Der Enkel

Der Mann, der an dem fraglichen Abend am Tisch neben Conway und Clover gesessen und vielleicht ihr Gespräch mitgehört hatte, war Mathew Prichard, und das war wirklich ein erstaunlicher Zufall. Der Name ist Ihnen vielleicht nicht so vertraut, aber ich erkannte ihn sofort. Mathew Prichard ist der Enkel von Agatha Christie. Es war eine kleine Sensation, als sie ihm die Rechte an der Mausefalle schenkte, als er neun Jahre alt war. Über ihn zu schreiben, ist merkwürdig, und es erscheint fast etwas unwahrscheinlich, dass er an diesem Abend im Club at the Ivy gewesen ist. Aber er ist nun mal Mitglied dort. Das Büro von Agatha Christie Ltd. ist gleich um die Ecke in der Drury Lane. Und Die Mausefalle wird, wie ich schon erwähnt habe, immer noch im St. Martin’s Theatre, ein Stück weit die Straße hinunter, gezeigt. Ich hatte seine Nummer auf meinem Handy gespeichert. Wir hatten uns zwei, drei Mal bei literarischen Empfängen getroffen, und vor ein paar Jahren hatte ich mit seinen Agenten über ein Buch verhandelt, The Grand Tour. Es war ein sehr amüsanter Bericht über die Weltreise, die seine Großmutter 1922 gemacht hatte (leider wurde ich von Harper Collins überboten). Ich rief ihn an, und er erinnerte sich auch gleich an mich.

»Natürlich, Susan. Schön von Ihnen zu hören. Wie geht’s Ihnen?«

Ich wusste nicht recht, wie ich ihm erklären sollte, was ich von ihm wollte. Es war etwas heikel, ihn in einen echten Kriminalfall verwickeln zu wollen, den ich untersuchte. Im Grunde war es völlig bizarr, und ich wollte das nicht am Telefon besprechen. Also erwähnte ich nur den Tod von Alan Conway und sagte, es gäbe da etwas, das ich gern mit ihm besprechen würde. Das genügte, um sein Interesse zu wecken. Wie sich zeigte, war er ganz in der Nähe. Er nannte mir den Namen einer Cocktailbar in Seven Dials, und wir verabredeten uns auf einen Drink.

Wenn es ein Wort gibt, um Mathew zu beschreiben, dann ist es »umgänglich«. Er muss jetzt um die siebzig sein, und wenn man ihn so sieht mit seinem stürmischen weißen Haar und seinem kräftigen Gesicht, hat man das Gefühl, dass hier einer sein Leben genießt. Er hat ein Lachen, das man durch den ganzen Raum hört, ein raubeiniges Seemannslachen, das klingt, als hätte er gerade einen deftigen Witz gehört. Er war wie immer untadelig in einen marineblauen Blazer und ein offenes Hemd gekleidet, als er hereinkam, und obwohl ich ihm anbot, die Rechnung zu übernehmen, bestand er darauf, mich einzuladen. Wir redeten ein bisschen über Alan Conway, und er drückte sein Mitgefühl aus. Die Bücher hätten ihm alle gefallen. »Sehr scharfsinnig. Immer sehr überraschend. Voller guter Ideen.« Ich merkte mir diese Worte genau, denn es gab diesen hässlichen, geschäftstüchtigen Teil von mir, der insgeheim überlegte, ob man sie vielleicht für die Pressearbeit benutzen oder hinten auf eine Taschenbuchausgabe drucken könnte. Agatha Christies Enkel liebt Alan Conways Romane. Das würde den Verkaufszahlen sicher nicht schaden. Er fragte mich, woran Conway gestorben war, und ich sagte ihm, dass die Polizei von einem Selbstmord ausginge. Das schien ihm sehr leidzutun. Er fand es offenbar traurig und unverständlich, dass jemand sich umbrachte. Erst als ich sagte, Conway sei sehr krank gewesen, nickte er, als ob das irgendwie akzeptabel sei. »Wissen Sie, ich habe ihn erst vor einer Woche im Ivy gesehen«, sagte er.

»Ja, danach wollte ich Sie gerade fragen«, sagte ich. »Er hat da mit meinem Chef zu Abend gegessen.«

»Ja. Stimmt. Sie saßen direkt neben mir.«

»Es würde mich interessieren, was Sie gehört und gesehen haben.«

»Warum fragen Sie Charles nicht einfach selbst?«

»Das hab’ ich schon. Er hat mir einiges erzählt, aber ich versuche, ein möglichst vollständiges Bild von der Sache zu kriegen.«

»Nun ja, ich habe nicht wirklich zugehört. Die Tische stehen zwar eng beieinander, aber ich weiß nicht mehr viel von dem, was gesagt wurde.«

Ich fand es sehr taktvoll, dass mich Mathew nicht fragte, warum ich so neugierig war und hinter dem Rücken meines Chefs Erkundigungen über ihn einzog. Vielleicht lag es einfach daran, dass er einen großen Teil seines Lebens in der Welt verbracht hatte, die seine berühmte Großmutter geschaffen hatte: einer Welt, in der Detektive Fragen stellten und Zeugen diese Fragen beantworteten. Ich erinnerte ihn an den Augenblick, als der Kellner die Teller hatte fallen lassen, und da lächelte er. »Ja, daran erinnere ich mich genau. Ich erinnere mich aber auch daran, worüber Ihr Charles und Conway geredet haben, als das passierte. Sie haben sich ziemlich laut über den Titel des neuen Buches gestritten.«

»Ja, Conway hat Charles an diesem Abend das Manuskript übergeben.«

»Die Morde von Pye Hall. Sie verstehen sicher, dass ich da nicht widerstehen konnte, Susan. Wenn das Wort ›Mord‹ fällt, spitze ich automatisch die Ohren.« Er lachte leise. »Sie haben über den Titel gestritten. Ich glaube, Ihr Verleger hat etwas gesagt, und Mr Conway war darüber nicht glücklich. Ja, genau – er hat gesagt, er habe diesen Titel schon seit Jahren geplant, und dann hat er mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Sogar das Besteck hat geklirrt. Da habe ich mich umgedreht und gesehen, dass er es war. Bis dahin hatte ich sie nur reden gehört. Auf jeden Fall wurde es dann einen Augenblick still. Dann hat er den Finger ausgestreckt und gesagt: Die will ich nicht.«

»Was wollte er nicht?«

Prichard lächelte mich an. »Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht helfen. Das war genau der Moment, in dem der Kellner die Teller fallen ließ. Es war ein schrecklicher Lärm. Der ganze Raum hielt den Atem an. Sie wissen ja, wie so etwas ist. Der arme Kerl ist ganz rot geworden – ich meine der Kellner. Und dann hat er angefangen, den Dreck wegzumachen. Ich fürchte, danach hab’ ich nicht mehr viel mitgekriegt. Tut mir leid.«

»Haben Sie bemerkt, dass Conway aufgestanden ist?«

»Ja, ich glaube, er ist aufs Klo gegangen.«

»Er hat mit dem Kellner geredet.«

»Kann sein. Aber ich kann mich an sonst nichts weiter erinnern. Genauer gesagt: Ich war mit Essen fertig und bin dann auch bald gegangen.«

Die will ich nicht. Das war alles. Vier Worte, die praktisch alles bedeuten konnten. Ich nahm mir vor, Charles zu fragen, was Conway damit gemeint hatte.

Prichard und ich redeten noch ein wenig über seine Großmutter, während wir unsere Cocktails austranken. Ich hatte es immer sehr lustig gefunden, dass sie Hercule Poirot am Ende gehasst hatte. Wie hatte sie ihn genannt? »Einen abscheulichen, aufgeblasenen, ermüdenden, eitlen und egozentrischen kleinen Widerling.« Hatte sie nicht einmal daran gedacht, eine Art Teufelsaustreibung zu veranstalten, um sich von ihm zu befreien? Mathew lachte. »Ich glaube, wie alle Genies wollte sie gern auch mal ganz andere Bücher schreiben und war frustriert, dass die Verleger immer nur Hercule Poirot von ihr wollten. Wenn man ihr sagen wollte, was sie zu tun hatte, konnte sie sehr ungnädig werden.«

Wir standen auf. Ich hatte einen Gin Tonic gehabt. Aber es muss wohl ein doppelter gewesen sein, denn mir war irgendwie schwindlig. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich.

»Ich fürchte, ich hab’ Ihnen nicht sehr viel helfen können«, sagte er. »Aber ich freue mich auf das neue Buch, wenn es rauskommt. Wie ich schon sagte, ich habe die Atticus-Pünd-Romane immer geschätzt, und Mr Conway war ja offensichtlich ein großer Verehrer des Werks meiner Großmutter.«

»Er hatte eine Sammlung von über hundert Ausgaben in seinem Arbeitszimmer«, sagte ich.

»Das überrascht mich nicht. Er hat sich eine Menge bei ihr ausgeliehen. Namen. Orte. Es war fast wie ein Puzzlespiel. Ich nehme an, er hat es ganz absichtlich getan, denn als ich die Bücher gelesen habe, hab’ ich überall versteckte Anspielungen gefunden. Ich habe sogar schon mal überlegt, ob ich ihm schreiben und ihn fragen soll, was er sich dabei denkt.« Prichard lächelte noch ein letztes Mal. Er war viel zu gutmütig, um Conway eines Plagiats zu bezichtigen, aber in gewisser Weise war unser Gespräch ein Spiegelbild meiner Unterhaltung mit Donald Leigh, allerdings freundlicher und nicht so verbittert.

Als ich wieder in meinem Büro war, nahm ich mir das Manuskript der Morde von Pye Hall noch einmal vor. Jetzt, wo mich Prichard darauf aufmerksam gemacht hatte, entdeckte ich tatsächlich viele Anspielungen auf die Werke von Agatha Christie. Das Hotel Genevieve in Cap Ferrat entspricht der Villa dieses Namens in Mord auf dem Golfplatz. Ein Gasthaus namens »The Blue Boar«, Schauplatz von Robert Blakistons Schlägerei in Bristol gibt es auch in St. Mary Mead, dem Heimatdorf von Miss Marple. Das Restaurant »Carlottas«, in dem Lady Pye und Jack Dartford speisen, könnte nach der amerikanischen Schauspielerin in Dreizehn bei Tisch benannt sein. Auf Seite 185 findet sich eine Art Scherz: Fraser hat einen Toten im Zug 15 Uhr 50 ab Paddington nicht bemerkt – bei Agatha Christie fährt der Zug bekanntlich eine Stunde später. Mary Blakiston hat auf Sheppard’s Farm gewohnt. Dr. James Sheppard ist der Erzähler von Roger Ackroyd und sein Mörder, dem sechsten Kriminalroman von Agatha Christie, der in King’s Abbot spielt, wo auf Seite 235 von Conways Manuskript der alte Dr. Rennard begraben wird. Wenn man danach ging, stellte man sehr bald fest, dass der ganze Aufbau von Conways Roman, die Verwendung des alten Abzählreims in den Kapitelüberschriften, auf einem Prinzip beruht, das auch Agatha Christie nur allzu gern einsetzte. Sie liebte Kinderreime: One, Two, Buckle my Shoe, Five Little Pigs, Ten Little Indians, Hickory Dickory Dock.

Nun würde man annehmen, dass ein Autor, der den Stil eines anderen, viel berühmteren Autors kopiert, diese Tatsache so gut wie möglich zu verbergen versucht. Aber Alan Conway hatte genau das Gegenteil getan. Überall hatte er diese Hinweisschilder aufgestellt, an denen niemand vorbeikonnte. Warum bloß? Was hatten sie zu bedeuten? Oder genauer gefragt: Wo zeigten sie hin?

Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass Conway mir zu sagen versuchte, dass er die Atticus-Pünd-Romane nicht nur geschrieben hatte, um die Leser zu amüsieren. Er hatte sie mit einer Absicht geschaffen, die allmählich immer deutlicher wurde.