Endspiel

Ich war so überrascht und schockiert, dass ich eine Weile brauchte, um zu verstehen, was da passiert war. Vielleicht war ich auch bewusstlos gewesen. Als ich die Augen aufschlug, stand Charles über mir mit einem Gesichtsausdruck, als wolle er mich um Entschuldigung bitten. Ich lag auf dem Teppich, mit dem Kopf dicht an der offenen Tür. Etwas tröpfelte mir auf den Hals, es kam aus der Gegend oberhalb meines Ohres. Mit einiger Mühe gelang es mir, die Hand zu heben und es zu berühren. Als ich die Hand wieder wegnahm, sah ich, dass sie blutig war. Ich hatte einen schweren Schlag auf den Kopf gekriegt. Charles hielt irgendwas in der Hand, aber meine Augen funktionierten nicht richtig. Es war, als hätte jemand den Stecker gezogen. Schließlich gelang es mir doch, die Linse scharf einzustellen, und wenn ich nicht solche Schmerzen und Angst gehabt hätte, hätte ich womöglich gelacht: Charles hatte mir mit dem Gold Dagger eins über den Schädel gegeben – der Auszeichnung, die Conway für Pünd ermittelt erhalten hatte. Der Gold Dagger, falls Sie ihn noch nie gesehen haben, ist ein von hartem Plexiglas umschlossener goldener Dolch, mit dem die besten Kriminalromane ausgezeichnet werden.

Ich versuchte, etwas zu sagen, brachte aber nichts über die Lippen. Entweder war ich noch zu benommen, oder ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Charles betrachtete mich, und ich glaubte den Augenblick wahrzunehmen, in dem er seine Entscheidung traf. Alles Leben verließ seine Augen, und ich dachte plötzlich, dass Mörder die einsamsten Menschen auf dem Planeten sein müssen. Es ist der Fluch des Kain, flüchtig auf der Erde umherzuirren. Wie immer er es rechtfertigen wollte: Als er Conway vom Turm stieß, hatte Charles sich vom Rest der Menschheit getrennt. Der Mann, der jetzt über mir stand, war nicht länger mein Freund und Kollege. Er war ohne Seele. Er würde mich töten, um mich zum Schweigen zu bringen; denn wenn man einen Menschen umgebracht hat, befindet man sich in einem existenziellen Bereich, in dem es egal ist, ob man noch zwei weitere tötet oder auch zwanzig. Ich wusste das und akzeptierte es. Frieden würde Charles nie wieder finden. Er würde niemals glücklich mit seinem Enkelkind spielen. Er würde sich nie mehr rasieren können, ohne das Gesicht eines Mörders zu sehen. Darin fand ich ein wenig Trost. Aber ich würde tot sein. Ich konnte nichts tun, um das zu verhindern. Ich war in Panik.

Er stellte den Gold Dagger beiseite.

»Warum mussten Sie bloß so halsstarrig sein?«, fragte er mit einer Stimme, die nicht seine eigene war. »Ich wollte nicht, dass Sie nach den fehlenden Kapiteln suchen. Das verdammte Buch war mir egal. Ich habe doch nur zu beschützen versucht, was wir gemeinsam aufgebaut hatten. Und meine Zukunft. Ich hab’ versucht, Sie davon abzubringen. Ich hab’ versucht, Sie abzulenken. Aber Sie wollten nicht hören. Was soll ich jetzt tun, Susan? Ich muss mich schützen. Ich bin zu alt fürs Gefängnis. Sie hätten sagen können, dass Sie nicht zur Polizei gehen. Ich hätte Sie gehen lassen. Ich hätte Ihnen getraut. Sie sind so dumm.«

Er redete gar nicht mit mir. Es war mehr ein Selbstgespräch. Ich hingegen lag da und konnte mich nicht bewegen. Ich hatte rasende Kopfschmerzen, und ich war wütend auf mich selbst. Er hatte mich gefragt, ob ich jemand anderem von der Sache erzählt hatte. Da hätte ich lügen sollen. Oder ich hätte so tun können, als ob ich auf seiner Seite stünde und gern bereit wäre, seine Komplizin zu werden. Ich hätte aus dem Büro hinausmarschieren und direkt zur Polizei gehen können. Ich war selbst schuld an meiner jetzigen Lage.

»Charles …«, krächzte ich. Mit meinen Augen stimmte etwas nicht. Ich konnte nicht mehr scharf sehen. Die Blutlache unter meinem Kopf schien sich zu vergrößern.

Er hatte auf dem Schreibtisch herumgesucht und hielt jetzt etwas in der Hand. Es waren die Streichhölzer, mit denen ich meine Zigarette angesteckt hatte. Was er vorhatte, begriff ich aber erst, als der Phosphor aufflammte. Die Flamme sah riesig aus. Charles schien dahinter fast zu verschwinden.

»Tut mir leid, Susan«, sagte er, packte die Whiskyflasche und spritzte den zwölf Jahre alten Glenmorangie auf die Vorhänge und auf den Teppich.

Er wollte das Büro abfackeln. Er wollte mich bei lebendigem Leibe verbrennen. Er wollte die einzige Zeugin beseitigen – und die inkriminierenden Blätter des Manuskripts gleich mit. Ich sah, wie das brennende Streichholz sich im Bogen durchs Zimmer bewegte wie ein feuriger Ball. In einem modernen Büro wäre es vielleicht auf den Boden gefallen und einfach ausgegangen, aber bei Cloverleaf Books war alles antik: das Gebäude, die Holzpaneele, der Teppich, die Möbel, die Vorhänge. Als Erstes geriet der Papierkorb in Brand, und ich war so fasziniert vom Anblick der Flammen, dass ich gar nicht sah, wie Charles ein zweites Streichholz unter die Vorhänge warf. Das Feuer schlug hoch bis zur Decke. Die ganze Luft schien sich gelb und orange zu färben. Ich konnte nicht fassen, wie schnell es ging. Es war, als läge ich im Krematorium. Charles kam auf mich zu, eine riesige, schwarze Gestalt, die mein ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Ich dachte, er würde einen großen Schritt über mich hinweg machen, weil ich direkt vor der Tür lag. Aber ehe er ging, holte er noch einmal aus und trat mir in die Brust und gegen den Kopf. Ich schrie und schmeckte mein eigenes Blut. Tränen strömten aus meinen Augen, als mich der Schmerz und der Rauch überwältigten. Dann war Charles verschwunden.

Das Büro brannte großartig. Das Gebäude stammte aus dem 18. Jahrhundert, und der Brand war dieser Zeit würdig. Ich spürte die Hitze auf meinen Händen und Wangen und hatte das Gefühl, selbst schon zu brennen. Ich hätte einfach da liegen bleiben und sterben können, aber im ganzen Haus waren die Rauchmelder und Alarmglocken angesprungen, und der höllische Lärm weckte mich wieder auf. Ich musste die Kraft finden, aufzustehen und das Haus zu verlassen. Es gab eine Explosion von Holz und Glas, als eins der Fenster in Stücke ging, und auch das half mir. Ich spürte einen kalten Luftzug vom Treppenhaus, der mich etwas belebte und den Rauch daran hinderte, mich zu ersticken. Dann tastete ich nach dem Türrahmen und zog mich daran hoch.

Sehen konnte ich kaum etwas. Das Rotorange des Feuers hatte sich in meine Augen gebrannt. Jeder Atemzug schmerzte. Charles musste mir ein paar Rippen gebrochen haben, und ich fragte mich, wie dieser Mann, den ich so lange gekannt hatte, sich so viehisch hatte benehmen können. Die Wut gab mir Kraft und bald stand ich, wenn auch etwas wackelig, auf den Beinen. Gut war das nicht. Weiter unten am Boden wäre ich sicherer vor den giftigen Dämpfen, dem Rauch und den Flammen gewesen. Ich konnte jeden Augenblick wieder ohnmächtig werden.

Der Feueralarm rasselte in meinen Ohren. Ich konnte nicht hören, ob die Feuerwehr schon unterwegs war. Ich konnte so gut wie nichts sehen. Ich konnte kaum atmen. Und dann spürte ich, wie ein Arm sich um meine Brust legte, und stieß einen Schrei aus. Ich dachte, Charles sei zurückgekommen, um mir den Rest zu geben. Aber dann hörte ich, wie mir jemand meinen Namen ins Ohr schrie: »Susan!«

Ich erkannte die Stimme und ließ mich in seinen Arm fallen.

»Kannst du gehen?«, fragte Andreas.

»Ja.« Mit Andreas an meiner Seite, konnte ich alles.

»Wir müssen hier raus!«

»Warte! Auf dem Tisch liegt eine gelbe Plastikhülle mit Manuskriptseiten …!«

»Susan? Ist alles in Ordnung?«

»Die werden wir bestimmt nicht hier liegen lassen!«

Er dachte, ich hätte den Verstand verloren, hielt es aber für besser, keinen Streit mit mir anzufangen. Er ließ mich einen Augenblick stehen, dann zog er mich die Treppe hinunter. Graue Rauchschleier folgten uns bis ins Erdgeschoss, aber das Feuer drängte nach oben. Ich konnte weder etwas sehen noch denken, mir tat alles weh und aus der Platzwunde auf meinem Schädel sickerte immer noch Blut. Aber jetzt hatten wir es geschafft. Andreas zog mich durch die Eingangstür und auf die andere Straßenseite. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass alle drei oberen Stockwerke brannten, und obwohl ich jetzt die Sirenen der Feuerwehr hörte, wusste ich, dass nichts gerettet werden würde.

»Andreas«, sagte ich. »Hast du die letzten Kapitel?«

Ich wurde ohnmächtig, ehe er antworten konnte.