Cloverleaf Books

Montage habe ich immer gemocht. Donnerstage und Freitage machen mich nervös, aber es hat einen gewissen Charme, wenn man montags die viele Arbeit sieht, die auf einen wartet: die ungeöffneten Briefe, die Fahnen, die gelesen werden wollen, die Post-its von der Presse, von der Rechteabteilung und vom Vertrieb. Man hat das Gefühl, dass man gebraucht wird. Ich hatte mir mein Büro ausgesucht, weil es im hinteren Teil des Gebäudes unter dem Dach lag, wo es schön ruhig war. Eigentlich sollte der Raum einen Kamin haben, aber der war wegen der Luftverschmutzung in London natürlich längst zugemauert worden. Früher hatte ich mir Jemima mit Charles geteilt, aber nachdem sie gekündigt hatte, gab es ja immer noch Tess am Empfang, die alles für mich getan hätte. Als ich an diesem speziellen Morgen ins Büro kam, machte sie mir eine Kanne Tee und gab mir meine Anrufliste: nichts Dringendes. Der Women’s Prize for Fiction wollte mich in der Jury haben. Meine Kinderbuchautorin brauchte Trost. Bei einem Schutzumschlag gab es Produktionsprobleme (ich hatte gleich gesagt, es würde nicht funktionieren).

Charles war nicht in seinem Büro. Seine Tochter Lara hatte wie erwartet vorzeitig Wehen bekommen, und er saß zu Hause bei seiner Frau und wartete auf Nachrichten aus dem Krankenhaus. Außerdem hatte er mir eine E-Mail geschickt. Hoffe, Sie hatten Zeit, über unser Gespräch im Wagen nachzudenken. Ich bin sicher, es wäre eine gute Sache für Sie, und für die Firma natürlich auch. Witzigerweise rief Andreas genau in dem Augenblick an, als ich das las. Ich warf einen Blick auf die Uhr und kam zu dem Ergebnis, dass er seine Schüler wohl für einen Augenblick allein gelassen und sich auf den Flur geschlichen hatte. Er sprach mit sehr gedämpfter Stimme.

»Tut mir leid wegen gestern Abend. Es war dumm von mir, dir alles so vor die Füße zu schmeißen. Die Schule hat gefragt, ob ich’s mir nicht noch mal überlegen wolle, und sogar eine Gehaltserhöhung in Aussicht gestellt. Ich werde das nicht entscheiden, ehe du mir nicht gesagt hast, was du tun möchtest.«

»Danke.«

»Und was ich über Alan Conway gesagt habe, war nicht so gemeint. Natürlich sind seine Bücher wertvoll. Es liegt nur daran, dass ich ihn gekannt habe und …« Seine Stimme verlor sich. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er den Korridor hinauf- und hinunterschaute wie ein Schuljunge, der fürchten muss, dass er beim Schwänzen erwischt wird.

»Lass uns später darüber reden«, sagte ich.

»Heute ist Elternabend«, sagte er. »Lass uns morgen Abend essen gehen.«

»Ja, das würde mir gut gefallen.«

»Ich ruf dich an.« Damit legte er auf.

Ganz unerwartet und ohne es zu wollen, war ich an eine Weggabelung meines Lebens gekommen. Ich konnte Verlagsleiterin von Cloverleaf Books werden. Es gab Autoren, mit denen ich arbeiten wollte, es gab Ideen, die Charles immer abgelehnt hatte. Wie ich Andreas gesagt hatte: Ich könnte dem Verlag eine ganz andere Richtung geben.

Oder ich konnte nach Kreta gehen.

Die Möglichkeiten waren so verschieden, die Richtungen so gegensätzlich, dass ich beinahe laut gelacht hätte, als ich sie zu vergleichen versuchte. Ich war wie der kleine Junge, der nicht wusste, ob er lieber Gehirnchirurg oder Lokomotivführer werden wollte. Es war wirklich frustrierend. Warum passiert immer alles gleichzeitig?

Ich sah meine Post durch. Da war ein Brief an Susan Ryland, den ich am liebsten gleich in den Papierkorb geschmissen hätte. Ich hasse es, wenn die Leute meinen Namen falsch schreiben – wo es doch heutzutage so einfach ist, so etwas zu überprüfen. Es gab ein paar Einladungen und ein paar Rechnungen – das Übliche halt. Ganz unten lag ein dicker brauner Umschlag im DIN-A4-Format, der offensichtlich ein Manuskript enthielt. Das war ungewöhnlich. Ich lese grundsätzlich keine unangeforderten Manuskripte. Das tut eigentlich niemand mehr. Aber mein Name stand nun mal (korrekt buchstabiert) auf dem Umschlag. Also riss ich ihn auf und warf einen Blick auf den Titel: Der Tod betritt die Bühne von Donald Leigh.

Ich brauchte eine Sekunde, um mich daran zu erinnern, dass es sich wohl um das Manuskript des Kellners vom Ivy Club handelte, der die Teller hatte fallen lassen, als er Alan Conway gesehen hatte. Er hatte behauptet, dass Conway seine Idee gestohlen hatte. Der Titel seines Romans gefiel mir immer noch nicht. Und der erste Satz (»Es hatten schon Hunderte von Morden im Pavilion Theatre in Brighton stattgefunden, aber das war der erste echte.«) riss mich auch nicht vom Hocker. Hübsche Idee, aber viel zu direkt. Aber ich hatte Leigh versprochen, dass ich sein Manuskript lesen würde. Also konnte ich auch gleich damit anfangen, ehe mein Tee kalt wurde.

Natürlich überflog ich die Seiten nur. Ob ein Buch etwas taugt, weiß ich in der Regel schon nach drei Absätzen, aber wenn ich die Handlung in der Konferenz referieren muss, bleibt mir natürlich nichts anderes übrig, als bis zum Ende durchzuhalten. Ich brauchte drei Stunden. Dann zog ich ein Exemplar von Alan Conways Roman heraus, den wir veröffentlicht hatten. Vor allem das letzte Kapitel Curtain Call mit der Auflösung sah ich mir noch einmal genau an.

Es endete, wo es begonnen hatte: im Theater in Fawley Park. James Fraser wusste, dass es so kommen musste. Er hatte seine Karriere als Schauspieler aufgegeben, und sein erster Fall als Assistent von Atticus Pünd hatte ihn wieder zurück ins Theater geführt. Das Gebäude sah noch schäbiger aus als bei seinem ersten Besuch: Die Bühne war leer, und die meisten Stühle im Zuschauerraum standen zusammengeklappt an der Wand. Die roten Samtvorhänge waren beiseitegezogen, sie hatten nichts zu verbergen und hingen müde an ihren Drähten. Die Bühne selbst, auf der früher vor gelangweilten Schülern meist Agamemnon und Antigone inszeniert worden waren, erschien wie ein gähnendes Maul.

Nun, der Direktor würde gar nichts mehr inszenieren. Elliot Tweed war genau hier gestorben, als ihm jemand während der alljährlichen Theateraufführung ein Skalpell in die Kehle gestoßen und die Halsschlagader durchtrennt hatte. Fraser konnte es nicht begreifen. Was musste das für ein Mensch sein, der in einem Saal voller Kinder einen solchen blutigen Mord beging? Während der Tat hatten über hundert kleine Jungen mit ihren Eltern im Saal gesessen, die das schreckliche Ereignis ihr Leben lang nicht vergessen würden.

Für Pünd war das Theater genau richtig. Er hatte zwei Sitzreihen für sein Publikum aufstellen lassen. Er stand vor der Bühne und stützte sich auf seinen Rosenholzstock, aber er hätte genauso gut auf der Bühne selbst stehen können. Dies war sein großer Auftritt, der Höhepunkt des Dramas, das vor drei Wochen begonnen hatte, als ein verängstigter Mann in seinem Büro im Tanner Court erschienen war und von den beiden Todesfällen in seiner Schule erzählt hatte. Die Scheinwerfer waren nicht eingeschaltet, verneigten sich aber doch vor dem Detektiv. Die Eingeladenen waren alle verdächtig, aber sie waren zugleich auch das Publikum. Detective Inspector Ridgeway, der neben ihm stand, spielte ganz offensichtlich nur eine Nebenrolle. 

Fraser warf einen Blick auf das Lehrerkollegium, das sich zu versammeln begann. Als Erster war Leonard Graveney eingetroffen und hatte in der ersten Reihe Platz genommen. Seine Krücke lehnte ungeschickt an der Rückenlehne seines Stuhls. Sein Beinstumpf ragte vom Sitz, als ob er allen anderen den Weg damit versperren wollte. Neben ihm saß Dennis Cocker, der Geschichtslehrer, aber Fraser war aufgefallen, dass sie kein Wort miteinander gewechselt hatten. Beide waren an der letzten, tragischen Aufführung des Stücks beteiligt gewesen. Graveney war der Autor von Rache ist bitter, Cocker der Regisseur. Die Hauptrolle hatte Sebastian Fleet gespielt. Der Einundzwanzigjährige war der jüngste Lehrer in Fawley Park. Er war lässig hereingeschlendert und hatte der Hausmutter zugezwinkert, die ärgerlich den Kopf weggedreht hatte. Lydia Gwendraeth saß aufrecht in der zweiten Reihe, als hätte sie einen Stock verschluckt, die Hände im Schoß gefaltet. Ihr gestärktes weißes Schwesternhäubchen sah aus, als wäre es am Kopf festgeklebt.

Fraser glaubte noch immer, dass Lydia Gwendraeth die Täterin war. Sie hatte jedenfalls ein starkes Motiv. Elliot Tweed hatte sie scheußlich behandelt, und dank ihrer medizinischen Ausbildung hätte sie auch genau gewusst, wo sie das Messer ansetzen musste. War sie an jenem Abend durch die Reihen gelaufen und hatte sich für die Demütigung gerächt, die sie von Tweed erfahren hatte? Ihre Augen verrieten nichts.

Drei weitere Angestellte der Schule kamen herein – Harold Trent, Elizabeth Colne und Douglas Wye. Schließlich traf auch noch der Gärtner ein. Garry hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und machte ein böses Gesicht. Er hatte offenbar keine Ahnung, weshalb er hier erscheinen musste.

»Die Frage, die wir uns stellen müssen«, begann Pünd, »ist nicht, warum Elliot Tweed umgebracht wurde. Als Direktor von Fawley Park hatte er mehr als genug Feinde. Die Schüler fürchteten ihn, weil er sie beim kleinsten Anlass gnadenlos züchtigte. Er versuchte gar nicht zu verbergen, dass ihre Schmerzen ihm Lust bereiteten. Seine Frau wollte sich von ihm scheiden lassen. Das Lehrerkollegium, dessen Mitglieder in den meisten Dingen verschiedener Ansicht waren, war sich in einem Punkt einig: Sie hassten ihn alle. Nein« – und an dieser Stelle warf Pünd einen prüfenden Blick auf die Versammelten –, »was wir uns fragen müssen, ist etwas anderes. Warum wurde er so öffentlich umgebracht? Der Mörder erscheint aus dem Nichts, läuft den Mittelgang der Halle herunter und stößt ihm beiläufig das aus dem Biologiesaal entwendete Skalpell in den Hals. Natürlich war es dunkel, und die Augen der Zuschauer waren fest auf die Bühne gerichtet. Es war der spannendste Moment des Theaterstücks: Auf der Bühne breitet sich Nebel und flackerndes Licht aus, und aus dem Schatten tritt die Gestalt des verwundeten Soldaten, den Mr Fleet verkörpert.

Dennoch besteht ein großes Risiko für den Täter. Jemand könnte sehen, woher er kommt und wohin er verschwindet. Eine Schule wie Fawley Park bietet wesentlich einfachere Möglichkeiten für einen Mord. Es gibt einen Stundenplan. Man weiß schon lange im Voraus, wo jeder sein wird. Das ist sehr bequem für einen Mörder, der alles so planen kann, dass er mit seinem Opfer allein ist.

Stattdessen führen die Dunkelheit und die Geschwindigkeit, mit der das Verbrechen ausgeführt werden muss, zur Katastrophe! Inspektor Ridgeway hat angenommen, dass der stellvertretende Direktor, Mr Moriston, der neben dem Opfer saß, etwas wahrgenommen hat und deshalb später umgebracht wurde, damit er nichts verraten konnte. Sogar eine Erpressung schien nicht ausgeschlossen, da in seinem Spind ein großer Geldbetrag gefunden wurde. Heute wissen wir, dass Mr Moriston und der Direktor kurz nach Beginn der Vorstellung die Plätze getauscht hatten, weil Mr Tweed einen halben Kopf kleiner war als sein Stellvertreter. Da vor ihm eine Dame Platz genommen hatte, die einen Hut aufhatte, konnte er nichts sehen. Das wurde ihm zum Verhängnis: Er nahm den Platz von Mr Moriston ein und wurde ermordet. Ein Zufall; denn das eigentliche Ziel des Angriffs war Mr Moriston.

Was allerdings ziemlich erstaunlich ist, denn Mr Moriston war sehr beliebt. Er hat Miss Gwendraeth oft in Schutz genommen. Er hat Mr Garry eingestellt, obwohl er wusste, dass er vorbestraft war. Außerdem hat er den Selbstmord eines Schülers verhindert. Es ist schwer, in der Schule jemanden zu finden, der etwas Negatives über John Moriston sagen würde. Es gibt allerdings eine Ausnahme – « Pünd wandte sich dem Mathematiklehrer zu, brauchte aber seinen Namen gar nicht zu nennen. Alle wussten genau, wen er meinte.

»Sie wollen ja wohl nicht behaupten, dass ich hier mit einem Messer herumgerannt bin!«, bellte Leonard Graveney. Aber gleichzeitig lächelte er.

»Natürlich haben Sie den Direktor nicht umgebracht, Mr Graveney. Das wäre Ihnen schon deshalb nicht möglich gewesen, weil Sie ein Bein verloren haben im Krieg – «

»Als wir gegen Ihre Landsleute kämpfen mussten!«

»Und jetzt haben Sie eine Prothese. Sie hätten nicht durch den Saal rennen können. Das ist die schmerzliche Wahrheit. Sie werden allerdings zugeben müssen, dass es eine erhebliche Feindseligkeit zwischen Ihnen und Mr Moriston gab.«

»Er war ein Lügner und Feigling.«

»Er war im Krieg Ihr Vorgesetzter, als Sie 1941 in der Libyschen Wüste gekämpft haben. Er war Ihr kommandierender Offizier in der Schlacht von Sidi Rezegh, in der Sie Ihr Bein verloren haben.«

»Ich habe mehr als das verloren, Mr Pünd. Sechs Monate lang war ich im Lazarett, unter ständigen Schmerzen. Ich habe viele meiner Freunde verloren, von denen jeder einzelne zehnmal besser war, als der verdammte Major Moriston je hätte sein können. Ich hab’ Ihnen das alles erzählt. Er hat uns die falschen Befehle gegeben. Er hat uns in diese Hölle geschickt und uns dann im Stich gelassen. Wir sind in Stücke geschossen worden, und er war nicht mal in der Nähe.«

»Es hat eine Kriegsgerichtsverhandlung gegeben.«

»Es hat eine Untersuchung gegeben, und das erst nach dem Krieg.« Graveney verzog das Gesicht, als er das Wort »Untersuchung« aussprach. »Major Moriston hat behauptet, wir hätten auf eigene Initiative gehandelt, als wir den Flugplatz besetzten. Er habe alles getan, um uns heil zurückzuholen. Am Ende stand mein Wort gegen seins. Es war natürlich sehr praktisch für ihn, dass alle anderen Zeugen von Rommels Granaten zerfetzt worden waren.« 

»Es muss ein großer Schock für Sie gewesen sein, als er Ihnen hier als Kollege und stellvertretender Direktor vor die Nase gesetzt wurde.«

»Ich fand es zum Kotzen. Vor allem, weil alle Leute so begeistert von ihm waren. Er galt als Kriegsheld, er war die Vaterfigur und jedermanns bester Freund. Ich war der Einzige, der ihn durchschaute – und ich hätte ihn liebend gern umgebracht. Das gebe ich zu. Ich war durchaus in Versuchung.«

»Warum sind Sie denn hier geblieben?«

Graveney zuckte die Achseln. Fraser fand, dass er erschöpft und zutiefst deprimiert aussah: Seine Schultern hingen genauso herab wie sein Schnurrbart. »Wo hätte ich hinsollen? Tweed hatte mir den Job ja nur deshalb gegeben, weil ich Gemma geheiratet hatte. Was glauben Sie, wie ich als Krüppel ohne besondere Ausbildung sonst meinen Unterhalt hätte verdienen können? Ich bin geblieben, weil ich musste, und ging Moriston aus dem Weg, so gut ich konnte.«

»Und als er dann seinen Orden erhielt? Den CBE

»Das war mir egal. Man kann jedem Feigling und Lügner ein Stück Blech an die Brust heften. Davon wird er kein besserer Mensch.«

Pünd nickte, als wäre das genau die Antwort, die er erwartet hatte. »Und damit sind wir beim entscheidenden Widerspruch in diesem Fall«, sagte er. »Der einzige Mensch mit einem Motiv, John Moriston umzubringen, war zugleich derjenige, der die Tat rein körperlich mit Sicherheit nicht begangen haben konnte.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Es sei denn, dass es noch eine zweite Person gab, die ebenfalls ein Motiv hatte, vielleicht sogar ein ganz ähnliches. Eine Person, die eigens an die Schule gekommen war, um an John Moriston Rache zu nehmen – «

An dieser Stelle merkte Sebastian Fleet, dass ihn der Detektiv direkt ansah. Er richtete sich auf und seine Wangen röteten sich. »Was wollen Sie damit sagen, Mr Pünd? Ich war nicht in Sidi Rezegh. Ich war damals zehn Jahre alt, ein bisschen zu jung für den Krieg.«

»Das trifft zu, Mr Fleet. Trotzdem ist mir gleich aufgefallen, dass Sie ein wenig überqualifiziert für Ihren Job hier an der Schule waren. Sie sind jung und talentiert. Sie haben ein Prädikatsexamen aus Oxford. Warum haben Sie sich hier in der Provinz in einer Schule für kleine Jungen versteckt?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich arbeite an einem Roman.«

»Dieser Roman ist Ihnen sehr wichtig. Trotzdem haben Sie die Arbeit unterbrochen, um das Stück für die alljährliche Schulaufführung zu schreiben.«

»Man hat mich darum gebeten. Jedes Jahr führen die Lehrer ein Stück auf, das von den Lehrern selbst inszeniert wird. Das ist eine Tradition dieser Schule.«

»Und wer hat Sie gebeten, ein neues Stück dafür zu schreiben?«

Fleet zögerte, als wisse er nicht recht, ob er das beantworten solle: »Das war Mr Graveney«, sagte er schließlich.

Pünd nickte, und Fraser merkte, dass er die Antwort ohnehin schon gekannt hatte. »Sie haben das Stück Ihrem Vater gewidmet«, sagte Pünd. »Sie haben gesagt, er sei vor kurzem gestorben.«

»Vor einem Jahr.«

»Als ich in Ihrem Zimmer war, habe ich aber kein Foto von ihm gesehen. Ihre Mutter war dabei, als Sie Ihr Studium aufgenommen haben. Ihr Vater war nicht da. Auch bei Ihrer Examensfeier in Oxford war er nicht dabei.«

»Er war krank.«

»Nein, Mr Fleet. Er war nicht mehr am Leben. Glauben Sie, es wäre mir nicht ein Leichtes gewesen, das herauszufinden? Sergeant Michael Fleet vom 60th Field Regiment der Royal Artillery ist am 21. November 1941 in der Libyschen Wüste gefallen. Wollen Sie behaupten, er sei nicht mit Ihnen verwandt gewesen und es sei nur ein Zufall gewesen, der Sie an diese Schule geführt hat? Sie und Mr Graveney haben sich bei einem Treffen in den Räumlichkeiten der Honourable Artillery Company in London kennengelernt. Er hat Sie nach Fawley Park eingeladen. Sie hatten beide gute Gründe, Edward Moriston zu hassen. Genauer gesagt: Es war ein und derselbe Grund.«

Weder Fleet noch Graveney sagten etwas, und so blieb es der Hausmutter überlassen, das Schweigen zu brechen: »Wollen Sie damit sagen, dass sie es zusammen getan haben?«

»Ich behaupte sogar, dass sie Wenn die Nacht kommt gemeinsam entworfen, geschrieben und inszeniert haben, um einen Mord zu begehen. Sie wollten Rache nehmen für das, was in Sidi Rezegh geschehen war. Mr Graveney hatte die Idee, und Mr Fleet hat sie umgesetzt.«

»Sie reden Unsinn«, zischte Fleet. »Ich war auf der Bühne, als der Täter durch den Saal lief. Jeder konnte mich sehen.«

»Nein. Es war zwar alles so arrangiert, dass der Eindruck entstand, Sie stünden da auf der Bühne, aber das war nicht der Fall.« Pünd stand auf und benutzte seinen Stock, um sich aufzurichten. »Der Geist erscheint im Hintergrund der Bühne. Es ist dunkel. Die Bühne ist voller Rauch. Der Geist trägt die Uniform eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Er hat einen ähnlichen Bart wie Mr Graveney. Sein Gesicht ist voller Blut. Er hat einen Verband um den Kopf. Er braucht nicht viel zu sagen, sondern stammelt nur: ›Agnes!‹ Der Autor hat ja die Möglichkeit, alles so zu arrangieren, wie er es braucht. Die vom Senfgas angegriffene Stimme ist so entstellt, dass man sie nicht erkennen kann. Und es ist auch nicht Mr Fleet, der da auf der Bühne steht.

Mr Graveney, der Regisseur, hat in der Kulisse gewartet, und wie verabredet übernimmt er in dieser einen, kurzen Szene die Rolle von Mr Fleet. Er zieht dessen Trenchcoat an, setzt den Verband auf und beschmiert sich das Gesicht mit Blut. Langsam tritt er auf die Bühne. Die Tatsache, dass er hinkt, fällt bei der kurzen Strecke kaum auf, und außerdem spielt er ja einen verletzten Soldaten. Gleichzeitig hat Mr Fleet seinen falschen Bart abgenommen. Er zieht die Mütze und die Jacke an, die später im Brunnen gefunden werden. Er rennt durch den Saal, ersticht den Mann auf dem Sitz E 23 und rennt weiter. Woher soll er wissen, dass Mr Tweed und Mr Moriston den Platz getauscht haben und der falsche Mann stirbt?

Es geht alles sehr schnell. Mr Fleet verlässt den Saal durch den Hauptausgang, wirft Jacke und Mütze weg und läuft dann außen an der Halle entlang zum Bühneneingang. Dort tauscht er wieder seinen Platz mit Mr Graveney, der gerade von der Bühne gekommen ist. Das Publikum ist mittlerweile in Aufruhr. Alle Blicke sind auf den Toten gerichtet. Niemand achtet darauf, was in den Kulissen geschieht. Natürlich sind die beiden Verschwörer entsetzt, als sie die Verwechslung bemerken. Sie haben versehentlich den völlig unbeteiligten Mr Tweed umgebracht. Aber die Mörder sind kaltblütig und schlau. Sie legen eine falsche Spur, die den Verdacht erweckt, dass Mr Moriston ein Erpresser war. Und zwei Tage später vergiften sie ihn mit Schierling, den sie aus demselben Biologielabor gestohlen haben, aus dem das Skalpell stammte. Der erste Verdacht fällt auf die Biologielehrerin, und das eigentliche Motiv bleibt vollkommen im Dunkeln.«

Das also war der Höhepunkt von Conways fünftem Roman, Rache ist bitter. Und das 21. Kapitel in Donald Leighs Roman Der Tod betritt die Bühne war leider wirklich sehr ähnlich, das musste ich zugeben. Die Überschrift war: Der letzte Akt.

Im Theater war es sehr dunkel. Das blasse Tageslicht wurde zusehends schwächer, und über den schweren Himmel zogen bedrohliche, hässliche Wolken dahin. In sechs Stunden ging das Jahr 1920 zu Ende, und 1921 würde beginnen. Aber Detective Superintendent MacKinnon war jetzt schon zum Feiern zu Mute. Er hatte alles ausgetüftelt. Er wusste, wer den Mord begangen hatte, und in wenigen Minuten würde er den Täter stellen und mit der gleichen Kaltblütigkeit festnageln, mit der ein Wissenschaftler einen seltenen Schmetterling aufspießt.

Sergeant Browne musterte die Verdächtigen, die sie versammelt hatten, und fragte sich zum tausendsten Mal, welcher von ihnen den Geschichtslehrer Ewan Jones an jenem denkwürdigen Abend umgebracht hatte. Wer war es gewesen?

Sie saßen in dem verlassenen Zuschauersaal, wirkten sehr unbehaglich und taten ihr Bestes, sich gegenseitig nicht anzusehen. Henry Baker, der Regisseur, strich seinen Schnauzbart – wie immer, wenn er nervös war. Der Verfasser des Stücks, Charles Hawkins, rauchte eine Zigarette. Wie immer zeigten seine Knubbelfinger Tintenflecke. War es bloß ein Zufall, dass er in Ypern schwer verwundet worden war – genau wie das zweite Opfer, der Theaterleiter Alastair Short, der ein paar Tage später an einer rätselhaften Arsenvergiftung gestorben war? Gab es da eine Verbindung? Im Nachttisch von Alastair Short hatte man zweihundert Pfund in bar gefunden, und es sah sehr danach aus, als ob er ein Erpresser gewesen war. Wo hätte er das Geld sonst herhaben sollen? Es war wirklich eine Schande, dass man ihn nicht mehr verhören konnte.

Wer hatte den schrecklichen Mord begangen? Browne hielt es noch immer für denkbar, dass Lila Blaire die Täterin war. Er erinnerte sich noch sehr genau, wie sie sich auf Short gestürzt und ihn beschuldigt hatte, er habe ihre Karriere zerstört. »Ich hasse Sie!«, hatte sie geschrien. »Ich wünschte, Sie wären tot!« Und siebzig Minuten später war Short tatsächlich tot gewesen, genau wie sie es sich gewünscht hatte. Und was war mit Iain Lithgow? Der lächelnde, gutaussehende junge Schauspieler war zu jung, um in Ypern gekämpft zu haben. Aber er hatte Spielschulden, und Leute, die verzweifelt Geld brauchen, tun oft verzweifelte Dinge. Browne wartete darauf, dass sein Chef sich gesammelt hatte.

Und jetzt kam der große Moment. Als sich MacKinnon erhob, hörte man das dumpfe Grollen des Donners in der drückenden Luft. Das neue Jahr begann mit einem schweren Wintergewitter. Die Versammelten verstummten und hoben die Köpfe, als MacKinnon sein Monokel zurechtrückte und dann zu sprechen begann.

»Am Abend des 20. Dezember«, begann er, »wurde hier im Roxberry Theater während einer Aufführung von Aladdin ein Verbrechen begangen. Aber es war der falsche Mord! Eigentlich sollte Alastair Short umgebracht werden, aber der Täter erwischte den Falschen, weil Mr Short und Mr Jones in letzter Minute die Plätze getauscht hatten.«

MacKinnon machte eine Pause und musterte die Verdächtigen, die angespannt zuhörten. »Aber wer war der Mörder, der von der Bühne kam und Jones das Messer in die Kehle stieß?«, fragte er. »Es gab zwei Leute, die es nicht gewesen sein konnten. Charles Hawkins konnte nicht durch den Zuschauerraum laufen; denn er hat nur ein Bein. Und Nigel Smith stand zu der Zeit auf der Bühne und konnte von allen gesehen werden. Er konnte es auch nicht gewesen sein. Das zumindest war das, was jedermann glaubte und was ich zunächst auch geglaubt habe.«

Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Conway die Idee aus dem Manuskript von Donald Leigh gestohlen hatte. Er hatte die Handlung vom Anfang der zwanziger Jahre ans Ende der vierziger Jahre und den Schauplatz von einer Provinzbühne in ein Internat verlegt, das an Chorley Hall erinnerte. Elliot Tweed ist ein kaum verfremdetes Porträt seines Vaters Elias Conway. Übrigens, alle Lehrer dort sind nach britischen Flüssen genannt. Der Name des Detektivs, Inspektor Ridgeway, könnte von Agatha Christies Tod auf dem Nil geborgt sein. Die Handlung ist dieselbe: Ein Offizier lässt seine Soldaten im Stich, und nach dem Krieg nimmt der einzige Überlebende Rache, zusammen mit dem Sohn eines gefallenen Kameraden. Der Trick besteht darin, dass sie während einer Theateraufführung die Plätze tauschen. Detective Superintendent Locke hätte die Geschichte vermutlich ein wenig unwahrscheinlich gefunden, aber in der Welt der Kriminalliteratur funktionierte sie wunderbar.

Nachdem ich die beiden Geschichten verglichen hatte, rief ich die Arvon Foundation an, von der ich annahm, dass sie den Schreibkurs durchgeführt hatte, an dem Leigh teilgenommen hatte. Es musste auf dem Gut Totleigh Barton in Devon gewesen sein. Ein zauberhafter Ort, übrigens. Ich bin selbst schon mal da gewesen. Normalerweise hätte ich es für äußerst unwahrscheinlich gehalten, dass einer der Dozenten einem Kursteilnehmer seine Idee klaut, aber das war offenbar genau das, was passiert war. Donald Leigh tat mir leid. Er konnte offensichtlich nicht schreiben. Seine Sätze waren hölzern und hatten keinen Rhythmus. Er benutzte zu viele Adjektive, und seine Dialoge waren nicht überzeugend. In der Beziehung hatte Conway Recht gehabt. Trotzdem hatte Leigh nicht verdient, dass man ihn so behandelte. Hätte er irgendetwas dagegen tun können? Er hatte mir gesagt, er habe an Charles geschrieben, ohne dass eine Antwort kam. Das war nicht überraschend. Verlage kriegen dauernd irgendwelche verrückten Briefe. Wahrscheinlich hatte Jemima den Brief kurz überflogen und in den Papierkorb geworfen. Die Polizei hätte sich schon gar nicht dafür interessiert. Conway hätte den Spieß einfach umdrehen und behaupten können, Leigh habe seine Idee nachzuahmen versucht.

Was hätte Leigh sonst noch tun können? Nun, das Einfachste wäre natürlich gewesen, sich Conways Adresse herauszusuchen, nach Framlingham hinauszufahren, Conway von seinem albernen Turm hinunterzustoßen und vielleicht noch das Schlusskapitel seines neuen Romans zu zerreißen. Dafür hätte ich sogar ein gewisses Verständnis gehabt.

Ich hatte den halben Vormittag mit der Lektüre verbracht, und es war fast schon Zeit, um mit Lucy zum Lunch zu gehen. Ich wollte über James Taylor und die Atticus-Abenteuer mit ihr reden. Es war schon halb eins, und ich überlegte, ob ich nicht eine schnelle Zigarette auf dem Bürgersteig vor der Tür rauchen sollte, da fiel mir der Brief mit dem falsch geschriebenen Namen wieder ein. Ich suchte ihn heraus und riss ihn ärgerlich auf.

Es war gar kein Brief. Im Inneren des grünlichen Umschlags war bloß ein Foto. Kein Brief, kein Zettel, kein Absender. Ich griff noch mal nach dem Umschlag. Abgestempelt worden war er in Ipswich.

Das Foto war etwas unscharf. Ich hatte den Eindruck, dass es mit einem Smartphone gemacht worden war. Der Ausdruck stammte wahrscheinlich aus einem dieser automatischen Snappy-Snaps-Läden, die man jetzt überall findet. Man kann sich direkt in den Drucker einloggen, und wenn man bar bezahlt, bleibt man komplett anonym. Es würde sehr schwer sein, die Person zu finden, die das Foto gemacht hatte.

Was es darstellte, war hingegen glasklar: Es zeigte John White, der gerade dabei war, Alan Conway zu töten.

Die beiden Männer standen auf der Aussichtsplattform des Turms. Conway stand mit dem Rücken zur Brüstung, hatte aber das Gleichgewicht schon verloren. Er trug dieselben Kleider – die lose Jacke und das schwarze Hemd – in denen man ihn gefunden hatte. White hatte ihn an den Schultern gepackt. Noch ein kleiner Stoß, dann war es vorbei.

Das war’s dann also. Der Fall war gelöst. Ich rief in der Rechteabteilung an und sagte das Mittagessen mit Lucy ab. Dann fing ich an nachzudenken.