Meine Schwester Katie ist zwei Jahre jünger als ich, sieht aber älter aus. Das ist ein Dauerwitz zwischen uns. »Du hast es leicht«, sagt sie immer, »du liegst in deiner kleinen, schlampigen Wohnung auf der Couch und lässt es dir gutgehen. Ich muss mich um zwei hyperaktive Kinder, verschiedene Haustiere und einen unverbesserlichen Ehemann kümmern, der zwar sehr romantisch und lieb sein kann, aber trotzdem sein Essen pünktlich auf dem Tisch haben will.« Sie haben ein großes Haus und einen riesigen Garten, den Katie jederzeit in einer entspechenden Zeitschrift vorstellen könnte. Das Haus stammt aus den siebziger Jahren mit großen Schiebefenstern, einem gasbeheizten Kaminfeuer und einem riesigen Fernseher im Wohnzimmer. Bücher gibt es fast keine. Ich will das gar nicht verurteilen, aber es entgeht mir natürlich nicht.
Wir leben in verschiedenen Welten. Katie ist viel schlanker und achtet sehr auf ihre Erscheinung. Sie zieht vernünftige Sachen an, die sie aus Katalogen bestellt, und lässt sich alle zwei Wochen in Woodbridge die Haare machen. Die Friseuse, sagt sie, ist ihre Freundin. Ich weiß nicht mal, wie meine Friseuse heißt – Doz, Daz, Dez oder so ähnlich, aber ich hab’ keine Ahnung, wofür diese Abkürzung steht. Fürs Geld muss Katie nicht arbeiten, aber sie war zehn Jahre lang Geschäftsführerin in einem Gartencenter, das gleich in der Nähe ist. Wie sie das mit ihrem Fulltimejob als Ehefrau und Mutter in Einklang gebracht hat, weiß ich nicht. Natürlich hat es eine Reihe von Au-pair-Mädchen und Nannys gegeben, während die Kinder heranwuchsen. Es gab die Magersüchtige, die Wiedergeborene Christin, die Einsame Australierin und die, die verschwunden ist. Wir reden zwei-, dreimal die Woche über FaceTime, und es ist schon fast komisch, wie gut wir befreundet sind, obwohl wir so wenig gemeinsam haben.
Auf jeden Fall konnte ich Suffolk nicht wieder verlassen, ohne bei ihr vorbeizuschauen. Woodbridge liegt nur zwölf Meilen von Orford entfernt, und zum Glück hatte sie den Nachmittag frei. Gordon war in London. Er pendelte jeden Tag: Von Woodbridge nach Ipswich, von Ipswich zur Liverpool Street und dann wieder zurück. Er sagte, es würde ihn nicht stören, aber bei der Vorstellung, wie viel Zeit er in vollen Zügen verbrachte, wurde mir schwindlig. Er hätte sich leicht ein kleines Apartment in der Stadt leisten können, aber er sagte, er wolle nicht von seiner Familie getrennt sein, nicht mal eine oder zwei Nächte. Es war ihnen sehr wichtig, immer zusammen zu sein: in den Sommerferien, beim Skilaufen und bei allen Ausflügen am Wochenende. Wenn ich an meine Schwester dachte, fühlte ich mich manchmal ein bisschen einsam.
Katie war in der Küche, als ich hereinkam. Sie schien immer in der Küche zu sein, obwohl das Haus ziemlich groß war. Wir umarmten uns und sie brachte mir Tee und selbstgebackenen Kuchen. »Und was machst du in Suffolk?«, fragte sie. Ich erzählte ihr, dass Alan Conway gestorben war, und sie verzog das Gesicht. »Ach ja, natürlich. Das war in den Nachrichten. Ist es sehr schlimm?«
»Gut ist es nicht«, sagte ich.
»Ich dachte, du magst ihn nicht.«
Hatte ich ihr das wirklich erzählt? »Um meine Gefühle geht es hier nicht«, sagte ich. »Er war unser wichtigster Autor.«
»Saß er nicht gerade an einem neuen Buch?«
»Ja«, sagte ich, und dann erzählte ich ihr von den fehlenden letzten Kapiteln und davon, dass auf dem Computer und in seinem Arbeitszimmer keinerlei Unterlagen, Notizen und Spuren der Morde von Pye Hall zu finden waren. »Es ist alles verschwunden«, sagte ich, und im selben Augenblick wurde mir klar, dass es wie ein Satz aus einem Thriller klang. War es eine Verschwörung? Ich musste daran denken, dass sich Claire Jenkins so sicher gewesen war, dass ihr Bruder nie Selbstmord begangen hätte.
»Das ist ja blöd«, sagte Katie. »Was machst du denn, wenn du das Ende nicht findest?«
Darüber wollte ich mit Charles sprechen. Wir brauchten die Morde von Pye Hall. Und die Morde von Pye Hall brauchten ein Ende. Unter allen literarischen Gattungen ist der Krimi nun mal die einzige, die unbedingt vollständig sein muss. Das Geheimnis des Edwin Drood war vielleicht das einzige Gegenbeispiel, denn es hatte auch als Fragment überlebt, aber Alan Conway war nicht Charles Dickens. Was sollten wir also tun? Wir konnten einen anderen Autor bitten, das Ende zu schreiben. Sophie Hannah hatte ja sehr schöne Poirot-Romane geschrieben, aber dazu musste sie erst mal den Mordfall aufklären, und das war zumindest mir nicht gelungen. Wir konnten den Roman als ärgerliches Weihnachtsgeschenk anbieten, das man Leuten schickte, die man nicht leiden konnte. Wir konnten ein Preisausschreiben veranstalten: Sagen Sie uns, wer Sir Magnus Pye geköpft hat, und gewinnen Sie ein Wochenende im Orient-Express! Oder wir konnten hoffen, dass die verdammten Kapitel noch irgendwo auftauchten.
Ich wechselte eilig das Thema und brachte in Erfahrung, dass es Katies Mann gut ging und dass ihm die Arbeit Spaß machte. Über Weihnachten würden sie alle zusammen Skifahren gehen. Sie hatten ein Chalet in Courchevel gemietet. Daisy und Jack würden bald die Schule in Woodbridge beenden. Sie hatten fast ihr ganzes Leben dort zugebracht. Erst im Queen’s House, dann in der Abbey und jetzt in der Senior School. Woodbridge School ist eine wahre Idylle. Ich war ein paar Mal dort gewesen. Man hätte nie erwartet, dass in einer kleinen Stadt wie Woodbridge so viele schöne Gebäude und so ein großer Campus verborgen waren. Die Schule passte sehr gut zur Persönlichkeit meiner Schwester: Nie änderte sich irgendwas, es war alles perfekt, die Außenwelt ließ sich mühelos ignorieren.
»Die Kinder haben Alan Conway nie gemocht«, sagte meine Schwester ganz plötzlich.
»Ja. Das hast du schon mal gesagt.«
»Du hast ihn auch nicht gemocht.«
»Nicht besonders.«
»Bedauerst du, dass ich ihn dir vorgestellt habe?«
»Ganz im Gegenteil, Katie. Er war unser größter Erfolg.«
»Aber er war auch ziemlich schwierig, nicht wahr?« Sie zuckte die Achseln. »Soviel ich gehört habe, waren die Leute in Woodbridge nicht traurig, als er die Schule verlassen hat.«
Als sein erstes Buch erschienen war und sich abzeichnete, dass es ein Bestseller sein würde, hatte Conway den Lehrberuf aufgegeben. Als sein zweites Buch erschien, verdiente er damit schon mehr, als er in all seinen Jahren als Lehrer verdient hatte.
»Was stimmte denn nicht mit ihm?«, fragte ich.
Katie dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß nicht genau. Er hatte einfach einen schlechten Ruf. Und er war auch sehr streng. Jedenfalls fehlte es ihm am Humor.«
Das ist wahr. Es gibt kaum Witze in den Atticus-Pünd-Romanen. »Er war sehr verschlossen«, fuhr Katie fort. »Ich habe ihn manchmal bei Sportveranstaltungen und solchen Sachen getroffen, und ich wusste nie, was er dachte. Ich hatte immer das Gefühl, dass er etwas verbarg.«
»Seine sexuelle Orientierung?«
»Vielleicht. Als er seine Frau um dieses Jungen willen verlassen hat, kam das sehr überraschend. Aber eigentlich ging es nicht darum. Man hatte mehr den Eindruck, dass er über irgendwas wütend war, aber nicht sagen wollte, worum es ging.«
Wir hatten jetzt schon ziemlich lange geredet, und ich wollte nicht im Londoner Feierabendverkehr steckenbleiben. Ich trank meinen Tee aus und lehnte das zweite Stück Kuchen ab. Das erste war ziemlich groß gewesen, und was ich eigentlich wollte, war eine Zigarette. Katie hasste es, wenn ich rauchte. Ich begann, meinen Aufbruch einzuleiten.
»Kommst du bald wieder?«, fragte sie. »Die Kinder würden dich auch gern sehen. Wir könnten doch alle zusammen zu Abend essen.«
»Kann gut sein, dass ich öfter mal hin und her fahren muss«, sagte ich.
»Das ist schön. Wir vermissen dich sehr.« Was als Nächstes kommen würde, war klar, und meine Schwester enttäuschte mich nicht. »Ist alles in Ordnung, Sue?«, fragte sie – in dem Tonfall, der unterstellte, dass gar nichts in Ordnung war.
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
»Du weißt schon, dass ich mir Sorgen mache, wenn ich daran denke, dass du immer so allein bist in deiner Wohnung?«
»Ich bin doch nicht allein. Ich hab’ ja Andreas.«
»Wie geht es ihm?«
»Oh, sehr gut, danke.«
»Er müsste doch eigentlich schon wieder in der Schule sein, oder?«
»Nein. Die fangen erst nächste Woche wieder mit dem Unterricht an. Er war den Sommer über auf Kreta.« Ich bedauerte sofort, dass ich das gesagt hatte. Damit war klar, dass ich tatsächlich allein war.
»Warum bist du nicht mitgefahren?«
»Er hat mich eingeladen, aber ich hatte zu viel zu tun.« Das war nur die Hälfte der Wahrheit. Ich war noch nie auf Kreta gewesen. Ich zögerte, in seine Welt einzutreten und mich der Musterung durch die Verwandtschaft auszusetzen.
»Besteht denn Aussicht …? Ich meine, werdet ihr zwei …?« Darauf lief es am Ende immer hinaus. Obwohl sie nun schon siebenundzwanzig Jahre verheiratet war, blieb die Ehe das Wichtigste für sie, Anfang und Ende, die einzige Daseinsberechtigung. Die Ehe war ihr Internat, ihre Woodbridge School, ihre heile Welt. Und soweit sie sehen konnte, lebte ich außerhalb dieses Glücks und schaute nur durch die Gitterstäbe herein.
»Ach, darüber reden wir gar nicht«, sagte ich munter. »Uns gefällt es so, wie es ist. Ich würde ihn sowieso nicht heiraten.«
»Weil er Grieche ist?«
»Nein, weil er zu griechisch ist. Er würde mich verrückt machen.«
Warum musste mich Katie immer nach ihren Maßstäben messen? Warum verstand sie nicht, dass ich gar nicht brauchte, was sie hatte? Dass ich damit, wie die Dinge waren, vollkommen glücklich war? Wenn ich mich kratzbürstig anhöre, dann liegt das nur daran, dass ich insgeheim fürchtete, sie könnte Recht haben. Ein Teil von mir fragte mich genau diese Dinge. Ich würde nie Kinder haben. Ich hatte einen Mann, der den ganzen Sommer über weg gewesen war und auch während des Semesters nur am Wochenende vorbeikam – wenn er gerade mal nicht mit Fußball, den Proben der Theatergruppe oder einer Exkursion in die Tate Gallery beschäftigt war. Ich hatte mein ganzes Leben den Büchern, den Buchhändlern und anderen Büchermenschen wie Charles und Alan Conway gewidmet. Und dementsprechend war mein Schicksal auch das eines Buches: Ich war im Regal gelandet.
Ich war froh, als ich wieder in meinem Wagen saß. Zwischen Woodbridge und der A12 gibt es keine Überwachungskameras, und ich hielt den Fuß hart auf dem Gaspedal. Ich stellte das Radio an, als ich auf die M25 kam. Mariella Frostrup redete über Bücher, und ich fühlte mich wieder okay.