»Wie sind Sie vorangekommen?«, fragte Charles.
Ich erzählte ihm von meinem Besuch in Framlingham und meinen Gesprächen mit James Taylor, Sajid Khan und Claire Jenkins. Die fehlenden Kapitel hatte ich nicht gefunden. Sie waren nicht auf seinem Computer. Es gab keine handgeschriebenen Seiten.
Warum, weiß ich nicht genau, aber die Frage, wie Conway gestorben war und ob wir uns bei der Interpretation des Abschiedsbriefs womöglich geirrt hatten, schnitt ich gar nicht erst an. Ich sagte ihm auch nicht, dass ich Die Rutsche gelesen – oder zu lesen versucht – hatte.
Ich hatte mich entschlossen, Detektiv zu spielen – und wenn es etwas gibt, was allen Detektiven gemeinsam ist, von denen ich je gelesen habe, dann ist es die Einsamkeit. Die Verdächtigen kennen einander. Sie sind vielleicht Freunde oder gehören zur selben Familie. Aber der Detektiv ist immer der Außenseiter. Er stellt die nötigen Fragen, aber er stellt keine echte Beziehung zu irgendjemandem her. Er traut den anderen nicht, und sie trauen ihm nicht, sondern haben meist Angst vor ihm. Es ist ein Verhältnis, das auf Täuschung beruht, und letztlich nirgendwohin führt. Sobald der Mörder identifiziert ist, zieht sich der Detektiv zurück und lässt sich nicht mehr blicken. Und die anderen sind froh, dass er weg ist. Eigenartigerweise ging mir das jetzt so mit Charles: Zwischen uns war eine Fremdheit, die ich zuvor nie wahrgenommen hatte. Es wurde mir plötzlich bewusst, dass auch Charles ein Verdächtiger sein könnte, wenn Conway tatsächlich umgebracht worden war, obwohl ich mir einfach nicht vorstellen konnte, warum ein Verleger seinen erfolgreichsten Autor umbringen und sich damit selbst ruinieren sollte.
Charles hatte sich verändert. Er sah müde und hager aus, seine Frisur war nicht so gepflegt wie sonst und sein Anzug zerknitterter als gewöhnlich. Überraschend war das eigentlich nicht. Er war Teil einer polizeilichen Ermittlung. Er hatte einen sicheren Bestseller verloren und der Umsatz im Weihnachtsgeschäft würde steil abstürzen. Außerdem würde er zum ersten Mal Großvater werden. Auch das machte ihm möglicherweise zu schaffen.
Trotzdem wagte ich mich aufs Glatteis. »Ich würde gern noch etwas mehr über dieses Dinner im Ivy Club wissen«, sagte ich. »Als Sie Conway das letzte Mal gesehen haben.«
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Ich versuche herauszufinden, was in seinem Kopf vorging«, sagte ich, aber das war nur die halbe Wahrheit. »Ich würde gern wissen, warum er diese Seiten zurückgehalten hat.«
»Glauben Sie, er hat sie bewusst zurückgehalten?«
»Es sieht so aus. Ja.«
Charles ließ den Kopf hängen. Ich hatte ihn noch nie so niedergeschlagen gesehen. »Diese ganze Sache ist ein Desaster für uns«, sagte er. »Ich habe gerade mit Angela gesprochen.« Angela McMahon war unsere Marketing- und Presse-Chefin, aber so, wie ich sie kannte, hatte sie schon angefangen, sich nach einem neuen Job umzusehen. »Sie sagt, es wird einen Haufen Publicity geben und unsere Verkaufszahlen werden kurzfristig hochschnellen, wenn die Polizei bekanntgibt, dass er sich umgebracht hat. Sie versucht, einen großen Rückblick auf seine Arbeit in der Sunday Times zu kriegen.«
»Das ist doch gut, oder?«
»Vielleicht. Aber das wird alles sehr schnell vorbei sein. Es ist noch nicht einmal sicher, ob die BBC weitermacht mit der Verfilmung.«
»Ich verstehe nicht, was das mit seinem Tod zu tun hat«, sagte ich. »Warum sollten sie jetzt aufhören?«
»Alan hatte den Vertrag noch nicht unterschrieben. Sie haben sich immer noch um die Besetzung der wichtigsten Rollen gestritten. Jetzt müssen sie erst einmal abwarten, wer die Rechte besitzt. Und dann gehen die Verhandlungen wieder von vorne los.« Unter dem Tisch wälzte Bella sich auf die andere Seite und gähnte vernehmlich, und ich musste an das Halsband denken, das Atticus Pünd im Pförtnerhaus in Saxby gefunden hatte. Tom Blakistons Hund hatte jemand die Kehle durchgeschnitten. Das Halsband war sicher ein wichtiger Hinweis. Aber was hatte er zu bedeuten?
»Hat Conway im Ivy über die Fernsehserie mit Ihnen gesprochen?«, fragte ich.
»Nein. Die hat er nicht erwähnt.«
»Aber Sie haben sich mit ihm gestritten.«
»So würde ich es nicht nennen, Susan. Wir waren unterschiedlicher Ansicht über den Titel des Buches.«
»Er hat Ihnen nicht gefallen?«
»Er wollte unbedingt, dass der Roman Morde von Pye Hall heißen sollte. Ich habe nur gesagt, dass das vielleicht nicht gut klingt. Ich hätte vielleicht besser den Mund halten sollen – aber ich hatte den Roman zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht gelesen und sonst gab es nicht viel zu sagen.«
»Und das war der Augenblick, in dem der Kellner die Teller fallen ließ?«
»Ja. Alan war mitten im Satz. Ich weiß nicht mehr genau, was er sagen wollte. Und dann kam dieser höllische Krach.«
»Sie haben gesagt, er war wütend.«
»Und ob. Er ist zu dem Kellner hingegangen und hat ihn zusammengestaucht.«
»Den Kellner.«
»Ja.«
»Er ist aufgestanden und hat den Tisch verlassen?« Ich wusste selbst nicht, warum ich so auf der Sache herumritt. Es kam mir bloß irgendwie merkwürdig vor.
»Ja«, sagte Charles.
»Fanden Sie das nicht merkwürdig?«
Charles überlegte. »Eigentlich nicht. Die beiden haben vielleicht eine Minute miteinander gesprochen. Oder auch zwei. Ich habe angenommen, dass sich Alan beschwert hat. Danach ist er zur Toilette gegangen. Dann ist er wieder zurückgekommen, und wir haben unsere Mahlzeit beendet.«
»Den Kellner können Sie wahrscheinlich nicht beschreiben? Wissen Sie vielleicht, wie er heißt?«
Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas Wichtiges an diesem Abend im Club at the Ivy passiert war, als Charles mit Conway gesprochen hatte. Alle möglichen Handlungsstränge liefen bei diesem Abendessen zusammen. Genau in dem Augenblick, als er das Manuskript übergeben hatte, war Conway aufgeschreckt worden. Er hatte zu streiten begonnen. Er hatte sogar mit dem Kellner gestritten. Wegen eines Missgeschicks, das gar nichts mit ihm zu tun hatte. Im Manuskript fehlten die entscheidenden Seiten, und zwei Tage später war Conway nicht mehr am Leben.
Charles sagte ich nichts über meine Gedanken. Ich wusste, er würde mir nur sagen, dass ich meine Zeit verschwendete. Aber am Nachmittag ging ich ins Westend hinüber und überlegte, wie ich in den Privatclub hineinkommen könnte.
Es erwies sich als einfacher, als ich gedacht hatte. Die Empfangsdame war sehr beeindruckt, als ich ihr sagte, dass ich eine Freundin von Charles Clover und die Lektorin von Alan Conway gewesen sei. Natürlich könne ich mich gern umschauen. Man zeigte mir das Restaurant im zweiten Stock, das jetzt noch vollkommen leer war. Die Tische waren für das Abendessen eingedeckt. Als ich nach dem Kellner fragte, der an dem fraglichen Tag bedient hatte, wurde ich allerdings in die Bar im unteren Stockwerk geschickt. Donald sei dort hinter der Theke zu finden.
»Ja, das stimmt«, sagte er, als ich ihn ausfindig gemacht hatte. »Eigentlich sollte ich an dem Abend in der Bar arbeiten, aber sie hatten zu wenig Leute im Restaurant, deshalb musste ich oben aushelfen. Die beiden Herren hatten gerade mit dem Hauptgang begonnen, als ich aus der Küche kam. Sie saßen da in der Ecke.«
Viele der Kellner im Club waren sehr jung und kamen aus Osteuropa, aber auf Donald Leigh traf weder das eine noch das andere zu. Er kam unüberhörbar aus Schottland, aus Glasgow, und war bereits Anfang dreißig. Er war seit sechs Jahren in London, hatte einen zweijährigen Sohn und wusste seine Arbeit im Ivy zu schätzen.
»Hier kommen echt tolle Leute vorbei, besonders nach dem Theater.« Er war nicht sehr groß und etwas kurzhalsig, das Leben hatte ihn niedergedrückt. »Nicht bloß Schriftsteller, sondern auch Schauspieler und Politiker – was immer Sie wollen.«
Ich hatte ihm gesagt, wer ich war und was ich wollte. Charles Clover hatte einen Tisch für halb acht bestellt, und kurz nach zehn waren er und Conway wieder gegangen. Leigh hatte sie nicht selbst bedient und wusste nicht, was sie gegessen hatten. Er erinnerte sich nur, dass sie einen sehr teuren Wein bestellt hatten. »Aber Mr Conway war trotzdem nicht sehr guter Laune.«
»Woher wissen Sie das?«
»Wenn ich’s Ihnen doch sage! Er sah irgendwie unglücklich aus.«
»Er hat an diesem Abend seinen neuen Roman abgegeben.«
»Ach, wirklich? Wie schön für ihn. Ich bin so viel gerannt, dass ich nichts davon mitgekriegt habe. War ’ne Menge los an dem Tag.«
Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass es da etwas gab, was er mir nicht sagen wollte. »Sie haben ein paar Teller fallen lassen an diesem Abend?«
Er hob mürrisch den Kopf. »Wie lange wollen die Leute eigentlich noch davon reden? Was ist denn daran so schrecklich?«
Ich seufzte. »Hören Sie, Donald – darf ich Sie Donald nennen?«
»Sie können mich nennen, wie Sie wollen, ich bin jetzt noch nicht im Dienst.«
»Ich will bloß wissen, was los war. Alles, was Sie mir erzählen, bleibt unter uns. Aber ich bin nicht überzeugt, dass er sich selbst umgebracht hat, und alles, was Sie gesehen oder gehört haben, könnte mir helfen.«
»Wenn Sie nicht glauben, dass er sich umgebracht hat, was glauben Sie dann?«
»Das sage ich Ihnen, wenn Sie mir gesagt haben, was an dem Abend passiert ist.«
Er sah mich prüfend an und überlegte einen Moment. »Macht es Ihnen was aus, einen Augenblick mit mir rauszugehen? Ich würde gern eine rauchen.«
»Ich rauche eine mit.«
Wieder einmal halfen die Zigaretten, um die Barrieren niederzureißen. Es gab einen kleinen Innenhof, der uns vor der Missbilligung der Welt schützte. Ich nannte ihm meinen Namen, und versprach ihm noch einmal, dass alles zwischen uns bleiben würde, was er mir sagte. Und plötzlich war er bereit zu reden.
»Sie sind Verlegerin?«
»Lektorin.«
»Aber Sie arbeiten für einen Verlag.«
»Ja.«
»Dann können wir uns vielleicht gegenseitig einen Gefallen tun.« Er machte eine Pause. »Ich habe Alan Conway sofort erkannt. Deshalb habe ich auch die blöden Teller fallen gelassen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich sie in der Hand hatte, und sie waren so verdammt heiß.«
»Woher kannten Sie Conway?«
Er sah mich befremdet an. »Kennen Sie den Roman Rache ist bitter?«
Das war der fünfte Roman in der Serie. Er spielte in einer Schule. »Ich hab’ sie alle sieben redigiert«, sagte ich.
»Und was halten Sie von diesem?«
In Rache ist bitter wird der Direktor einer Privatschule während einer Theateraufführung umgebracht. Er sitzt im verdunkelten Zuschauersaal. Dann läuft eine Gestalt durch das Auditorium und als Nächstes kriegt er mit chirurgischer Präzision ein Skalpell in den Hals. Die Halsschlagader ist durchgeschnitten. Das Raffinierte daran ist die Tatsache, dass die Hauptverdächtigen zu diesem Zeitpunkt alle auf der Bühne sind und es nicht getan haben können. Erst später stellt sich heraus, dass einer von ihnen es trotzdem getan hat. Der Roman spielt kurz nach dem Krieg, und die Hintergrundgeschichte handelt von Feigheit und Pflichtversäumnis. »Ich fand ihn genial.«
»Das war meine Idee, ich hab’ sie entwickelt.« Donald Leigh hatte sehr eindringliche braune Augen, und jetzt glitzerten sie plötzlich vor Wut. »Soll ich weiterreden?«
»Ja, bitte erzählen Sie’s mir.«
»Na schön.« Er zog heftig an der Zigarette. »Bücher hab’ ich als Kind schon geliebt. Ich wollte immer Schriftsteller werden. Aber an der Schule in Bridgeton, auf die ich gegangen bin, sagte man so etwas lieber nicht laut. Es war die Hölle. Die dachten, man wäre schwul, wenn man in die Bibliothek ging. Mir war das egal. Ich las so viele Bücher, wie ich kriegen konnte – Agententhriller, Tom Clancy und Robert Ludlum. Abenteuergeschichten. Horrorgeschichten. Stephen King hab’ ich geliebt. Aber das Beste waren die Detektivgeschichten. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen. Ich bin ja nicht auf die Universität gegangen. Ich wollte immer nur schreiben. Und ich werde es auch schaffen, Susan, das sage ich Ihnen. Ich arbeite jetzt schon wieder an einem Roman. Ich kellnere bloß, um durchzukommen, bis ich es geschafft habe.
Leider hat es bisher nie so richtig geklappt. Seit ich angefangen habe, hatte ich diesen Roman im Kopf. Ich hatte die Figuren, ich hatte die Handlung, ich musste es bloß noch aufschreiben. Aber genau daran haperte es. Auf dem Papier passten die Dinge nicht richtig zusammen. Ich versuchte es wieder und wieder, aber dann hab’ ich’s gelesen, und dann musste ich’s wieder neu schreiben. Ich konnte es fünfzig Mal schreiben, und es hat immer noch nicht funktioniert. Jedenfalls hab’ ich dann vor ein paar Jahren diese Anzeige für einen Schreibkurs gesehen. Es hieß, da wolle man neuen Autoren helfen, ihr Handwerk zu lernen. Ich musste den ganzen Weg nach Devon fahren – aber das Thema waren Detektivromane, und da musste ich einfach hin. Billig war’s auch nicht. Siebenhundert Pfund hab’ ich löhnen müssen. Aber ich hatte genug gespart, und ich dachte: Einen Versuch ist es wert. Also hab’ ich mich angemeldet.«
Ich beugte mich vor und schnippte meine Zigarettenasche in die hübschen silbernen Behälter, die der Ivy Club dafür bereitgestellt hatte. Ich ahnte, worauf die Geschichte hinauslaufen würde.
»Wir sind alle auf diesen Bauernhof am Ende der Welt verfrachtet worden«, setzte Leigh seinen Monolog fort. Er stand da mit geballten Fäusten, als wäre dies sein großer Moment, für den er lange geprobt hatte. »Wir waren elf Leute. Ein paar davon waren komplette Idioten, außerdem gab es noch zwei Frauen, die sich für was Besseres hielten. Sie hatten schon ein paar Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht und waren sehr aufgeblasen. Wahrscheinlich treffen Sie jeden Tag solche Leute. Der Rest war aber in Ordnung, und ich freute mich, mit ihnen zusammen zu sein. Sie gaben mir das Gefühl, dass ich mit meinem Problem nicht allein war. Es gab drei Tutoren, die den Kurs leiteten. Alan Conway war einer von ihnen.
Ich fand ihn großartig. Er hatte einen tollen Wagen, einen BMW, und sie hatten ihm ein schönes Quartier in einem eigenen Gebäude gegeben. Wir anderen waren in Doppelzimmern untergebracht. Aber er war trotzdem ein richtiger Kumpel. Er wusste, wovon er redete, und natürlich wussten wir, dass er einen Haufen Geld mit Atticus Pünd verdient hatte. Ich hatte zwei von den Büchern gelesen, ehe ich da runtergefahren bin. Sie gefielen mir gut; denn sie waren so ähnlich wie das, was ich auch machen wollte. Wir hatten den ganzen Tag Vorträge und Übungen. Wir haben natürlich auch zusammen gegessen – beim Kochen und Tischdecken mussten wir alle helfen. Und am Abend gab es eine Menge Alkohol, damit wir reden und uns entspannen konnten. Das hat mir am besten gefallen. Man hatte das Gefühl, gleichberechtigt zu sein. Und an einem Abend haben wir mal eine Stunde unter vier Augen geredet und ich habe ihm von dem Buch erzählt, das ich schreibe.«
Seine Fäuste hoben sich, als er an diesen unvermeidlichen Tiefpunkt seiner Geschichte kam, dann brach er plötzlich ab. »Werden Sie mein Manuskript lesen, wenn ich es Ihnen gebe?«, fragte er mich leise.
Das ist genau die Frage, die ich sonst immer fürchte. Aber ich fügte mich in das Unvermeidliche, nickte und lächelte höflich. »Sie meinen, dass er die Idee gestohlen hat, von der Sie ihm erzählt haben?«
»Ganz genau, Susan. Genau das hat er getan.«
»Wie heißt denn Ihr Roman?«
»Der Tod betritt die Bühne.«
Das war ein ziemlich hölzerner Titel. Aber das sagte ich Leigh natürlich nicht. »Ich kann ihn mir ansehen«, sagte ich vorsichtig. »Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass wir etwas für Sie tun können.«
»Ich will ja nur, dass Sie ihn mal anschauen. Mehr verlange ich gar nicht.« Er schaute mich an, als glaubte er immer noch, dass ich ablehnen würde. »Ich habe Alan Conway alles erzählt«, sagte er schließlich. »Alles über den Mord, den ich mir ausgedacht hatte. Es war schon ziemlich spät, und wir waren die Letzten im Zimmer. Es gab keine Zeugen. Er fragte mich, ob er einen Blick auf das Manuskript werfen dürfte, und ich war begeistert. Alle wollten, dass er ihre Manuskripte anschaute. Das war ja der Sinn der Übung in unseren Augen.«
Er nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette, warf sie auf den Boden, trat mit dem Absatz darauf und steckte sich prompt eine neue an.
»Er hat es ziemlich schnell gelesen. Es waren nur noch zwei Tage von dem Kurs übrig, und am letzten Tag hat er mich beiseitegenommen und mir ein paar Tipps gegeben. Er hat gesagt, ich sollte Adjektive wegstreichen. Mindestens die Hälfte. Er hat gesagt, meine Dialoge seien nicht realistisch. Was soll denn ein realistischer Dialog sein? Romane sind nun mal fiktiv. Zu meinem Detektiv hat er mir ein paar gute Sachen gesagt. Er solle mindestens eine schlechte Angewohnheit haben, hat er gesagt. So wie Rauchen oder Trinken. Er hat gesagt, er würde sich bei mir melden, und ich hab’ ihm meine E-Mail-Adresse gegeben.
Ich habe nie wieder von ihm gehört. Kein Wort. Und dann, fast genau ein Jahr später erschien Rache ist bitter und stand überall in den Buchläden. Es handelte von einer Theateraufführung an einer Schule. Mein Roman spielt nicht an einer Schule, er spielt in einem Theater. Aber es war dieselbe Idee. Und das war noch nicht alles. Er hat meinen Mord gestohlen. Es war genau dieselbe Methode. Dieselbe Methode, dieselben Spuren und fast dieselben Figuren.«
Leighs Stimme wurde immer lauter. »Er hatte meine Geschichte gestohlen. Das hat er getan, Susan. Er hat meine Geschichte gestohlen.«
»Haben Sie es irgendwem gesagt?«, fragte ich. »Was haben Sie gemacht, als das Buch erschien?«
»Was konnte ich schon machen? Sagen Sie’s mir! Wer hätte mir denn geglaubt?«
»Sie hätten uns schreiben können. An Cloverleaf Books.«
»Ich habe Ihnen geschrieben. Ich hab’ an den Geschäftsführer geschrieben, an Mr Clover. Er hat nicht geantwortet. Ich hab’ an Alan Conway geschrieben. Ich hab’ ihm sogar ein paar Mal geschrieben. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich direkt war. Aber er hat genauso wenig geantwortet. Ich hab’ den Leuten geschrieben, die den Schreibkurs veranstaltet hatten. Die haben geantwortet. Sie haben mich abgewimmelt. Sie lehnten jede Verantwortung ab und sagten, sie hätten nichts mit der Sache zu tun. Ich habe mich gefragt, ob ich zur Polizei gehen soll. Ich meine, er hatte mir ja etwas gestohlen. Es gibt so einen Begriff dafür, nicht wahr? Aber dann hab’ ich mit meiner Frau geredet, und die hat gesagt, ich soll es vergessen. Er war berühmt, er hatte Anwälte. Ich war ein Niemand. Sie hat gesagt, ich würde es nur noch schlimmer für mich machen, wenn ich dagegen ankämpfte. Ich sollte es einfach hinter mir lassen. Das hab’ ich getan. Ich schreibe immer noch. Zumindest wusste ich ja jetzt, dass ich gute Ideen hatte. Sonst hätte er mir ja nicht die Geschichte geklaut.«
»Haben Sie noch weitere Romane geschrieben?«
»Ich arbeite gerade an einem. Aber es ist kein Kriminalroman. Es ist ein Kinderbuch. Jetzt, wo mein Sohn zwei Jahre alt ist, gefiel mir das besser.«
»Aber Ihren Theaterkrimi haben Sie noch?«
»Na sicher. Ich habe alles aufgehoben, was ich je geschrieben habe. Ich weiß, ich habe Talent. Karen, meine Frau, liebt meine Sachen. Und eines Tages …«
»Schicken Sie mir das Manuskript!« Ich fischte in meiner Handtasche nach einer Visitenkarte. »Und jetzt erzählen Sie mir, was da im Restaurant passiert ist, als Sie ihn gesehen haben!
Er wartete auf die Visitenkarte. Sie war ein Rettungsanker für ihn. Ich war im Inneren des Elfenbeinturms, und er war draußen. Ich habe das schon bei vielen neuen Autoren gesehen, diesen Glauben an die Allmacht der Verlagsleute. Dabei hangeln wir uns von einem Tag zum anderen und hoffen, dass wir am Ende des Monats noch unseren Job haben. »Also, ich bin aus der Küche gekommen«, sagte er. »Ich hatte zwei Hauptgerichte und Beilagen für Tisch neun in den Händen. Da hab’ ich Conway da sitzen und mit Mr Clover streiten sehen. Ich war so erschrocken, dass ich einfach stehen blieb. Die Teller waren sehr heiß. Sie haben mir die Hände verbrannt, durch die Servietten hindurch. Da hab’ ich sie fallen lassen.«
»Und dann? Ich habe gehört, dass Alan aufgesprungen und zu Ihnen herübergekommen ist. Er war wütend auf Sie.«
Leigh schüttelte den Kopf. »So war das nicht. Ich habe die Scherben zusammengefegt und in der Küche die Bestellung noch mal aufgegeben. Ich wollte eigentlich gar nicht zurück in den Saal, aber es ging nun mal nicht anders. Zumindest hab’ ich nicht an seinem Tisch bedient. Und dann ist Conway plötzlich aufgestanden, um zur Toilette zu gehen. Er ist direkt an mir vorbeigekommen. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, irgendetwas zu sagen, aber als er so dicht an mir vorbeiging, konnte ich nicht widerstehen.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe guten Abend gesagt. Und gefragt, ob er sich an mich erinnert.«
»Und dann?«
»Er konnte sich nicht erinnern. Oder tat jedenfalls so. Ich erinnerte ihn daran, dass wir uns in Devon kennengelernt hatten und dass er so freundlich gewesen war, meinen Roman zu lesen. Er wusste genau, wer ich war und worauf ich hinauswollte. Deshalb wurde er unverschämt. ›Ich komme nicht in diesen Club, um mit den Kellnern zu reden‹, hat er gesagt. Das waren seine genauen Worte. Er hat gesagt, ich solle ihm aus dem Weg gehen. Er hat nicht laut gesprochen, aber ich wusste genau, was er tun würde, wenn ich nicht vorsichtig war. Es war alles genau wie das letzte Mal: Er war mir haushoch überlegen. Er hatte den Erfolg, den schicken Wagen und das große Haus in Framlingham. Ich war ein Niemand. Er war zu Gast im Club, ich war der Kellner. Ich brauche den Job. Ich habe einen zweijährigen Sohn. Also murmelte ich eine Entschuldigung und entfernte mich. Ich fühlte mich miserabel dabei, aber was sollte ich machen?«
»Sie müssen sich richtig gefreut haben, als Sie gehört haben, dass er tot ist.«
»Wollen Sie die Wahrheit wissen, Susan? Ich war entzückt. Ich hätte nicht glücklicher sein können, wenn – «
Er wusste, dass er zu weit gegangen war, und brach ab. Ich hakte trotzdem nach: »Wenn was?«
»Ist egal.«
Aber wir wussten beide, was er gemeint hatte. Ich gab ihm die Visitenkarte und er steckte sie in seine Brusttasche. Dann warf er seine zweite Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
»Darf ich Sie noch etwas Letztes fragen?«, sagte ich, als wir wieder hineingingen. »Sie haben gesagt, Conway hätte sich mit Charles Clover gestritten. Haben Sie zufällig mitgekriegt, worum es ging?«
Leigh schüttelte den Kopf. »So nahe bin ich nicht drangewesen.«
»Und was ist mit den Leuten am Nebentisch?« Nach dem, was ich gesehen hatte, mussten sie sehr dicht neben Conway und Clover gesessen haben.
»Vielleicht. Ich kann Ihnen sagen, wer da gesessen hat, wenn Sie wollen. Die Namen müssten noch im System sein.«
Als er sich entfernte, dachte ich an das, was er gerade gesagt hatte: »das große Haus in Framlingham«. Das klang, als ob er es selbst schon gesehen hätte.