Es gibt eine gut ausgeschilderte Umgehungsstraße für Ipswich, die ich sehr schätze; denn nach Ipswich bin ich noch nie gern hineingefahren. Es gibt zu viele Läden und zu wenig sonst. Die Leute, die da wohnen, mögen ihre Stadt vielleicht, aber meine Erinnerungen sind nicht besonders. Mit meinem Neffen Jack und meiner Nichte Daisy war ich früher manchmal im Schwimmbad im Ipswich, in den Crown Pools, und ich schwöre, ich kann den Chlorgestank heute noch riechen. In den Parkhäusern konnte ich nie einen Platz finden und musste stundenlang Schlange stehen. Neuerdings haben sie gegenüber vom Bahnhof so ein modernes Einkaufszentrum eröffnet wie in Amerika. Mit einem Dutzend Fast-Food-Restaurants und einem Multiplex-Kino. Ich finde, dass es die Stadt endgültig umbringt – aber ausgerechnet hier war ich mit Richard Locke für die Viertelstunde verabredet, die er für mich Zeit hatte.
Ich war als Erste da. Als es zwanzig nach elf war, war ich zu dem Ergebnis gekommen, dass er sowieso nicht mehr kommen würde. Aber genau in diesem Moment ging die Tür auf und er marschierte herein. Er sah ziemlich ärgerlich aus. Ich erkannte ihn sofort und hob die Hand. Locke war tatsächlich der Mann, den ich bei der Beerdigung neben Claire hatte stehen sehen, aber es war unwahrscheinlich, dass er mich kannte. Er trug einen Anzug, aber keine Krawatte. Es war schließlich sein freier Tag. Er trat an meinen Tisch und setzte sich. Jede Menge massive Muskeln und trainiertes Fleisch ließen den Plastikstuhl fast zusammenbrechen, und mein erster Gedanke war: Von dem möchtest du dich nicht gern verhaften lassen. Ich scheute mich fast, ihm einen Kaffee anzubieten, aber er sagte einfach, dass er lieber Tee wolle. Ich ging zur Theke, um ihn zu besorgen, und weil ich schon dabei war, kaufte ich ihm noch ein Stück Hafergebäck.
»Ich höre, Sie interessieren sich für Alan Conway?«, sagte er.
»Ich war seine Lektorin.«
»Und Claire Jenkins war seine Schwester. Sie hat diese verrückte Idee, dass er umgebracht wurde. Glauben Sie das auch?«
Sein Tonfall war so sachlich, dass man fast schon eine gewisse Wut darin spürte. Genauso in seinem Blick. Seine Augen waren so direkt auf mich gerichtet, als hätte er ein Verhör zu bestreiten. Ich wusste nicht recht, wie ich antworten sollte. Ich wusste nicht mal, wie ich ihn nennen sollte. »Richard« war mit Sicherheit unangebracht. Mr Locke wäre falsch gewesen. »Detective Superintendent« klang sehr nach Fernsehen, aber es blieb mir nichts anderes übrig. »Haben Sie die Leiche gesehen?«, fragte ich.
»Nein. Ich hab’ den Bericht gelesen.« Grimmig brach er ein Stück Keks ab, dachte aber nicht daran, es zu essen. »Zwei Beamte aus Leiston waren am Schauplatz. Ich wurde überhaupt nur deshalb mit der Sache befasst, weil ich Mr Conway gekannt habe. Außerdem war er natürlich berühmt, und die Presse hat sich dafür interessiert.«
»Hat Claire Sie bekannt gemacht?«
»Ja. Sie hat ihn mir vorgestellt, weil er Hilfe brauchte bei seinen Büchern, Miss Ryeland. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Glauben Sie, dass er ermordet wurde?«
»Ich halte es für möglich. Ja.« Er schien mich unterbrechen zu wollen, deshalb sprach ich rasch weiter. Ich erzählte von dem fehlenden Kapitel, das mich ursprünglich nach Suffolk geführt hatte. Ich erwähnte Alans Terminkalender und die Pläne, die er für die Woche nach seinem Tod gemacht hatte. Über die Leute, die ich befragt hatte, sagte ich nichts. Ich wollte sie nicht in die Sache hineinziehen. Aber zum ersten Mal erklärte ich, was mir an dem Abschiedsbrief aufgefallen war. »Nur auf Seite drei redet er vom Sterben. Aber das kann alles Mögliche bedeuten. Schließlich hatte er Krebs. Der Brief sagt nichts darüber, dass er sich umbringen wollte.«
»Aber ist es nicht eigenartig, dass er ihn einen Tag vor seinem Tod abgeschickt hat?«
»Vielleicht war er ja gar nicht derjenige, der ihn geschickt hat. Vielleicht hat jemand den Brief gelesen und die Möglichkeiten erkannt, die er bot. Jemand hat ihn vom Turm heruntergestoßen und dann den Brief abgeschickt. Der Betreffende wusste genau, dass wir die falschen Schlüsse ziehen würden. Gerade wegen des Timings.«
»Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche falschen Schlüsse gezogen habe, Miss Ryeland.« Seine Augen zeigten wenig Sympathie.
Ich ärgerte mich darüber, aber heute muss ich zugeben, dass er durchaus Recht hatte, an meiner Bewertung des Briefes zu zweifeln. Es gab da etwas, das ich als Lektorin unbedingt hätte merken müssen. Aber obwohl ich sie direkt vor Augen hatte, war ich blind für die Wahrheit. »Es gab eine Menge Leute, die Alan nicht leiden konnten – «, sagte ich.
»Es gibt jede Menge Leute, die andere nicht leiden können, aber das heißt noch lange nicht, dass sie irgendwen umbringen.« Er war gekommen, um mir genau das zu sagen, und er hatte nicht die Absicht, sich unterbrechen zu lassen. »Was Leute wie Sie nicht verstehen: Ihre Chancen, in der Lotterie zu gewinnen, sind deutlich größer, als ermordet zu werden. Wissen Sie, wie viele Leute letztes Jahr ermordet wurden? Fünfhundertachtundneunzig – und das bei einer Bevölkerung von sechzig Millionen! Ich sag’ Ihnen mal was, das wird Sie vielleicht amüsieren: Es gibt Gegenden in diesem Land, da liegt die Aufklärungsquote bei über hundert Prozent. Da klärt die Polizei mehr Morde auf, als begangen werden. Und wissen Sie auch, warum? Die Mordrate fällt so schnell, dass sie Zeit haben, sich um die alten Fälle zu kümmern. Sie klären Morde auf, die vor vielen Jahren begangen wurden.«
Er holte tief Luft. »Ich verstehe es nicht. All diese Morde im Fernsehen – man sollte denken, die Leute könnten was Besseres mit ihrer Zeit anfangen. Jeden Abend. Auf allen Kanälen. Die Leute sind total auf Mord fixiert. Und was mich wirklich ärgert: Mit der Realität hat das alles nichts zu tun. Ich habe Mordopfer gesehen. Ich habe Morde untersucht. Ich war hier, als Steve Wright Prostituierte ermordet hat. Den Ipswich Ripper hat ihn die Presse genannt. Die Leute planen so etwas nicht. Sie schleichen sich nicht in die Häuser der Leute, stoßen sie von den Dächern herunter und schicken dann Briefe ab in der Hoffnung, dass sie falsch interpretiert werden. Sie setzen auch keine Perücken auf und verkleiden sich wie bei Agatha Christie. Alle Morde, mit denen ich zu tun hatte, sind deshalb passiert, weil die Täter verrückt, wütend oder betrunken waren. Manchmal alles zusammen. Morde sind abscheulich. Widerwärtig. Es ist nicht so, dass da ein Schauspieler auf dem Rücken liegt mit ein bisschen roter Farbe am Hals. Wenn Sie jemanden sehen, der mit dem Messer abgestochen worden ist, dann wird Ihnen schlecht. Buchstäblich.«
Er brach ein weiteres Stück von seinem Keks ab. »Wissen Sie, warum die Leute sich gegenseitig umbringen? Weil sie den Verstand verlieren. Es gibt nur drei Motive: Sex, Wut und Geld. Sie schlagen jemand den Schädel ein, weil sie sein Geld wollen. Sie streiten sich und ziehen ein Messer oder schneiden einander mit einer abgebrochenen Flasche den Hals auf. Und manche bringen Frauen und Kinder um, weil ihnen dabei einer abgeht. Die Mörder, die ich gesehen habe, waren alle so dumm wie Rattenscheiße. Kein einziger intelligenter Mensch. Und wissen Sie, wie wir sie fangen? Wir stellen ihnen keine schlauen Fragen und finden heraus, dass sie kein Alibi haben. Wir schnappen sie mit Videoüberwachung. Die meisten hinterlassen überall Blut, Haare, Schweiß und Sperma und sonstige DNA-Spuren. Oder sie legen Geständnisse ab. Vielleicht sollten Sie mal die Wahrheit über Mord und Totschlag veröffentlichen. Aber das wollen die Leute dann vielleicht gar nicht lesen.«
Dann kehrte er plötzlich wieder zum Thema zurück. »Ich werd’ Ihnen sagen, was mich an Alan Conway geärgert hat. Ich habe ihm geholfen – nicht, dass er sich dafür bedankt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte. Viel schlimmer war, dass er sich für die Wahrheit gar nicht interessiert hat. Warum sind alle Detektive in seinen Büchern so verdammt dumm? Wissen Sie, dass er mich sogar in eins seiner Bücher eingebaut hat? Raymond Chubb. Das bin ich. Nein, natürlich ist er nicht schwarz. Das hätte er sich dann doch nicht getraut. Aber der Name! Chubb – das ist die Firma mit den Sicherheitsschlössern. Und ich heiße ›Lock‹ – verstehen Sie? Und dann die ganzen Sachen, die er über die Frau in Gin & Zyankali geschrieben hat. Das war meine Frau, die er da bloßgestellt hat. Ich war blöd genug, ihm davon zu erzählen, und er hat’s in sein Buch geschrieben, ohne auch nur mal nachzufragen, ob mir das recht ist.«
Das also war die Quelle des Ärgers. Ich wusste jetzt, dass er an meinem Problem nicht interessiert war und mir nicht helfen würde. Ich konnte ihn fast schon auf meine Liste der Verdächtigen setzen.
»Die Öffentlichkeit hat keine Ahnung, was die Polizei in diesem Land wirklich tut. Und das haben wir Leuten wie Alan Conway und Ihnen zu verdanken«, sagte er abschließend. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Miss Ryeland, aber ich finde es beinahe mitleiderregend, wie Sie aus einem klassischen Selbstmord einen Kriminalfall zu konstruieren versuchen. Conway hatte ein Motiv. Er war krank. Er schrieb einen Brief. Er hatte sich gerade von seinem Partner getrennt. Er war allein. Also entscheidet er sich, und er springt. Wenn ich Ihnen etwas raten darf: Fahren Sie nach London zurück und vergessen Sie es. Vielen Dank für den Tee.«
Er hatte seine Tasse geleert und marschierte hinaus. Das Gebäck hatte er völlig zerkrümelt, ohne auch nur einen Bissen gegessen zu haben.