich die Polizei um die Umstände Ihrer Geburt kümmern würde, aber wir sind in einer anderen Angelegenheit hier. Ich möchte Ihnen angesichts Ihrer schwierigen Lage keine weiteren Probleme aufbürden, aber ich fürchte, ich muss Ihnen eine Frage stellen, die möglicherweise mit den beiden Todesfällen zusammenhängt. Es geht dabei um eine Arzneiflasche, die kürzlich aus der Praxis von Dr. Redwing verschwunden ist. Die Flasche enthielt ein Gift namens Physostigmin. Wissen Sie etwas darüber?«
Das Gesicht von Clarissa Pye spiegelte eine Abfolge von Empfindungen, die so deutlich ausgeprägt waren wie eine nebeneinander aufgehängte Porträtserie. Erst war sie erschrocken. Die Frage kam so unerwartet – woher wusste Pünd davon? Dann kam die Angst. Würde ihre Tat Folgen haben? Dann kam die vorgetäuschte Empörung. Wie konnte man sie eines solchen Diebstahls verdächtigen? Und dann ergab sie sich in ihr Schicksal. Es war schon so viel geschehen. Es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. »Ja, ich hab’ sie genommen«, sagte sie. Seit der Frage war keine halbe Sekunde vergangen.
»Und warum?«
»Woher wissen Sie, dass ich es war? Wenn Sie die Frage erlauben …«
»Mrs Blakiston hat gesehen, wie Sie die Praxis verließen.«
Clarissa nickte. »Ja, ich habe gemerkt, dass sie mich beobachtet hat. Mary hatte ein Talent, immer zur falschen Zeit am falschen Ort aufzutauchen. Ich weiß gar nicht, wie sie das immer gemacht hat.« Sie unterbrach sich. »Wer weiß es noch?«
»Sie hat ein Tagebuch geführt, das sich bei den Ermittlungsunterlagen von Inspektor Chubb befindet. Soviel wir wissen, hat sie es sonst niemand gesagt.«
Das machte es einfacher. »Ich habe ganz spontan nach der Flasche gegriffen«, sagte Clarissa. »Ich war zufällig allein in der Arzneimittelausgabe und sah das Physostigmin in der Vitrine stehen. Ich wusste sofort, was es war, denn ich habe eine kurze medizinische Ausbildung gemacht, ehe ich nach Amerika ging.«
»Wozu wollten Sie es denn haben?«
»Ich schäme mich, das zu sagen, Mr Pünd. Ich weiß, dass es falsch war, und ich glaube, dass ich ein bisschen den Verstand verloren habe. Aber im Lichte dessen, was wir gerade besprochen haben, werden Sie vielleicht verstehen, dass in meinem Leben viele Dinge nicht so gelaufen sind, wie ich mir das vorgestellt habe. Es geht nicht nur um Magnus und Pye Hall. Ich habe nie geheiratet. Ich habe nie eine wirkliche Liebe erlebt, nicht einmal als ich noch jung war. Natürlich habe ich das Dorf und die Kirche, aber es hat immer wieder Zeiten gegeben, in denen ich morgens in den Spiegel geschaut und mich gefragt habe: Was soll das alles denn noch? Was mach ich hier eigentlich? Wie lange soll das noch weitergehen? Aber die Bibel drückt sich im Hinblick auf den Selbstmord sehr klar aus. Er ist genauso schlimm wie ein Mord. Das Leben gehört Gott. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, heißt es bei Hiob. Wir haben nicht das Recht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.«
Clarissa brach ab, und eine plötzliche Härte trat in ihre Augen. »Trotzdem hat es Zeiten gegeben, in denen ich in das Tal des Todes geblickt und mich gefragt habe, ob ich nicht dort hineingehen sollte. Was glauben Sie, wie das für mich gewesen ist, wenn ich Magnus, Frances und Freddy gesehen habe? Ich bin in diesem Haus groß geworden! Ich hab’ da gewohnt. All dieser Reichtum und diese Behaglichkeit waren mein Leben. Ganz unabhängig davon, dass sie mir gestohlen worden sind, hätte ich nie nach Saxby-on-Avon zurückkommen dürfen! Es war verrückt von mir, mich dadurch zu demütigen, dass ich mich an den Tisch des Kaisers zu setzen versucht habe. Die Antwort ist also: Ja, ich habe daran gedacht, mich umzubringen. Ich habe das Physostigmin mitgenommen, weil ich wusste, dass der Tod damit schmerzlos und rasch kommen würde.«
»Und wo ist es jetzt?«
»Oben im Badezimmer.«
»Ich muss darum bitten, dass Sie es uns aushändigen.«
»Jetzt brauche ich es bestimmt nicht mehr, Mr Pünd«, sagte sie leichthin. Man glaubte fast, ein Glitzern in ihren Augen zu sehen. »Wollen Sie wegen Diebstahls ermitteln?«
»Das wird nicht nötig sein, Miss Pye«, sagte Chubb. »Wir sorgen nur dafür, dass es Dr. Redwing zurückerhält.«
Ein paar Minuten später gingen sie, und als sich die Haustür hinter den drei Männern schloss, war Clarissa Pye mehr als froh, dass sie wieder allein war. Sie stand vollkommen still, ihre Brust hob und senkte sich, während sie darüber nachdachte, was eben alles gesagt worden war. Die Sache mit dem Gift war unwichtig. Das zählte jetzt nicht mehr. Aber es war doch merkwürdig, dass eine solche Kleinigkeit den Detektiv und den Inspektor zu ihr geführt hatte. Dabei war ihr doch so viel mehr gestohlen worden! Würde sie beweisen können, dass Pye Hall eigentlich ihr gehörte? Was, wenn der Inspektor Recht hatte?
Alles, was sie hatte, waren die Worte eines kranken, sterbenden Mannes, ohne weitere Zeugen im Raum und ohne einen Beweis, dass er überhaupt noch bei Verstand war, als er sie aussprach. Ein Rechtsanspruch, der auf zwölf Minuten beruhte, die seit über fünfzig Jahren vergangen waren.
Wo sollte sie überhaupt anfangen?
Und wollte sie das überhaupt tun?
Es war sehr eigenartig, aber plötzlich fühlte Clarissa sich ungeheuer erleichtert. Es war, als hätte man ihr ein Gewicht von den Schultern genommen. Ein Teil davon war gewiss, dass Pünd das Gift mitgenommen hatte. Das Physostigmin hatte aus allen möglichen Gründen auf ihrer Seele gelastet. Eigentlich hatte sie den Diebstahl von Anfang an sehr bedauert. Aber es war noch etwas anderes. Es war das, was Chubb gesagt hatte: Vielleicht ist es besser für Sie, alles so zu belassen, wie es jetzt ist. Sie haben ja ein sehr hübsches Haus hier. Sie sind ein geschätztes Mitglied Ihrer Gemeinde. Es stimmte ja. Sie wurde geschätzt. Sie war eine beliebte Lehrerin. Ihr Stand beim Dorffest war immer der mit dem meisten Umsatz. Alle mochten ihre Blumenarrangements in der Kirche. Mehr als einmal hatte der Pfarrer gesagt, er wüsste gar nicht, wie er ohne sie auskommen sollte. War es nicht vielleicht so, dass Pye Hall jetzt, wo sie die Wahrheit kannte, gar keine Macht mehr über sie hatte? Das Haus gehörte ihr, es hatte ihr immer gehört. Und letztlich war es nicht Magnus gewesen, der es gestohlen hatte, und auch nicht das Schicksal, sondern ihr eigener Vater. Ihr Vater hatte ihr das Haus weggenommen, ein Mann, den sie immer gemocht hatte und der sich plötzlich als vorsintflutliches Monster erwiesen hatte! Wollte sie wirklich gegen ihn antreten, wollte sie ihn in ihr Leben zurückbringen, nachdem er schon so lange unter der Erde ruhte?
Nein.
Darüber war sie erhaben. Sie konnte Frances und Freddy in Pye Hall besuchen, und jetzt war sie diejenige, die Bescheid wusste. Nicht sie war die Witzfigur, sondern die anderen.
Mit einem inneren Lächeln ging sie in die Küche. Sie hatte noch eine geräucherte Forelle im Kühlschrank und ein Glas mit Pflaumenkompott. Das würde ein leckeres Essen abgeben.