Detektivarbeit

Über Detektive zu lesen, ist eine Sache, Detektiv sein zu wollen, ist eine ganz andere.

Ich habe Kriminalromane immer geliebt. Ich habe sie nicht nur redigiert. Ich habe sie aus Freude gelesen, genauer gesagt: Ich hab’ sie verschlungen. Sie kennen ja bestimmt das Gefühl, wenn es draußen regnet, und man sich in der warmen Stube völlig in einem Buch verliert. Man liest und liest, die Seiten fliegen dahin, und plötzlich hat man in der rechten Hand viel weniger als in der linken. Man möchte langsamer lesen, aber es geht nicht: Man rast dem Ende entgegen, weil man wissen will, wie es ausgeht. Das liegt unter anderem daran, dass der Detektiv unter allen Figuren ein besonderes Verhältnis zum Leser hat.

In Kriminalromanen geht es um Wahrheit, nichts als die Wahrheit. In einer Welt voller Unsicherheit ist es sehr befriedigend, wenn auf der letzten Seite endlich alle Rätsel gelöst sind. Fast jeder Kriminalroman verschafft uns diese Befriedigung. Das ist der Grund, weshalb es sie gibt. Und das war auch der Grund, warum die Morde von Pye Hall so ärgerlich waren.

In fast allen anderen Arten von Romanen jagen wir hinter den Helden, den Abenteurern, Spionen, Soldaten, Romantikern und ihren Taten her. Mit den Detektiven sind wir gleichauf. Von Anfang an haben wir dasselbe Ziel – und es ist eigentlich ziemlich einfach: Wir wollen wissen, was wirklich passiert ist. Ums Geld geht es dabei weder dem Detektiv noch dem Leser. Sherlock Holmes wird kaum je bezahlt, und obwohl es ihm durchaus gut geht, stellt er wohl nie jemand eine Rechnung. Natürlich sind die Detektive klüger als wir. Das erwarten wir von ihnen. Aber das heißt nicht, dass sie vorbildhaft wären. Holmes leidet an Depressionen, Poirot ist eitel. Miss Marple ist exzentrisch und ruppig. Sie brauchen auch nicht gut auszusehen. Denken Sie nur an Nero Wolfe, der so fett war, dass er einen speziellen Stuhl brauchte und sein Haus in New York nicht verlassen konnte. Father Brown hatte ein Gesicht, das so rund und langweilig war wie ein Norfolk-Knödel, und seine Augen waren so leer wie die Nordsee. Lord Peter Wimsey hat zwar Eton und Oxford besucht, ist aber so dürr wie eine Bohnenstange und trägt ein Monokel. Bulldog Drummond war von jener freundlichen Hässlichkeit, die sofort Vertrauen einflößt, wie H. C. McNeile so treffend geschrieben hat. Wir müssen unsere Detektive nicht lieben oder bewundern. Wir halten uns allein deshalb an sie, weil wir ihnen etwas zutrauen.

In dieser Hinsicht muss ich wohl zugeben, dass ich keine besonders gute Wahl als Erzählerin und Ermittlerin bin. Mir fehlt nicht nur jegliche Qualifikation, sondern auch ein Biograf wie der treffliche Watson. Ich muss alles selbst aufschreiben, und da wird dann sehr sichtbar, dass ich völlig im Dunkeln tappte, bis mir das Foto von Conway und White in die Hände fiel. Ich hatte insgeheim selbst schon Zweifel daran gehabt, ob es überhaupt einen Mord gegeben hatte. Das Problem bestand darin, dass es kein Muster gab. Das Rätsel, das ich zu lösen versuchte, hatte keine klare Kontur. Wenn Alan Conway das Verbrechen beschrieben hätte, das zu seinem Tod geführt hatte, hätte es bestimmt jede Menge Spuren und Zeichen gegeben, die mir den Weg gewiesen hätten. In den Morden von Pye Hall gab es den Abdruck einer Hand in der feuchten Erde, ein Hundehalsband im Schlafzimmer, im Kamin einen Papierfetzen, einen Armeerevolver im Schreibtisch, den getippten Drohbrief im handgeschriebenen Umschlag. Ich wusste zwar blöderweise nicht, wie das alles zusammenpasste, aber dass diese Dinge etwas zu bedeuten hatten, war schon deshalb klar, weil sie erwähnt worden waren. Als Detektiv in der wirklichen Welt musste ich diese Dinge selbst finden, und offensichtlich hatte ich mich auf völlig falsche Sachen gestürzt. Natürlich gab es Conways handgeschriebenen Abschiedsbrief in einem getippten Umschlag. Aber was bedeutete das? War ihm die Tinte ausgegangen? Hatte er den Brief geschrieben, aber jemand anderes hatte den Umschlag beschriftet? Sherlock Holmes hätte das alles gewusst, auch wenn er es nicht gleich verraten hätte. Ich wusste gar nichts.

Außerdem war da immer noch das Dinner im Ivy Club. Es ging mir einfach nicht aus dem Sinn. Conway hatte sich geärgert, als Charles gesagt hatte, er solle den Titel des neuen Romans ändern. Mathew Prichard, der am Nachbartisch saß, hatte gehört, wie er auf den Tisch schlug, den Zeigefinger ausstreckte und sagte: Die will ich nicht. Was wollte er nicht? Dass der Titel geändert wurde? Die Diskussion darüber? Den Nachtisch? Selbst Charles hatte nicht gewusst, was er meinte.

Ach, ich kann es auch ganz direkt sagen: Ich glaubte einfach nicht, dass John White Alan Conway ermordet hatte, obwohl ich ein Foto hatte, dass genau das zu beweisen schien. Es war genau wie dieser Abschiedsbrief, in dem gar nicht von Selbstmord die Rede war. Allerdings hatte ich nicht einmal den Ansatz einer Erklärung für das Foto. Ich glaubte bloß nicht, was es zu zeigen schien. Ich hatte White kennengelernt, und er hatte kein bisschen gewalttätig auf mich gewirkt. Und einen Grund, Conway umzubringen, hatte er auch nicht. Wenn schon, dann eher umgekehrt.

Wer hatte mir das Foto überhaupt geschickt? Und warum hatte der oder die Betreffende es mir geschickt und nicht etwa der Polizei. Es war am Tag der Beerdigung abgeschickt worden, und der Stempel besagte Ipswich. Wie viele Leute bei der Beerdigung wussten, dass ich bei Cloverleaf arbeitete? Mein Name auf dem Umschlag war falsch geschrieben. War das ein echter Fehler oder wollte nur jemand so tun, als ob mein Name ihm fremd wäre?

Ich saß allein in meinem Büro – alle anderen waren vermutlich zum Essen gegangen – und stellte mal wieder eine Liste von Verdächtigen auf. Gleich auf Anhieb fielen mir fünf Leute ein, die viel bessere Gründe für den Mord an Alan Conway hatten als John White.

1. James Taylor, der Lebensgefährte

Ich mochte James zwar sehr gern, aber er war derjenige, der am meisten von Conways Tod profitierte. Er wäre einige Millionen Pfund ärmer gewesen, wenn Conway noch vierundzwanzig Stunden länger gelebt hätte. Er wusste, dass Conway im Haus war. Und weil das Wetter an diesem vorletzten Augusttag so sonnig war, konnte er sich ausrechnen, dass Conway auf dem Turm frühstücken würde. Er wohnte noch in Abbey Grange und hatte die Schlüssel. Er brauchte nur leise die Tür aufzuschließen, die Treppe hinaufzuschleichen und Conway ruckzuck hinunterzustoßen. Er hatte mir erzählt, er sei übers Wochenende in London gewesen, aber das war auch alles, was ich an Beweisen dafür hatte. Als ich ihn in Abbey Grange aufsuchte, schien er sich dort völlig zu Hause zu fühlen. So als wüsste er, dass alles jetzt ihm gehörte. Natürlich ist es die Grundregel aller Kriminalromane, dass man den Hauptverdächtigen als Ersten ausschließt. Das wäre sonst ja zu offensichtlich. Aber war das im wirklichen Leben genauso?

2. Claire Jenkins, die Schwester

Auf den Seiten, die sie mir gegeben hatte, konnte Claire Jenkins gar nicht genug davon schwärmen, wie sehr sie ihren Bruder verehrte, wie großzügig er gewesen war und wie nahe sie sich immer gestanden hatten. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr das alles glaubte. James war überzeugt, dass sie neidisch auf den Erfolg ihres Bruders gewesen war, und es lässt sich auch nicht leugnen, dass sie sich am Ende über Geld gestritten hatten. Ein Motiv für einen Mord war das allerdings kaum. Dass ich sie trotzdem auf den zweiten Platz meiner Liste von Verdächtigen setzte, hatte vielmehr mit dem unvollendeten Manuskript zu tun.

Alan Conway hatte sich einen Spaß daraus gemacht, Menschen, die er kannte, in seinen Büchern zu porträtieren. James Taylor war als Assistent von Atticus Pünd wiederaufgetaucht. Der Name des Pfarrers war nur leicht verfremdet worden. Sogar Conways eigener Sohn Freddy wurde in den Morden von Pye Hall beim Namen genannt. Und ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass seine Schwester Claire das Vorbild für Clarissa Pye, die einsame alte Jungfer, war, die ihren Bruder Magnus ihr Leben lang beneidet hatte. Es war ein groteskes Zerrbild, aber dass sogar die Daphne Road in seinem Manuskript auftauchte, bestätigte, dass es kein Zufall war (auch wenn im Roman nicht Clarissa, sondern Brent in dem eigenartigen kleinen Haus wohnte, das Conway beschrieben hatte). Wenn Claire das Manuskript gelesen hatte, war das vielleicht Grund genug für sie, ihren Bruder zu hassen und umzubringen. Und die letzten Kapitel hatte sie dann gestohlen, um zu verhindern, dass die Morde von Pye Hall jemals gedruckt würden.

Aber warum sollte sie dann so energisch darauf bestehen, dass ihr Bruder umgebracht worden war? Das konnte ich auch nicht erklären, obwohl ich irgendwo mal gelesen hatte, dass Mörder das Bedürfnis haben, ihre Taten für sich zu beanspruchen. Deshalb kehren sie angeblich auch so gern an den Ort des Verbrechens zurück. Hatte Claire mich womöglich deshalb gebeten, den Tod ihres Bruders zu untersuchen? Weil sie im Mittelpunkt stehen wollte?

3. Tom Robeson, der Pfarrer

Es war wirklich schade, dass Robeson mir nicht hatte erzählen können, was in Chorley Hall wirklich vorgefallen war. Wenn seine Frau ein paar Minuten später eingetroffen wäre, hätte ich vielleicht mehr erfahren. Aber das Foto, um das es ging, war offenbar benutzt worden, um einen Jungen in einer reinen Jungenschule zu demütigen. Da brauchte man nicht lange zu überlegen, was da gelaufen war. Interessant war, dass Claire ihren Bruder als Opfer des grausamen Schulbetriebs sah, während ihn Robeson eher für einen Täter hielt. Je mehr ich über Conway herausfand, desto mehr war ich geneigt, dem Pfarrer zu glauben.

All das hatte in den siebziger Jahren stattgefunden, aber Conway hatte es nicht vergessen, denn es kam gleich im ersten Kapitel der Morde von Pye Hall vor: Mary Blakiston taucht unverhofft im Pfarrhaus auf. Und da lagen sie, mitten zwischen seinen Papieren. Was hatte sie da gesehen? Waren Henrietta und Robin Osborne irgendwie pervers? Hatten sie inkriminierende Fotos herumliegen lassen? Wenn ich an Robesons Ansprache bei Conways Beerdigung dachte, hatte er offenbar nichts von alledem vergessen. Und seit ich mich persönlich mit ihm unterhalten hatte, konnte ich mir durchaus vorstellen, dass er sich den Turm hinaufschlich, um sich zu rächen. In Kriminalromanen waren Pfarrer meist wenig überzeugende Verdächtige. Sie waren zu auffällig, zu offensichtlich, zu sehr »Little England«. Wenn Robeson im wirklichen Leben der Mörder gewesen sein sollte, hätte mich das enttäuscht.

4. Donald Leigh, der schreibende Kellner

»Sie müssen sich sehr gefreut haben, als Sie gehört haben, dass er tot war«, hatte ich gesagt, und er: »Ich war entzückt.« Zwei Männer haben sich jahrelang nicht gesehen. Der eine hasst den anderen. Sie treffen sich zufällig, und knapp achtundvierzig Stunden später ist einer von ihnen tot. Was gibt es da noch zu sagen?

5. Mark Redmond, der Filmproduzent

Er hatte mich angelogen. Er hatte behauptet, er wäre am Samstag zurück nach London gefahren, aber das Gästebuch des Crown zeigte, dass er das ganze Wochenende in Framlingham gewesen war. Er hatte eine Menge Geld in die Atticus-Abenteuer investiert und wäre pleitegegangen, wenn Conway die Lizenz zur Verfilmung nicht verlängert hätte. Mit Morden kannte er sich aus. Schließlich hatte er schon einige hundert für die BBC inszeniert. Es wäre ihm nicht schwergefallen, von der Fiktion zur Realität überzugehen. Der Mord an Conway war schließlich vollkommen unblutig. Keine Pistole, kein Messer. Nur ein kleiner Stoß. Das konnte jeder.

Das waren die fünf Namen auf meiner Liste. Die Five Little Pigs sozusagen, die ich des Mordes verdächtigte. Aber es gab noch zwei weitere Namen, die vielleicht auch auf die Liste gehörten.

6. Melissa Conway, die Ex-Frau

Ich hatte bisher noch nicht mit ihr reden können, aber ich hatte schon beschlossen, so bald wie möglich nach Bradford-on-Avon zu fahren. Allmählich war ich ganz besessen von Conways Ermordung. Ehe ich den Fall nicht gelöst hatte, würde ich bei Cloverleaf sowieso nichts Gescheites arbeiten können. Seine Schwester hatte gesagt, Melissa habe Conway nie verziehen, wie er sie verlassen hatte. Hatten sie sich vielleicht in letzter Zeit wiedergesehen? War vielleicht etwas geschehen, was sie dazu veranlasst hatte, nach all den Jahren noch Rache zu nehmen? Es war ärgerlich, dass ich sie beim Empfang im Crown nicht mehr gesprochen hatte. Ich hätte sie so gern gefragt, warum sie die weite Reise nach Framlingham gemacht hatte, um an der Beerdigung ihres Ex-Ehemanns teilzunehmen. Hatte sie dieselbe Reise schon vorher gemacht, um ihn vom Turm zu schubsen?

7. Frederick Conway, der Sohn

Ihn an dieser Stelle zu nennen, ist wahrscheinlich ein bisschen unfair. Ich hatte ihn bei der Beerdigung nur kurz gesehen und wusste fast nichts über ihn. Aber ich erinnere mich noch gut, mit welcher Wut er den Sarg angestarrt hatte. Sein Gesicht war ganz verzerrt gewesen. Sein Vater hatte ihn im Stich gelassen. Schlimmer noch: Sein Vater hatte öffentlich demonstriert, dass er schwul war. Das hatte das Leben des Jungen sicher nicht leichter gemacht. Aber war das ein Mordmotiv? Conway hatte offensichtlich an ihn gedacht, als er die Morde von Pye Hall schrieb. In der Figur des Sohnes von Sir Magnus und Lady Pye darf Freddy sogar seinen echten Namen behalten.

Das waren die Notizen, die ich mir an jenem Montagnachmittag im Büro machte, und als ich damit aufhörte, war ich keinen Schritt weiter. Es ist schön und gut, wenn man Verdächtige hat. Wenn’s drauf ankam (und das kam es ja wohl), konnten alle sieben oder acht (wenn man John White mitzählte) Conway den entscheidenden Stoß verpasst haben. Es hätte auch der Briefträger oder der Milchmann gewesen sein können oder jemand, den ich vergessen oder noch gar nicht kennengelernt hatte. Was ich nicht hatte, war die Vernetzung, die in einem Kriminalroman entsteht: das Gefühl, dass sich die Figuren in Abhängigkeit voneinander bewegen wie bei Cluedo. Jeder konnte an jenem fatalen Sonntagmorgen an die Tür von Abbey Grange geklopft und Conway vom Turm geschubst haben.

Am Ende schob ich meinen Notizblock beiseite und ging zu einer Besprechung mit einer unserer Korrektorinnen. Wenn ich ein bisschen länger nachgedacht hätte, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass der gesuchte Hinweis durchaus vorhanden war, dass erst vor kurzem jemand etwas gesagt hatte, das ihn eindeutig als Mörder identifizierte, und dass sich das Motiv für Conways Ermordung schon direkt vor meiner Nase befunden hatte, als ich angefangen hatte, die Morde von Pye Hall zu lesen. Wenn ich nur eine halbe Stunde länger nachgedacht hätte, hätte das vielleicht alles geändert. Aber ich war schon ein bisschen zu spät dran, und außerdem dachte ich über Andreas nach.

Ich sollte teuer dafür bezahlen.