Kreta, Agios Nikolaos

Aus meiner Sicht gibt es nicht mehr viel zu sagen.

Cloverleaf Books ging bankrott. Es war alles ein großes Chaos. Der Staatsanwalt erhob Anklage gegen Charles, das Gebäude war völlig zerstört worden, und die Versicherungen weigerten sich natürlich zu zahlen. Die Autoren zerstreuten sich in alle Winde, was ein bisschen enttäuschend, aber nicht überraschend war. Wer veröffentlicht schon bei einem Verlag, von dessen Chef das Gerücht ging, er habe seinen erfolgreichsten Autor ermordet.

Ich hatte natürlich auch keinen Job mehr. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass sich nicht nur die Polizei dafür interessierte, ob ich tatsächlich im Büro geraucht hätte, bevor es in Flammen aufging. Auch in der Verlagsbranche gab man mir eine gewisse Mitschuld an den Ereignissen. Charles Clover war eine bekannte und beliebte Figur in der Branche und anscheinend hatte man das Gefühl, dass ich ihm übel mitgespielt und ihn am Ende verraten hätte. Immerhin hatte er Graham Greene, Anthony Burgess und Muriel Spark veröffentlicht und allenfalls einen Autor vom Dach geschubst – Alan Conway, der als gewaltige Nervensäge bekannt war. Hatte ich wirklich so viel Theater deswegen machen müssen? Conway wäre doch ohnehin bald gestorben.

Natürlich sagte das niemand laut, aber als ich mich nach Wochen wieder aus dem Haus wagte und ein paar literarische Events besuchte – eine Konferenz, eine Buchpremiere –, merkte ich rasch, dass ich nicht sehr willkommen war. Der Women’s Prize for Fiction wollte mich jetzt doch nicht mehr in der Jury haben. Ich wünschte, sie hätten Charles gesehen, so wie ich ihn zuletzt gesehen habe, als er mir in die Rippen trat, ehe er mich dem Feuer auslieferte, damit ich bei lebendigem Leibe verbrannte.

Ich würde so bald keine Arbeit mehr finden. Das war mir klar. Und mein Herz war ohnehin nicht ganz bei der Sache. Außerdem ist meine volle Sehkraft noch immer nicht wiederhergestellt. Ich bin zwar nicht so blind wie der arme Mr Rochester in Jane Eyre, aber meine Augen ermüden, wenn ich zu viel lese, und die Wörter hüpfen über die Seiten. In letzter Zeit bevorzuge ich Hörbücher. Krimis vermeide ich und habe mich stattdessen wieder der Literatur des 19. Jahrhunderts zugewandt.

Ich lebe in Agios Nikolaos, auf Kreta.

Am Ende brauchte ich das gar nicht selbst zu entscheiden. Es gab einfach nichts mehr, was mich in London hielt. Viele meiner Freunde hatten sich von mir abgewandt, und Andreas wollte auf jeden Fall weg aus England. Es wäre idiotisch gewesen, nicht mit ihm nach Kreta zu gehen, und meine Schwester verbrachte ein ganzes Wochenende damit, mir genau das zu sagen. Außerdem liebte ich ihn ja schließlich. Das war mir endgültig klargeworden, als ich allein im Bahnhof von Bradford-on-Avon saß, und es hatte sich bestätigt, als sich Andreas ins Feuer gestürzt hatte, um mich zu retten. Er war jetzt mein strahlender Ritter, und wenn überhaupt hätte er wohl Gründe gehabt, sich die Sache noch einmal zu überlegen: Ich sprach kein Wort Griechisch. Ich war keine besondere Köchin. Meine Sehkraft war eingeschränkt. Was konnte ich schon Nützliches tun?

Ich machte eine entsprechende Andeutung, was dazu führte, dass er mich in das griechische Restaurant in Crouch End schleppte, einen Diamantring hervorzauberte (den er sich gar nicht leisten konnte) und sich vor allen Gästen aufs linke Knie niederließ. Ich war so entsetzt, dass ich hastig ja sagte, damit er sich wieder brav auf seinen Stuhl setzte. Am Ende brauchte er doch keine Hypothek. Ich verkaufte meine Wohnung in London, und obwohl er nicht ganz glücklich damit war, bestand ich darauf, einen Teil des Geldes in sein Hotel zu investieren und Mitgesellschafterin des Polydorus zu werden. Wahrscheinlich war das verrückt, aber nach allem, was ich durchgemacht hatte, war mir das egal. Es war ja nicht nur, dass ich fast gestorben war. Fast genauso schlimm war es, dass ich alles verloren hatte, woran ich geglaubt und worauf ich mich verlassen hatte. Mein Leben in London hatte sich genauso schnell und vollständig aufgelöst wie der Name von Atticus Pünd. Verstehen Sie das? Mein Leben hatte eine neue Gestalt angenommen, und so wie ein Anagramm seine Bedeutung verändert, wenn man die Buchstaben umstellt, würde ich seine neue Bedeutung erst kennenlernen, wenn ich es zu leben begann.

Es sind jetzt zwei Jahre vergangen, seit ich England verlassen habe. Das Hotel Polydorus hat bisher noch keinen Profit gebracht, aber die Gäste scheinen es zu mögen und wir waren fast die ganze Saison ausgebucht, also scheint das Konzept zu stimmen. Agios Nikolaos ist eine helle, etwas schäbige, aber bunte Stadt, wo zu viele Reiseandenken verkauft werden, aber sie ist noch authentisch genug, um dort zu leben. Wir sind in der ersten Reihe an der Uferpromenade, und ich kann nie genug davon kriegen, aufs Wasser hinauszuschauen, das so wunderbar blau ist. Die Küche und der Eingangsbereich liegen hinter einer großen Terrasse, auf die wir ein Dutzend Tische gestellt haben. Wir haben morgens, mittags und abends geöffnet und servieren frische, einfache Küche. Andreas arbeitet in der Küche. Sein Vetter Yannis tut beinahe nichts, ist aber ausgezeichnet vernetzt (man nennt es hier visma) und sorgt dafür, dass wir im Ort ein hohes Ansehen genießen. Außerdem gibt es natürlich Philippos, Alexandros, Giorgios, Nell und die anderen Familienmitglieder und Freunde, die tagsüber aushelfen und abends bis in die Nacht hinein mit uns zusammensitzen und Raki trinken.

Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, und eines Tages werde ich das vielleicht auch tun. Eine Frau entschließt sich zu einer Veränderung und geht mit ihrem Geliebten nach Griechenland, wo sie im Sonnenschein mit seiner exzentrischen Familie, verschiedenen Katzen, Nachbarn, Lieferanten und Gästen zusammenlebt. Es gab früher mal einen Markt für solche Sachen, ich dürfte allerdings nicht die ganze Wahrheit schreiben, wenn das Buch sich verkaufen soll. Ein bisschen vermisse ich Crouch End und die Verlegerei immer noch. Andreas und ich machen uns ständig Sorgen wegen des Geldes, und das belastet unsere Beziehung. Das Leben kann zwar die Kunst imitieren – fällt aber meistens dahinter zurück.

Kurioserweise wurden die Morde von Pye Hall dann doch noch veröffentlicht. Die ganze Atticus-Pünd-Serie ging an Orion Books, meinen alten Verlag. Sie veröffentlichen die Titel mit neuen Umschlägen und brachten gleichzeitig die Morde von Pye Hall heraus. Inzwischen wusste die ganze Welt von dem hässlichen Anagramm im Namen des Detektivs, aber zumindest kurzfristig war das egal. Die ganze Publicity um den Tod des Autors und den Prozess gegen seinen Verleger steigerte das Interesse an den Büchern sogar, und es überraschte mich eigentlich nicht, das neue Buch auf den Bestsellerlisten zu sehen.

Vor einigen Tagen habe ich sogar selbst ein Exemplar zu Gesicht bekommen. Eine Frau im Liegestuhl hat es am Strand gelesen, und Alan Conways Foto hat mich von der Umschlagrückseite angegrinst. Ich habe mich richtig geärgert, als ich ihn sah. Ich erinnerte mich daran, was Charles über ihn gesagt hatte: Dass er unnötigerweise und egozentrisch Millionen von Lesern den Spaß an den Atticus-Pünd-Romanen verdorben hatte. Damit hatte er Recht gehabt. Ich war ja selbst eine dieser Leserinnen gewesen. Und während ich am Strand entlangging, dachte ich für einen Moment, dass ich Alan Conway mit dem größten Vergnügen selbst von seinem albernen Türmchen geschubst hätte. Ich sah es geradezu vor mir, wie ich es getan hatte.

Ich war die Detektivin gewesen, und jetzt war ich die Mörderin. Und wissen Sie was? Ich glaube, das gefällt mir noch besser.