Zufälle in Romanen kann ich nicht leiden, und schon gar nicht in Kriminalromanen, die auf Logik und Schlussfolgerungen beruhen. Der Detektiv sollte seine Lösung finden, ohne die Vorsehung auf seiner Seite zu haben. Aber gerade mir als Lektorin musste genau das passieren. Als ich zwei Minuten nach fünf in der Neun-Millionen-Stadt London den Zug verließ und mich in der Bahnhofshalle durch Tausende von Pendlern schob, stieß ich auf jemanden, den ich kannte: Jemima Humphries. Bis vor kurzem war sie noch die Assistentin meines Verlegers gewesen.
Ich erkannte sie sofort. Charles sagte immer, sie hätte ein Lächeln, das eine ganze Menschenmenge erleuchten könnte. Und das war es auch, was mich aufmerksam machte – dass sie die einzige fröhliche Person in der grauen Masse der Pendler zu sein schien, die eilig nach Hause wollten. Sie war schlank und hübsch und hatte langes blondes Haar, und obwohl sie schon Mitte zwanzig war, wirkte sie immer noch so vergnügt wie ein Schulmädchen. Ich wusste noch genau, wie sie mir erzählt hatte, dass sie sich in einem Verlag beworben hatte, weil sie so gerne las. Ich vermisste sie im Büro. Und ich hatte keine Ahnung, warum sie gekündigt hatte.
Sie winkte und wir steuerten aufeinander zu. Ich dachte, wir würden vielleicht bloß guten Tag sagen und uns kurz erkundigen, wie’s denn so ginge, aber es sollte anders kommen.
»Wie geht’s immer so?«, fragte ich.
»Danke, Susan. Mir geht’s gut. Ich freu’ mich jedenfalls, Sie zu sehen. Es hat mir so leidgetan, dass ich mich nicht verabschieden konnte.«
»Ja, das ist wirklich schnell gegangen. Ich war auf dieser Lesereise, und als ich zurückkam, waren Sie schon nicht mehr da.«
»Ich weiß.«
»Wo sind Sie denn jetzt?«
»Ich wohne bei meinen Eltern in Chiswick. Ich war gerade auf dem Weg – «
»Ich meine, wo arbeiten Sie?«
»Ich hab’ noch keinen neuen Job.« Sie kicherte nervös. »Ich suche noch.«
Das verblüffte mich. Ich hatte angenommen, dass sie abgeworben worden war. »Warum haben Sie dann gekündigt?«, fragte ich.
»Ach, Susan, ich hab’ doch gar nicht gekündigt. Charles hat mich rausgeschmissen. Ich wäre gern weiter geblieben.«
Das war nicht das, was Charles mir erzählt hatte. Er hatte behauptet, sie hätte gekündigt. Daran konnte ich mich noch sehr gut erinnern. Es war mittlerweile schon beinahe halb sechs, und ich wollte schnell noch im Büro vorbeigehen, ehe ich mich mit Andreas traf. Aber das mit Jemina wollte ich jetzt genau wissen. »Haben Sie es sehr eilig?«, fragte ich.
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«
Wir betraten einen der schmuddeligen, ziemlich höllischen Pubs in der Bahnhofshalle. Ich holte mir einen Gin Tonic, in dem es deutlich an Eis fehlte, Jemima wollte ein kleines Glas Weißwein.
»Also, was ist denn genau passiert?«, fragte ich, als die Drinks auf dem Tisch standen.
Jemima runzelte die Stirn. »Das weiß ich selbst nicht. Ich habe wirklich gern bei Cloverleaf gearbeitet, und Charles war meistens ganz reizend. Ab und zu war er mal boshaft, aber das gehörte irgendwie dazu. Aber dann hatten wir diesen Riesenstreit, das muss an dem Tag gewesen sein, als Sie auf Lesereise gegangen sind. Er hat gesagt, ich hätte zwei Termine gleichzeitig für ihn gemacht, und jetzt säße ein wichtiger Agent im Restaurant und warte auf ihn. Aber das war einfach nicht wahr. Ich habe nie Fehler bei seinem Terminkalender gemacht. Aber als ich mich verteidigt habe, ist er wütend geworden. Ich hab’ ihn noch nie so erlebt. Er ist richtig ausgerastet. Und dann, am Freitagmorgen hab’ ich ihm einen Kaffee in sein Zimmer gebracht, und als ich ihm die Tasse hinstellen wollte, hat er danach gegriffen und alles verschüttet. Der ganze Schreibtisch war nass. Es war eine riesige Sauerei. Ich bin in die Küche gegangen, hab’ Handtücher geholt und alles wieder saubergemacht. Dann hat er gesagt, wir passten wohl nicht zusammen und ich solle mich nach einem anderen Job umsehen.«
»Er hat Ihnen fristlos gekündigt?«
»Nicht ganz. Ich war ziemlich empört. An der Sache mit dem Kaffee war ich ja nicht schuld. Ich wollte ihm die Tasse wie immer auf den Schreibtisch stellen, aber er hat sie mir aus der Hand gerissen. Und ich hab’ ja auch sonst nicht so viele Fehler gemacht. Ich war ein ganzes Jahr bei ihm, und es ist alles glattgegangen. Wir haben lange hin und her geredet, und am Schluss hab’ ich wohl gesagt, es wäre besser, wenn ich sofort ginge. Er hat gesagt, er würde mir noch ein Monatsgehalt zahlen, und das war’s dann. Außerdem hat er mir ein gutes Zeugnis versprochen, und wenn jemand fragen würde, würde er sagen, ich sei nicht gefeuert worden, sondern hätte von mir aus gekündigt.«
Daran hatte sich Charles gehalten.
»Ich nehme an, das war nett von ihm«, sagte Jemima. »Ich bin mittags nach Hause gegangen, und damit war die Sache erledigt.«
»An welchem Tag war das denn?«, fragte ich.
»Das war am Freitag, dem 28. August«, sagte Jemima. »Sie waren noch auf dem Rückweg von Dublin.« Dann fiel ihr noch etwas ein. »Hat Andreas Sie damals eigentlich noch erreicht?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich, leicht verwirrt. Das war schon das zweite Mal, dass Andreas heute erwähnt wurde. Erst hatte Melissa plötzlich von ihm angefangen, und jetzt sprach Jemima von ihm. Sie kannte ihn natürlich und hatte mir auch gelegentlich etwas von ihm ausgerichtet. Aber warum erwähnte sie ihn jetzt?
»Er war am Donnerstagnachmittag da«, erzählte Jemima munter. »Er wollte mit Ihnen reden. Nach seiner Besprechung mit Charles.«
»Tut mir leid, Jemima«, sagte ich vorsichtig. »Ich glaube, Sie irren sich. Andreas war in dieser Woche gar nicht in England. Er war noch auf Kreta.«
»Ja, er war schön braungebrannt. Aber das Datum stimmt. Es war am Tag, bevor ich rausgeschmissen wurde, und ich erinnere mich ganz genau. Er war am Donnerstagnachmittag da. So gegen drei Uhr.«
»Und er hat Charles besucht?«
»Ja.« Jemima erschrak. »Hab’ ich was Falsches gesagt? Es war nie die Rede davon, dass ich Ihnen nichts davon sagen dürfte.«
Aber erzählt hatte er mir auch nichts davon. Ganz im Gegenteil. Wir hatten unser großes Wiedersehensdinner. Und er hatte ausschließlich von Kreta erzählt.
Ich hatte keine Lust, über Andreas zu reden. Ich kehrte noch einmal zu Charles zurück. »Ich glaube nicht, dass er sich wirklich von Ihnen trennen wollte«, sagte ich. Es war fast ein Selbstgespräch. Ich wollte dahinterkommen, was da gelaufen war.
Aber es stimmte. Ich konnte mir zwar vorstellen, dass Charles mal die Beherrschung verlor – aber doch nicht bei Jemima. Sie war schon seine dritte Sekretärin in den letzten drei Jahren, aber ich wusste, dass er sie sehr mochte. Aller guten Dinge sind drei, sagte er. Jemima war tüchtig und gab sich Mühe. Sie brachte ihn immer wieder zum Lachen. Warum hatte er seine Meinung so plötzlich geändert?
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Er hatte ein paar schlechte Wochen hinter sich. Als die Rezensionen für den ›Einarmigen Jongleur‹ erschienen, war er stinksauer, und über die Morde von Pye Hall war er auch nicht sehr glücklich, das weiß ich. Er machte sich Sorgen wegen seiner Tochter. Ehrlich, Susan, ich hab’ mir die größte Mühe gegeben, aber er musste einfach jemanden anschnauzen – und ich war zufällig im Büro. Ist Lauras Baby inzwischen da?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich mir gar nicht sicher war. »Ich weiß aber nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.«
»Na ja, richten Sie meine Glückwünsche aus!«
Jemima erzählte mir, dass sie den Winter in Verbier verbringen wollte. Sie war eine begeisterte Snowboarderin und hoffte, einen Job als Chalet Girl zu finden. Aber ich hörte schon gar nicht mehr zu. Ich wollte Andreas anrufen. Ich wollte wissen, warum er mich angelogen hatte.
Als wir uns schon verabschiedet hatten, fiel mir aber doch noch was ein. »Sie haben erwähnt, dass Charles nicht glücklich mit den Morden von Pye Hall war«, sagte ich. »Was war denn das Problem?«
»Ich weiß nicht. Das hat er nicht gesagt. Aber er war ziemlich verstört. Ich dachte, das Manuskript wäre vielleicht nicht so gut.«
»Aber er hatte es doch noch gar nicht gelesen.«
»Hatte er nicht?« Jemima klang überrascht. Sie wollte zum Zug, aber ich hielt sie auf. Das passte alles nicht zusammen. Conway hatte Charles das Manuskript doch erst am Donnerstagabend im Ivy Club übergeben. Am selben Tag, an dem Andreas – wie sich jetzt zeigte – im Verlag gewesen war und Charles besucht hatte. Als ich am späten Freitagnachmittag in den Verlag gekommen war, hatte ich eine Kopie des Manuskripts auf meinem Schreibtisch gefunden. Wir hatten es beide am Wochenende gelesen – an demselben Wochenende, an dem Conway gestorben war. Wieso war Charles dann schon am Freitagmorgen unglücklich über die Morde von Pye Hall gewesen?
»Charles hat das Manuskript doch erst am Donnerstagabend gekriegt«, sagte ich.
»Nein, nein. Es ist mit der Post gekommen.«
»Wann denn?«
»Am Dienstag.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hab’ das Päckchen aufgemacht.«
Ich starrte sie an. »Haben Sie den Titel gesehen?«
»Ja, er stand auf dem Deckblatt. Morde von Pye Hall.«
»War das Manuskript vollständig?«
Das verwirrte sie. »Ich weiß nicht, Susan. Ich habe es einfach an Charles weitergegeben. Er hat sich wohl darüber gefreut, aber er hat später nichts mehr darüber gesagt. Und zwei Tage später ist das mit dem Kaffee passiert, und das war’s dann.«
Menschen drängten an uns vorbei. Eine Lautsprecherstimme kündigte die Abfahrt eines Zuges an. Ich bedankte mich bei Jemima, umarmte sie kurz und lief hinaus, um ein Taxi zu suchen.