Während sich alle anderen um den Fernseher im Wohnzimmer versammelten, überprüfte Charlotte den Esstisch, ob sie vielleicht etwas vergessen hatte. Sie war seit fünf Uhr dreißig an diesem Morgen auf den Beinen und hatte gebacken und begossen, geraspelt und klein gehackt. Und gestern Abend war sie fast bis um Mitternacht aufgeblieben, um das Silberbesteck zu putzen und die Tischdecke aus irischer Spitze zu bügeln, die Dooleys Eltern ihnen zur Hochzeit geschenkt hatten.
Hatte sie überhaupt geschlafen? Sie war sich nicht ganz sicher. Als sie irgendwann mitten in der Nacht auf dem Rücken gelegen hatte, hatte sie die Schnauze des Hundes mit den kitzelnden Barthaaren an ihrem Mund gespürt; er wollte sich vermutlich vergewissern, ob sie noch atmete.
Dooleys Mutter Martha kam in die Küche. »Kann ich dir irgendwas helfen, Charlie?«, fragte sie.
»Nein, danke. Ich bin so gut wie fertig«, sagte Charlotte.
»Sicher?«
»Ja.«
Martha und Dooleys Vater Arthur waren beide wirklich nette Menschen, liebenswürdig und immer freundlich. Falls Charlotte das Silber nicht geputzt und das Tischtuch nicht gebügelt hätte, wenn sie die Brötchen oder die Preiselbeersauce vergessen hätte, hätten sie es ganz bewusst übersehen.
Was die ganze Sache irgendwie noch schlimmer machte. Charlotte wünschte, ihre Schwiegereltern wären weniger liebenswürdig und nett gewesen. Dann lieber zwei gemeine Stichler, eisige Schweiger, unversöhnliche Feinde, die sie niemals hoffen konnte zu besänftigen. Der prüfend-ernste Blick, mit der Dooleys Vater Charlotte ansah, die Art und Weise, wie seine Mutter ohne besonderen Anlass den Arm ausstreckte, um Charlotte die Hand zu tätscheln – das Mitleid der beiden war manchmal wirklich unerträglich.
Die Stimmung im Wohnzimmer war gedämpft und düster. Der Bericht im Fernsehen zeigte einen von Pferden gezogenen Artilleriewagen, der den Sarg des Präsidenten vom Weißen Haus zum Capitol überführte. Ein Reporter schaltete sich zu, um zu bestätigen, dass Lee Harvey Oswald, der zuvor an diesem Morgen angeschossen worden war, tot war.
Charlotte stellte fest, dass Joan und Rosemary sich wieder ins Haus geschlichen hatten, um mit fernzusehen.
»Rosemary«, rief sie. »Joan.«
Rosemary machte sich bereit, Argumente zu ihrer Verteidigung vorzubringen. »Aber Mommy …«
»Kein Aber«, entgegnete Charlotte. »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt nach draußen gehen und mit euren Cousins spielen.«
Die Mädchen hatten schon viel zu viele Stunden der verstörenden Fernsehnachrichten mitbekommen, für die sie noch viel zu jung waren. Sie hatten verstanden, dass ein böser Mann den Präsidenten der Vereinigten Staaten getötet hatte. Die ganzen schaurigen Einzelheiten mussten sie nicht auch noch erfahren.
»Aber die spielen Cowboy und Indianer«, beschwerte sich Rosemary.
»Na und?«, sagte Charlotte.
»Die haben gesagt, wir dürfen nicht mitspielen, weil wir bloß Mädchen sind.«
Bevor Charlotte etwas erwidern konnte, drückte Bill, Dooleys Bruder, ihr eine leere Bierflasche in die Hand. »Ich könnte wirklich noch eins hiervon vertragen, Charlie«, sagte er.
Während des Tischgebets, mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf, stahlen sich Charlottes Gedanken zu jenem elfjährigen Mädchen zurück, das sich vor siebzehn Jahren vollkommen furchtlos durch den Fluss zum anderen Ufer gekämpft hatte. Im darauffolgenden Winter hatte Charlottes Vater, mit nur zweiunddreißig und der Inbegriff robuster Gesundheit, einen Herzinfarkt erlitten und war gestorben. Sein Tod warf sie völlig aus der Bahn. Zum ersten Mal musste Charlotte die Erfahrung machen, dass die Strömungen des Lebens wesentlich gefährlicher waren, als sie angenommen hatte, und dass sie doch keine so gute Schwimmerin war, wie sie dachte.
Und danach … wie war es weitergegangen? Charlottes Mutter, eine distanzierte und ängstliche Frau, wurde noch distanzierter und ängstlicher. Sie hielt Charlotte davon ab, Risiken einzugehen, aufzufallen oder zu viel vom Leben zu erwarten. Entgegen dem Rat ihrer Mutter hatte sich Charlotte an der University of Oklahoma eingeschrieben anstatt an einem der kleineren Colleges in der Nähe, aber sobald sie einen Fuß auf den Campus gesetzt hatte, fühlte sie sich vollkommen überwältigt. Sie war gerade siebzehn geworden, nie aus Woodrow herausgekommen und kannte an der Uni keine Menschenseele. Im Oktober, nur sechs Wochen nach Beginn des Semesters, hatte sie ihre Sachen gepackt und war zurück nach Hause geflohen.
Sie hatte eine Stelle in der Bäckerei gefunden, wo sie eines Nachmittags mit einem gut aussehenden Kunden ins Gespräch kam. Dooley war drei Jahre älter als Charlotte, daher hatte sie auf der Schule nicht viel mit ihm zu tun gehabt. Aber er war freundlich, hatte Humor und nahm sich selbst nicht so ernst wie die anderen Jungs in der Stadt. Er verabredete sich mit ihr, und bald darauf waren sie ein Paar. Bald darauf heiratete sie ihn, und sie zogen in ein Haus, drei Blocks entfernt von dem, in dem sie aufgewachsen war. Bald darauf war sie schwanger mit Joan. Bald darauf war sie schwanger mit Rosemary. Und bald darauf war jetzt.
»Mommy«, flüsterte Rosemary. »Du bist dran.«
»Ich bin dran?«, fragte Charlotte perplex.
Sie war an der Reihe. Wenn doch nur das Leben auch so wäre, dachte Charlotte, ein Spiel, bei dem man bei jeder Runde aufs Neue das Rad drehen und eine neue Karte ziehen konnte. Aber wer wusste schon, ob eine weitere Drehung des Rades und eine neue Karte die eigene Lage auf dem Spielbrett verbessern würde?
Es könnte immer noch schlimmer kommen, hatte Charlottes Mutter sie immer gewarnt. Mit anderen Worten: Sei zufrieden mit dem, was du hast, denn die Alternative ist vermutlich noch unangenehmer. Diese Weisheit gab ihre Mutter zum Beispiel zum Besten, als Charlotte sich darüber beschwerte, dass sich ihr Mathelehrer in der neunten Klasse weigerte, die Fragen irgendeines der Mädchen zu beantworten. Oder als ihr Chef in der Bäckerei Charlotte ins Hinterzimmer gefolgt war und sie an die Wand gedrückt hatte. Oder als sie sich allmählich Sorgen machte, dass Dooley, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt verlobt war, zu viel trank.
»Jetzt bist du an der Reihe zu sagen, wofür du dankbar bist, Mommy«, erläuterte Rosemary.
»Lass mich überlegen. Ich bin dankbar für meine beiden wunderschönen Töchter. Ich bin dankbar dafür, dass die ganze Familie heute bei uns sein kann. Und ich bin dankbar für unser wundervolles Sonntagsessen.«
Dooley schnitt den Braten auf. Das Messer lag ganz ruhig in seiner Hand. Jede Scheibe Fleisch fiel perfekt und saftig glänzend auf die Servierplatte. Immer wenn seine Eltern zum Essen kamen, beschränkte sich Dooley auf ein einziges Bier oder ein Glas Wein. Obwohl seine Eltern wussten, obwohl jeder wusste, dass fünf Minuten nachdem der letzte Gast gegangen war, Dooley ebenfalls das Haus verlassen würde. Angeblich, um Zigaretten oder die Post zu holen oder das Auto zu betanken, er sei gleich wieder da.
Es war früher Nachmittag, das Licht, das durch das Esszimmerfenster fiel, war hart, winterlich und unbarmherzig. Interessantes Licht. Rosemary griff nach dem Salz, Dooleys Vater griff nach den Brötchen, und Dooley reichte seiner Mutter die Saucenschüssel. Ihre Arme überschnitten und verschränkten sich, sodass Bildausschnitte im Bildausschnitt entstanden, jeder für sich ein perfektes Stillleben im Miniaturformat. Ein Auge, eine einzelne Perle in einer Perlenkette, das Streifenmuster einer Krawatte. Charlotte hätte gerne ihre Kamera zur Hand gehabt. Sie würde in die Hocke gehen und von der Tischplatte aus nach oben fotografieren.
»Die Welt geht langsam, aber sicher vor die Hunde«, verkündete Dooleys Bruder gerade. »Entschuldigt den Ausdruck, meine Damen, aber es stimmt doch. Kennedy, Oswald, Ruby, die sogenannte Bürgerrechtsbewegung. Frauen, die glauben, sie könnten alles, was ein Mann kann.«
»Aber sollten sie’s nicht wenigstens versuchen dürfen?«, fragte Charlotte. »Das kann doch nichts schaden.«
Bill hatte nicht zugehört und schwadronierte unbeirrt weiter, wobei er mit jeder Ansicht, die er vorbrachte, die Gabel ein Stück höher reckte.
»Das Ganze ist ein Kampf um die Zivilisation, genau wie im Kino«, fuhr Bill fort. »Bis zum letzten Mann. Genau so sieht’s hier in Woodrow aus. Wir sind die Einzigen, die noch übrig sind, um uns gegen die Indianer zu verteidigen. Wir müssen eine Wagenburg bauen und schützen, wofür dieses Land steht, bevor es von Leuten auf den Kopf gestellt wird, die nicht mehr ganz richtig ticken. Nimm den Neger. Was die meisten Leute gar nicht wissen, ist, dass der Neger genauso für eine Trennung der Rassen ist wie du und ich!«
Dooley und sein Vater nickten beipflichtend. Charlotte hätte gern gewusst, wann genau ›der Neger‹ seine Präferenz Bill mitgeteilt hatte, aber sie konnte nicht die Energie aufbringen – oder den Mut? –, ihn darauf anzusprechen. Bill war der zweiterfolgreichste Anwalt in Logan County und hatte noch nie einen Fall verloren. Dooleys Vater war der erfolgreichste Anwalt in Logan County. Falls Charlotte sich wagen würde, ihr Scherflein zu einer Diskussion über Politik beizutragen, würden die Männer freundlich und unbarmherzig die diversen Irrtümer ihrer Argumentation ausdeuten, ähnlich wie man auch noch die letzte Gräte aus einem Fisch pulen würde.
Dooleys Schwägerin, Bills Frau, berührte Charlottes Arm und erzählte ihr von einem neuen Schnittmuster – eine weite, über der Hose getragene gesmokte Bluse –, in das sie ganz vernarrt war.
»Was passiert ist, ist eine furchtbare Tragödie«, merkte Dooleys Vater an, »aber das Positive daran ist, Johnson ist eine Verbesserung gegenüber Kennedy. Johnson ist längst nicht so liberal. Er ist aus dem Süden und weiß, wie wichtig es ist, die Dinge nicht zu übertreiben.«
»Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich einen leichten karierten Wollstoff und einen Baumwollstoff mit einem ganz feinen Karo nehmen soll«, teilte Dooleys Schwägerin Charlotte mit. »Welchen würdest du nehmen?«
Charlotte warf einen raschen Blick zur Seite und bemerkte, dass Joan sie beobachtete. Sie fragte sich, was ihre Tochter wohl sah. Und welche Schlüsse sie daraus zog.
Nach dem Essen zogen sich die Männer zurück, die Kinder gingen nach draußen zum Spielen, und Charlotte machte sich an den Abwasch. Dooleys Mutter folgte ihr in die Küche. Charlotte versuchte, sie vom schmutzigen Geschirr fernzuhalten, aber Martha ignorierte sie und fing an, die Teller von Speiseresten zu befreien.
»Wie ist es euch in letzter Zeit denn ergangen, meine Liebe?« Charlotte wusste, was sie eigentlich fragte, war »Wie ist es ihm ergangen?«.
»Ach, alles bestens«, antwortete Charlotte.
»Die Mädchen sind richtige kleine Engel.«
»Hm, die können auch anders.«
Martha legte einen Teller oben auf den Stapel. »Wir haben ihn furchtbar verwöhnt«, sagte sie schließlich. »Er war der Jüngste, weißt du.«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein, Martha.« Falls jemand schuld daran war, was für ein Mann aus Dooley geworden war, dann Charlotte. Als seine Freundin war sie törichterweise blind für seine Fehler gewesen. Als seine Ehefrau hatte sie ihm dann alles durchgehen lassen, weil die Alternative zu schwierig war, um sie überhaupt in Erwägung zu ziehen.
»Arthur und ich würden euch gerne etwas unter die Arme greifen«, fuhr Martha fort.
Wieder schüttelte Charlotte den Kopf – das Ganze war mittlerweile ein eingespieltes Ritual. »Ihr habt uns schon viel zu viel geholfen, Martha.«
»Wir wissen, wie schwer es für ein junges Paar sein kann.«
Unvermittelt traten Charlotte die Tränen in die Augen, als sie ein furchtbares, brennendes Schamgefühl überkam. Sie drehte sich weg, um den Herd abzuwischen, damit Martha es nicht mitbekam. Und damit Martha ihr heimlich die gefalteten Scheine in die Schürzentasche stecken konnte.
»Wirklich«, sagte Charlotte leise. »Das ist nicht nötig.«
»Wir bestehen drauf«, antwortete Martha. »Wir wünschten nur, es wäre mehr.«
Eine halbe Stunde später war niemand mehr da. Dooleys Eltern, sein Bruder, seine Schwägerin und ihre drei Söhne hatten sich allesamt auf den Heimweg gemacht. Kurz darauf ließ Charlotte heißes Wasser mit Spülmittel in den Bräter laufen, als Dooley, bereits in Hut, Mantel und Handschuhen, in die Küche spazierte.
»Wir brauchen doch noch Milch für morgen früh, oder?« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Dann beeile ich mich besser, bevor der Laden zumacht.«
»Deine Mutter hat uns wieder dreihundert Dollar gegeben«, sagte Charlotte.
Dooley rieb sich den Nacken. Er zog es vor, die Früchte der Wohltätigkeit zu genießen, ohne sich näher mit dem Baum oder dem Pflücken beschäftigen zu müssen.
»Ach, verdammt, Charlie. Ich will ihr Geld nicht. Wir brauchen es doch gar nicht.«
Eigentlich wollte Charlotte laut loslachen. Stattdessen drehte sie das heiße Wasser ab und trat aus der Dampfwolke. »Sie hat drauf bestanden.«
»Nächstes Mal sagst du einfach nein, Charlie. Verstanden?« Er bewegte sich langsam Richtung Tür. »Wie dem auch sei, jetzt beeil ich mich besser und besorge die Milch.«
»Und du bist sofort zurück. Gleich nachdem du dir einen kleinen Drink genehmigt hast.«
Das ließ ihn abrupt innehalten. Sein Gesichtsausdruck erinnerte sie an das Bild, das den ganzen Nachmittag über im Fernsehen zu sehen gewesen war: Lee Harvey Oswald, zusammengekrümmt, sein Mund ein überraschtes O, als Jack Ruby ihm eine Kugel in den Bauch gejagt hatte.
Charlotte war selbst überrascht von ihrem Verhalten. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. »So kann’s nicht weitergehen mit uns«, fuhr sie fort.
»Wie weitergehen?«
»Komm, wir setzen uns hin und reden drüber, Schatz. Ausnahmsweise mal richtig reden.«
»Worüber denn?«
»Das weißt du ganz genau.«
Sein Gesicht verfinsterte sich, gleich würde sich ein Gewitter gerechter Empörung über ihr entladen. Wenn er betrunken war, schwor er, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. Wenn er nüchtern war, schwor er, dass er noch nie in seinem Leben einen Tropfen angerührt hatte.
»Was ich ganz genau weiß, ist, dass die Mädchen morgen früh Milch für ihre Cornflakes brauchen.«
»Dooley …«
»Was soll das, Charlie? Warum willst du uns allen den Sonntag vermiesen?«
Sie konnte spüren, wie sie die Energie verließ. Er würde immer so weitermachen und auf sie einreden, bis er erreicht hatte, was er wollte. Wenn man sich zwischen Dooley und eine Flasche stellte, war er wie die Wellen, die so lange gegen die Klippen schlugen, bis sie sich in Sand verwandelten. Nachgeben war das einzig Vernünftige, was man in dieser Situation tun konnte.
»Na gut, dann geh«, sagte sie.
»Willst du denn nicht, dass die Mädchen morgen Milch zum Frühstück haben?«
»Geh nur. Tut mir leid.«
Dooley trat aus dem Haus, und Charlotte faltete das Tischtuch. Sie kehrte die Krümel unter dem Esstisch zusammen und sah nach, was die Mädchen in ihrem Zimmer machten. Rosemary hatte gleich drei verschiedene Disney-Bücher der Reihe »Entdeckungsreisen im Reiche der Natur« offen vor sich liegen. Eins über die Tierwelt der Everglades, Die Wüste lebt und Erde, die große Unbekannte. Joan schnitt gerade vorsichtig Quadrate aus buntem Bastelpapier aus. Der Hund lag zusammengerollt zwischen den beiden auf dem unteren Bett des Stockbetts, seinem Lieblingsplätzchen.
»Was machst du da, Schätzchen?«, fragte Charlotte Joan.
»Sie hat ein Spiel erfunden«, erläuterte Rosemary. »Sie will es mir erklären, wenn sie’s fertig erfunden hat. Wo ist Daddy?«
»Er ist schnell zum Laden gegangen«, sagte Charlotte.
Joan sah von ihrer Beschäftigung auf. Blitzschnell warfen sie und Rosemary sich einen Blick zu. Oder bildete sich Charlotte das nur ein? Sie waren doch bestimmt noch zu jung, um das Ganze zu begreifen.
»Wie geht denn das Spiel, Joan?«, fragte Charlotte.
»Ist sehr kompliziert«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Rosemary. »Stimmt doch, Joan, oder?«
»Ja«, bestätigte Joan.
»Mommy?«, fragte Rosemary. »Ist Mrs. Kennedy furchtbar traurig, weil der Präsident tot ist?«
»Davon gehe ich aus, ja«, antwortete Charlotte.
»Was wird sie jetzt machen?«
»Was sie machen wird? Ich weiß nicht. Meinst du …«
»Bei wem wird sie jetzt wohnen?«, führte Rosemary aus. »Wer wird sich jetzt um sie kümmern?«
Diese Frage überraschte Charlotte. »Na, ich denke, sie wird sich selbst um sich kümmern.«
Rosemary war nicht überzeugt. Wieder wechselten sie und Joan einen raschen Blick. »Mommy?«, setzte Rosemary an.
»Eine Frage noch«, seufzte Charlotte. »Dann muss ich aber die Wäsche reinholen, bevor es dunkel wird.«
»Du wärst doch auch furchtbar traurig, wenn Daddy sterben würde, oder?«, fragte Rosemary.
»Daddy wird nicht sterben, versprochen.«
»Aber du wärst furchtbar traurig.«
»Natürlich wäre ich das«, antwortete Charlotte, und es war ernst gemeint. Dooley war kein schlechter Mensch, ganz im Gegenteil. Er liebte Charlotte und die Mädchen, und er hatte nie im Zorn die Hand gegen eine von ihnen erhoben. Und was das Trinken anging … Sie wusste, tief in seinem Innern wollte er wirklich damit aufhören. Vielleicht würde er es eines Tages auch schaffen.
Aber angenommen, er würde tatsächlich mit dem Trinken aufhören. Was dann? Charlottes Leben wäre einfacher, sicher, aber wäre es auch glücklicher? Die Sekunden, Minuten und Stunden würden weiterhin ungenutzt verstreichen. Die Wochen, Monate und Jahre. Die vielen Entwürfe für eine Zukunft, die die ihre hätten werden können, die vielen Frauen, die sie hätte sein können – all diese schemenhaften Umrisse würden immer mehr verblassen, bis sie ganz verschwunden waren. Wenn Charlotte Glück hatte, würde sie vergessen, dass sie je von ihnen heimgesucht worden war.
Und dann die Mädchen. Es schmerzte Charlotte, dass Rosemary und Joan sich vielleicht eines Tages dieselben Fragen stellen würden: Was sollen wir tun? Wer wird sich um uns kümmern?
Rosemary war bereits wieder in ihre Bücher vertieft und Joan in ihre bunten Quadrate aus Bastelpapier. Charlotte blieb einen Moment im Türrahmen stehen. Ihre erste Reaktion auf das Attentat fiel ihr wieder ein: Die Nachricht hatte ihr das Gefühl gegeben, in ihrem Leben für immer gefangen zu sein. Aber vielleicht musste sie diesen Gedanken ein wenig abwandeln. Es stimmte, ihre Welt würde sich niemals ändern – es sei denn, sie selbst unternahm etwas, um diese Veränderung herbeizuführen.
Der Wirbelsturm hatte Dorothy vielleicht von Kansas nach Oz getragen, aber es war Dorothy, die die Tür des Farmhauses öffnen und nach draußen treten musste.
Mit dem Finger berührte Charlotte das Geld in ihrer Schürzentasche. Dreihundert Dollar. Sie hatte vielleicht noch einmal das Doppelte auf dem Sparkonto, das sie für das Studium der Mädchen eingerichtet hatte. Geld, von dem Dooley nichts wusste und daher auch nicht verprassen konnte.
Neunhundert Dollar. Das war nicht annähernd genug. Aber Charlotte gestattete sich nicht, lange darüber nachzudenken.
»Kinder«, verkündete sie. »Packt eure Koffer.«
»Verreisen wir?«, fragte Rosemary aufgeregt. »Wann geht’s los?«
Ab und zu träumte Charlotte, dass sie fliegen konnte. In diesen Träumen war sie wieder ein Kind und mit hüpfenden Schritten auf dem Weg zur Schule, und auf einmal glitt sie schwerelos über Autos, Bäume und ganze Häuser. Das Geheimnis war, man durfte nicht darüber nachdenken, was gerade mit einem geschah und was man da eigentlich machte. Man musste einfach so tun, als sei es ein ganz normaler Tag, ansonsten wäre der Zauber gebrochen, und ab ginge es nach unten.
»Mommy, wann geht’s denn los?«, fragte Rosemary erneut.
»Jetzt sofort. In fünf Minuten.«
»Kommt Daddy mit?«, fragte Joan.
»Nein. Nur wir Mädchen.«
»Und Lucky?«, fragte Rosemary.
Der Hund. O Gott. Aber Charlotte konnte den Armen unmöglich hierlassen. Dooley würde vielleicht vergessen, ihn zu füttern oder ihm seine Medikamente zu geben. Vielleicht würde er sogar vergessen, dass es ihn überhaupt gab.
»Lucky kann mitkommen«, bestätigte Charlotte. »Jetzt aber Beeilung, packt eure Sachen.«
»Darf ich eine oder zwei Puppen mitnehmen?«, fragte Rosemary.
»Eine.«
»Sind zwei kleine Puppen dasselbe wie eine große?«
»Nein.«
»Aber Joan darf auch nur eine Puppe mitnehmen. Und jede von uns ein Buch.«
»Ja. Jetzt ab mit euch.«
Rosemary sprang davon. Joan sah ihre Mutter mit ernster Miene an.
»Wo fahren wir denn hin, Mommy?«, fragte sie.
Charlotte streckte die Hand aus und strich ihr das goldene Haar glatt, das nie glatt gestrichen werden musste. »Wir lassen uns einfach überraschen.«