Am nächsten Morgen wachte ich mit einem dicken Kopf und einem üblen Geschmack im Mund auf. Verrückterweise umklammerte ich noch immer die Autoschlüssel meines jugendlichen Gesprächspartners von letzter Nacht und für einen schrecklichen Moment dachte ich, er könnte neben mir liegen, wenn ich die Augen aufmachte. Ich ging eilig ins Bad und duschte lange und heiß. Dann ging ich in den Frühstücksraum hinunter und ließ mir schwarzen Kaffee und Grapefruitsaft bringen. Das Manuskript der Morde von Pye Hall hatte ich bei mir. Ich holte mein Smartphone heraus, und trotz meines Zustands brauchte ich nicht lange, um das herauszufinden, was ich suchte.
Alle Figuren waren nach Vögeln benannt.
Als ich den Roman das erste Mal gelesen hatte, hatte ich mir vorgenommen, mit Conway über Sir Magnus Pye und Pye Hall zu reden. Die Namen waren mir etwas kindisch vorgekommen. Oder zumindest sehr altmodisch. Sie hörten sich nach Tim und Struppi an. Ich ging den Text noch einmal durch und stellte fest, dass alle, auch die Nebenfiguren nach demselben Prinzip benannt worden waren. Einige fielen sofort auf: Robin (der Pfarrer) ist ein Rotkehlchen, seine Frau eine Henne. Whitehead, Redwing und Weaver (der Totengräber) sind recht bekannte Arten, das gilt auch für Lanner & Crane (das Bestattungsunternehmen in Bath) und Kite (den Wirt des Ferryman). Andere sind etwas schwieriger. Joy Sanderling ist ein Strandläufer, ein hübscher kleiner Watvogel, Jack Dartford allerdings nur eine Grasmücke. Brent (der Gärtner) ist eine Ringelgans. Der Naturforscher Thomas Blakiston aber war der Namensgeber des japanischen Riesen-Fisch-Uhus Bubo blakistoni, der mich mit großen Augen aus meinem Smartphone anschaute, als ich Wikipedia aufschlug.
Hatte das was zu bedeuten? Ja, es beunruhigte mich.
Die Namen von Figuren sind wichtig. Oft funktionieren sie am besten, wenn sie ganz einfach sind. James Bond wurde nicht deshalb berühmt, weil sein Name so viele Silben enthielt. Der Name ist meist das Erste, was man von einer Person erfährt, und es ist gut, wenn er passend und richtig erscheint. Manchmal stolpern die Autoren fast durch Zufall über die Namen, die zu Ikonen geworden ist. Das bekannteste Beispiel ist vielleicht Sherlock Holmes. Ursprünglich hießen die Figuren Sherringford Holmes und Ormond Sacker. Man fragt sich, ob sie auch so erfolgreich gewesen wären, wenn es sich Conan Doyle nicht noch anders überlegt und sie nicht in Sherlock Holmes und Dr. John Watson umgetauft hätte. Ich habe mal das Manuskript gesehen, wo diese Umbenennung erfolgt ist: Da wurde wirklich mit einem Federstrich Literaturgeschichte geschrieben. Hätte eine Pansy O’Hara die Welt genauso in Flammen gesetzt wie Scarlett O’Hara? Wäre Vom Winde verweht auch dann ein Klassiker geworden, wenn Margaret Mitchell ihre Heldin nicht umbenannt hätte? Namen haben die Eigenart, sich unserem Bewusstsein einzuprägen. Peter Pan, Luke Skywalker, Jack Reacher, Fagin, Shylock, Moriarty – können wir uns diese Figuren mit anderem Namen vorstellen?
Namen und Figuren bilden offenbar eine Einheit. Sie durchdringen und beseelen sich gegenseitig. Bei den Morden von Pye Hall und den anderen Büchern von Conway war das irgendwie nicht der Fall. Wenn man seine Figuren nach U-Bahn-Stationen oder Füllfedermarken benannte, dann banalisierte man sie. Na ja, das ist vielleicht übertrieben. Kriminalromane sind ja eine Art Unterhaltung, eine Art Rätsel. Trotzdem schien es mir, dass dahinter eine gewisse Lieblosigkeit steckte. Außerdem war es mir natürlich sehr peinlich, dass ich von alledem bisher nichts gemerkt hatte.
Nach dem Frühstück packte ich meine Sachen zusammen, bezahlte das Zimmer und fuhr nach Abbey Grange hinüber, um James seine Autoschlüssel zu bringen. Es war eigenartig, das Haus noch einmal zu sehen, wahrscheinlich zum letzten Mal. Vielleicht lag es ja nur am grauen Himmel von Suffolk, aber das Haus sah ziemlich betrübt aus, so als trauerte es um seinen Besitzer. Vielleicht war es auch nur beleidigt, weil es der Erbe nicht wollte. Ich wagte kaum, den Blick zum Turm zu heben, der bedrohlich und grimmig aussah. Abbey Grange würde zum Spukschloss werden, das erschien mir fast sicher. Früher oder später würde der neue Eigentümer mitten in der Nacht aufwachen und einen Schrei im Wind und einen sanften Aufprall im Gras hören. James hatte völlig Recht, dass er hier wegwollte.
Erst wollte ich klingeln, entschied mich dann aber dagegen. Wahrscheinlich lag James noch im Bett, und vielleicht bedauerte er inzwischen, dass er mir unter dem Einfluss des Alkohols so viel erzählt hatte. Es war besser, der morgendlichen Reue aus dem Weg zu gehen.
Außerdem hatte ich eine Verabredung in Ipswich. Claire Jenkins hatte Wort gehalten und einen Termin mit Detective Superintendent Locke für mich vereinbart. Nicht im Polizeirevier, sondern im Starbucks in der Nähe des Kinos. Ich hatte genaue Instruktionen erhalten, per SMS: Elf Uhr pünktlich. Er hatte fünfzehn Minuten für mich reserviert.
Nun, bis dahin war noch genug Zeit, um sich das Nachbarhaus vorzunehmen. Ich hatte John White bei der Beerdigung in seinen orangefarbenen Gummistiefeln gesehen, aber wir hatten nicht miteinander gesprochen. James hatte erwähnt, dass Conway sich mit dem Nachbarn gestritten hatte, und Mr White war zu einer fragwürdigen Gestalt in den Morden von Pye Hall geworden. Da es ein Sonntag war, bestanden gute Aussichten, dass ich ihn zu Hause antreffen würde. Ich warf James die Autoschlüssel in den Briefkasten und fuhr weiter zu seinem Nachbarn.
Trotz des Namens waren bei der Apple Farm keine Apfelbäume zu sehen. Sie sah auch nicht nach einem Bauernhof aus. Es war ein schmuckes, eher konventionelles Haus, das wahrscheinlich in den vierziger Jahren gebaut worden war. Es war alles sehr ansehnlich, mit einer ordentlichen, gekiesten Zufahrt, perfekten Hecken und ausgedehnten Rasenflächen. Die Garage stand offen, und davor parkte ein bemerkenswerter Wagen: ein zweisitziger Ferrari 458 Italia. Ich hätte nichts dagegen gehabt, damit ein bisschen herumzuflitzen, aber da wäre von 200 000 Pfund nicht mehr viel Wechselgeld übrig geblieben. Auf jeden Fall sah mein eigener MGB ein bisschen traurig daneben aus.
Ich klingelte an der Eingangstür. Das Haus hatte sicher acht Schlafzimmer, und ich vermutete, dass ich schon wegen seiner Größe eine Weile warten müsste, bevor jemand öffnete, aber die Tür ging fast sofort auf und ich stand einer nicht sehr freundlichen Frau gegenüber, die mich scharf musterte. Sie hatte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar und trug ziemlich männliche Kleider: einen Blazer, enge Hosen, knöchelhohe Stiefel. Bei der Beerdigung war sie nicht gewesen. Irgendwie zweifelte ich daran, dass sie Mr Whites Frau war.
»Ich würde gern mit Mr White sprechen«, sagte ich. »Sind Sie seine Frau?«
»Nein. Ich bin Mr Whites Haushälterin. Und wer sind Sie?«
»Ich bin eine Freundin von Alan Conway. Genauer gesagt: seine Lektorin. Ich müsste Mr White fragen, was vorgefallen ist. Es ist ziemlich wichtig.«
Ich glaube, sie wollte mich gerade wegschicken, aber in diesem Augenblick erschien der Hausherr in der Eingangshalle. »Wer ist denn da, Elizabeth?«, fragte er.
»Jemand, der etwas über Alan Conway wissen will.«
»Mein Name ist Susan Ryeland«, rief ich über ihre Schulter hinweg. »Es dauert nur fünf Minuten, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar.«
Offenbar klang das so vernünftig, dass Mr White mir die Bitte nicht abschlagen mochte. »Kommen Sie erst mal rein«, sagte er.
Die Haushälterin trat beiseite, und ich quetschte mich an ihr vorbei. John White sah genauso aus wie bei der Beerdigung, er war zierlich, schlank und relativ unauffällig. Das dunkle Haar fand ein Echo im Bartschatten in der unteren Hälfte seines Gesichts. Er trug ein Businesshemd und darüber einen Pullover mit V-Ausschnitt. Am Steuer des Ferrari konnte ich ihn mir eigentlich nicht vorstellen. Er wirkte alles andere als aggressiv.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er.
»Danke, das wäre sehr nett.«
Er nickte der Haushälterin zu, die wohl schon so etwas erwartet hatte und Richtung Küche verschwand. »Kommen Sie ins Wohnzimmer«, sagte Mr White.
Wir betraten einen großen Raum, dessen Terrassentüren auf den Garten hinausgingen. Außer den Designermöbeln fielen mir die Kunstwerke an den Wänden auf, darunter eine Neon-Installation von Tracey Emin. Aber es gab auch ein hübsches Foto mit zwei attraktiven Mädchen, offenbar Zwillingen. Seine Töchter? Ich spürte sofort, dass er, abgesehen von der Haushälterin, allein im Haus war. Seine Familie war entweder verreist, oder er war geschieden. Letzteres erschien mir wahrscheinlicher.
»Was wollen Sie über Alan wissen?«, fragte White.
Es klang alles sehr lässig, aber ich hatte ihn heute Morgen gegoogelt und wusste, dass White nicht nur einen, sondern sogar zwei erfolgreiche Hedgefonds in der City gemanagt hatte. Er hatte sich einen Namen und für eine Menge Leute viel Geld gemacht, als er die globale Kreditkrise von 2008 vorhergesagt und sich dann mit fünfundvierzig in den Ruhestand begeben hatte. Er hatte mehr Geld, als ich mir in meinen kühnsten Träumen vorstellen könnte, wenn ich von so etwas träumen würde. Und er arbeitete immer noch. Er investierte und vermehrte dabei seine Millionen. Uhren, Immobilien, Parkhäuser – er war auf allen Märkten zu Hause. Es wäre nicht schwer gewesen, ihn nicht zu mögen – der Ferrari hätte es mir sogar noch etwas leichter gemacht. Aber so war es nicht. Ich weiß nicht warum. Vielleicht waren es die orangefarbenen Gummistiefel, aber irgendwie fand ich ihn gar nicht so übel.
»Ich habe Sie bei der Beerdigung gesehen.«
»Ja. Ich dachte, ich schau mal vorbei. Zum Empfang bin ich allerdings nicht mehr geblieben.«
»Haben Sie und Alan sich gut gekannt?«
»Wir waren Nachbarn, wenn Sie darauf hinauswollen. Wir haben uns gelegentlich getroffen. Ich hab’ einige seiner Bücher gelesen, aber so richtig gefallen haben sie mir nicht. Ich hab’ nicht viel Zeit zum Lesen, und seine Sachen haben mir nicht so gelegen.«
»Mr White …« Ich zögerte. Was jetzt kam, würde nicht einfach sein.
»Nennen Sie mich John.«
»Soviel ich weiß, hat es einen Streit zwischen Alan und Ihnen gegeben. Kurz bevor er gestorben ist.«
»Das stimmt.« Er war gänzlich unbeeindruckt. »Warum fragen Sie?«
»Ich versuche herauszukriegen, wie er gestorben ist.«
John White hatte sanfte, haselnussbraune Augen, aber als ich das sagte, glaubte ich, einen Funken darin aufblitzen zu sehen, so als wäre eine innere Maschine angesprungen, die jetzt ins Laufen kam. »Er hat Selbstmord begangen«, sagte er.
»Ja. Natürlich. Aber ich versuche zu verstehen, in welcher Geistesverfassung er sich befunden hat, als er das getan hat.«
»Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten – «
Ich deutete natürlich alles Mögliche an, aber jetzt machte ich erst einmal einen behutsamen Rückzieher. »Aber nein! Wie ich schon Ihrer Haushälterin sagte, arbeite ich für seinen Verlag. Alan hat uns ein letztes Manuskript hinterlassen, und das beschäftigt uns jetzt.«
»Komme ich darin vor?«
Ja, das tat er. Alan hatte aus ihm Johnny Whitehead, den nicht ganz sauberen Antiquitätenhändler gemacht, der in London im Gefängnis gewesen war. »Nein«, sagte ich.
»Das freut mich zu hören.«
Die Haushälterin kam mit dem Kaffee, und White entspannte sich deutlich. Sie goss zwei Tassen ein, bot Sahne und edle Kekse an, machte aber keinerlei Anstalten, wieder zu gehen. White schien nichts dagegen zu haben. Im Gegenteil, er war froh, dass sie da war. »Also«, sagte er. »Da Sie es offenbar wissen wollen, kann ich Ihnen gern sagen, wie es gewesen ist. Alan und ich haben uns kennengelernt, als er einzog. Wir haben uns vom ersten Tag an sehr gut verstanden. Vor drei Monaten ungefähr gab es dann Ärger. Wir haben Geschäfte gemacht. Damit das gleich klar ist, Susan: Ich hab’ ihm nichts aufgedrängt. Ich hab’ ihm von einem Investment erzählt, es hat ihm gefallen, er wollte gern mitmachen.«
»Worum ging es denn?«, fragte ich.
»Ich nehme an, Sie kennen sich mit Geschäften dieser Art nicht so aus. Aber ich hatte viel mit der NAMA zu tun. Das ist die National Asset Management Association, die nach der Pleitewelle von 1998 von der irischen Regierung eingesetzt worden ist, um Firmen zu verwerten, die damals bankrottgegangen sind. Unter anderem gab es da ein Bürogebäude in Dublin, auf das ich ein Auge geworfen hatte. Es sollte zwölf Millionen kosten, und man musste noch vier oder fünf weitere Millionen investieren, aber ich dachte, man könnte es sehr profitabel machen, und als ich Alan davon erzählte, wollte er unbedingt einsteigen. Es gab da eine Zweckgesellschaft, an der er sich beteiligen wollte.«
»Eine Zweckgesellschaft.«
Er ließ sich keinerlei Ungeduld anmerken. »Ja, das ist einfach eine sehr kostengünstige Rechtsform, wenn man sechs oder sieben Leute zusammenbringen will, die Geld in ein Projekt investieren. Aber um’s kurz zu machen: Die Sache ging schief. Wir haben das Gebäude von einem gewissen Jack Dartford gekauft, und der erwies sich als Gauner. Er war ein Lügner und Hochstapler. Einen reizenderen Mann, Susan, kann man sich gar nicht vorstellen. Er hat genau da auf dem Sessel gesessen, wo Sie jetzt sitzen, und die prächtigsten irischen Witze erzählt. Allerdings stellte sich dann heraus, dass die Immobilie ihm gar nicht gehörte. Aber da hatte er sich schon mit einer Anzahlung von vier Millionen Pfund auf die Bahamas oder sonst wohin abgesetzt. Ich lasse immer noch nach ihm suchen, aber ich fürchte, dass man ihn nicht finden wird.«
»Und Alan hat Ihnen die Schuld gegeben?«
White lächelte. »Das kann man wohl sagen. Er war verdammt wütend. Hören Sie! Wir haben alle verloren, und ich hatte ihn gleich gewarnt, dass man bei diesen Dingen nie hundertprozentig sicher sein kann. Aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass ich ihn reingelegt hätte, was völlig daneben war. Er wollte mich verklagen. Er hat mich bedroht! Ich konnte ihn einfach nicht zur Vernunft bringen.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Er hatte sich gerade einen Keks nehmen wollen. Ich sah, wie seine Hand stockte. Gleichzeitig warf er seiner Haushälterin einen Blick zu. Er hatte wahrscheinlich auf der Business School gelernt, dass man beim Pokern keine Miene verziehen darf, aber sie hatte keine solche Schulung gehabt und ich sah, dass sie Angst hatte. Ich wusste, dass jetzt eine Lüge folgen würde. »Ich hatte ihn schon ein paar Wochen nicht gesehen«, sagte er.
»Waren Sie an dem Wochenende hier, als er gestorben ist?«
»Ich glaube schon, ja. Aber er hat keinen Kontakt zu mir aufgenommen, wenn Sie das meinen. Um ehrlich zu sein, haben wir nur noch über unsere Rechtsanwälte kommuniziert. Und ich möchte nicht, dass Sie glauben, unsere Geschäfte hätten etwas mit seinem Tod zu tun. Natürlich hat er einiges Geld verloren. Das haben wir alle. Aber es war nicht so, dass er’s nicht hätte verkraften können. Er brauchte keinen Ausverkauf zu veranstalten. Wenn er sich’s nicht hätte leisten können, hätte ich ihn gar nicht mitmachen lassen.«
Danach bin ich dann recht bald gegangen. Es fiel mir auf, dass mir Elizabeth, die Haushälterin, keine zweite Tasse Kaffee angeboten hatte. Sie standen im Eingang und sahen mir zu, wie ich in meinen MGB kletterte. Und sie sahen mir immer noch zu, als ich die Auffahrt hinunterfuhr.