Guidrys Essen mit Al LaBruzzo am Freitagabend zog sich. Guidry war natürlich so unterhaltsam wie immer, danke der Nachfrage, aber ganz so leicht wie sonst fiel es ihm nicht. Er wurde den Gedanken einfach nicht los, dass die winzig kleine Möglichkeit bestand, dass Seraphine und Carlos vorhatten, ihn umzubringen.
Nein, sei nicht albern.
Doch, es war nur logisch, wenn man darüber nachdachte. Guidry wusste über den Flucht-Eldorado Bescheid und dass er mit dem Attentat zusammenhing. Folglich war er ein Risiko.
Andererseits war er einer von Carlos’ engsten Mitarbeitern und Seraphines Freund und Vertrauter. Er hatte seine Loyalität immer wieder unter Beweis gestellt. Und zwar unzählige Male! Um die aufzuzählen, hatte Al LaBruzzo nicht genug Finger.
Und wenn man es zusätzlich noch aus einer eher praktischen Perspektive betrachtete: Guidry leistete wertvolle Arbeit für die Organisation. Er öffnete Türen, durch die Geld und Macht hereinflossen. Carlos – ein Geizkragen vor dem Herrn – würde niemals eine solche Bereicherung für die Firma, wie Guidry es war, einfach entsorgen. Spare in der Zeit, so hast du in der Not, sagte Carlos doch immer.
Nach dem Abendessen nahm Guidry ein Taxi zum Orpheum und schlüpfte hinein, mitten im Film, eine Westernkomödie mit John Wayne und Maureen O’Hara, die auf einer Ranch herumalberten. Das Kino war nahezu leer.
Den Eldorado verschwinden lassen.
Und dann den Mann verschwinden lassen, der den Eldorado hatte verschwinden lassen. Den Mann, der über Dallas Bescheid wusste.
Der Projektor ratterte. Im Lichtschein der Vorführerkabine stieg Zigarettenrauch auf und verdichtete sich zu Wolken. Im Saal verteilt saßen drei Pärchen sowie zwei weitere Einzelgäste wie Guidry. Niemand war hereingekommen, seit er sich in den Sitz hatte fallen lassen. Er war sich auch so gut wie sicher, dass niemand seinem Taxi die Canal Street hinauf gefolgt war.
Oder aber Guidry ließ gerade seine Fantasie mit sich durchgehen. Diese Möglichkeit bestand. Er hatte selbst schon mitbekommen, wie es anderen passiert war, die schon zu lange dabei waren. Die Belastungen ihres speziellen Berufsstandes höhlten sie langsam aus wie salzige Gischt weiches Holz, und sie brachen einfach zusammen.
Vielleicht bild ich’s mir auch nur ein. Das hatte Mackey Pagano zu Guidry gesagt, als er ihn angefleht hatte herauszufinden, ob Carlos es auf ihn abgesehen hatte. Vielleicht bild ich’s mir auch nur ein.
Aber Mackey hatte es sich nicht nur eingebildet, oder? Carlos hatte es tatsächlich auf ihn abgesehen, und jetzt war Mackey mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot.
Was hatte Mackey am Dienstagabend im Monteleone noch gesagt? Guidry versuchte, sich zu erinnern. Irgendetwas über einen Typen aus San Francisco, dieses Attentat auf einen Richter vor einem Jahr, gegen das Carlos sich letztendlich entschieden hatte.
Das war die Art von Arbeit, die Mackey in den letzten paar Jahren gemacht hatte: sich um Spezialisten von außerhalb gekümmert, wenn Carlos hier in New Orleans niemanden an der Hand hatte, der den Auftrag für ihn ausführen konnte.
Spezialisten, externe Dienstleister. Wie zum Beispiel einen Scharfschützen, der in der Lage war, den Präsidenten der Vereinigten Staaten mit einem Präzisionsschuss zu erledigen und sich danach mit einem himmelblauen Eldorado aus dem Staub zu machen.
Guidry konnte das Affentheater auf der Leinwand nicht länger ertragen. Noch bevor der Film zu Ende war, verließ er das Kino und ging zu Fuß zurück zu seinem Apartmentgebäude. Er war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass niemand ihm folgte.
Das abgeblasene Attentat auf den Richter letztes Jahr … vielleicht war das eins von Seraphines ausgeklügelten Ablenkungsmanövern gewesen. Guidry wusste, wie sie arbeitete. Sie hatte sich die entstandene Verwirrung zu Nutze gemacht und den Scharfschützen angeheuert, den Carlos heute zur Dealey Plaza geschickt hatte.
Vor ein paar Tagen musste sich Mackey einen kleinen Teil des Puzzles zusammengereimt haben. Und erkannt haben, dass er über gefährliches Wissen verfügte.
Und jetzt war Guidry hinter denselben Teil des Puzzles gekommen. Jetzt verfügte er über dasselbe gefährliche Wissen. Klar, warum die Sache nicht noch brenzliger machen, wenn wir schon dabei sind? Herr des Himmels. Guidrys Tag wurde auch immer beschissener.
Aber noch gab es Hoffnung. Es war immer noch möglich, dass das, was mit Mackey passiert war, reiner Zufall gewesen war, dass Carlos ihn aus Gründen umlegen lassen hatte, die gar nichts mit dem Attentat zu tun hatten.
Guidry kannte da jemanden, der vielleicht Licht in die Sache bringen konnte. Bei seinem Apartmentgebäude angekommen, mied er die Lobby und ging gleich in die Garage. Chick, der Garagenwächter, saß in sich zusammengesunken in seinem Kabuff und starrte auf das Radio, als wäre es sein eigenes liebes Mütterlein, das in Dallas erschossen worden war. Die Schwarzen glaubten, Jack Kennedy liebte sie. Tut mir leid, dir diese Illusion rauben zu müssen, Chick, aber Jack Kennedy war wie jeder andere gerissene Fuchs auch: Der Einzige, den er liebte, war er selber.
»Hol mir doch mal den Wagen, Chick«, bat Guidry.
»Selbstverständlich, Mr. Guidry, Sir. Haben Sie die Nachrichten gehört? Ogottogott.«
»Du weißt ja, was in der Bibel steht, Chick: ›Wenn ihr ins Feuer geht, werdet ihr nicht brennen.‹«
»Ja, da haben Sie recht.« Chick schnaubte sich in ein Taschentuch. »Da haben Sie wirklich recht.«
Guidry fuhr über die Brücke auf die West Bank. Zuerst versuchte er es beim Schrottplatz. Armand war nicht in seinem kleinen Verschlag von Büro, das war eine Überraschung. Guidry klopfte an die Tür, bis ihm die Knöchel taub wurden. Nicht weiter schlimm. Er wusste, wo Armand wohnte. Nicht weit von hier, in Algiers Point, eine nette kleine Wohngegend mit lauter Shotguns, diesen schmalen, lang gestreckten Häusern.
Armands Frau machte ihm die Tür auf. Esmeralda, verblichene Cajun-Schönheit, klägliches Überbleibsel einer einstmals glorreichen Bevölkerungsgruppe. Guidry wünschte, er hätte sie zu ihren Hoch-Zeiten gekannt. Wie ein pummeliger, dauerquasselnder Waffenschieber wie Armand sich so eine Sahneschnitte an Land hatte ziehen können, war ihm ein wirkliches Rätsel.
Jetzt gerade hatte aber ein anderes Rätsel Vorrang. Guidry hoffte inständig, dass Armand ihm helfen konnte, es zu lösen. Armand kannte Mackey seit fast einem halben Jahrhundert. Die beiden waren zusammen aufgewachsen. Armand würde wissen, womit Mackey in letzter Zeit seine Brötchen verdient hatte.
»Entschuldige die Störung, Esme, ich weiß, es ist schon spät«, sagte Guidry. Spät, aber im Haus brannte überall Licht, und aus der Küche drang der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee. Seltsam.
»Hallo, Frank«, begrüßte ihn Esme.
»Ich suche Armand. Im Büro ist er nicht.«
»Hier zu Hause ist er auch nicht.«
»Wäre schön, wenn ich dich einfach von ihm wegklauen könnte, Esme«, sagte Guidry. »Ich weiß, ihr seid schon ne ganze Weile verheiratet, aber verrat mir, was ich tun muss, und ich werde nicht lockerlassen.«
»Er ist nicht zu Hause«, wiederholte sie.
»Nein? Weißt du, wo er ist?«
Seltsam war auch, dass Esme Guidry noch nicht hereingebeten und ihm auch keine Tasse Kaffee angeboten hatte. Immer sonst, wenn Guidry vorbeigeschaut hatte – hin und wieder im Laufe der Jahre –, hatte sie ihn förmlich ins Haus gezerrt, ihn nicht mehr vom Sofa aufstehen lassen und mit ihm geflirtet, als sei sie gerade mal siebzehn. Normalerweise musste Guidry einen auf Houdini machen, um sich überhaupt loszueisen.
Und warum liefen weder Fernseher noch Radio, wenn sie so spät noch auf war? Esme würde sich für Jackie Kennedy vor die St.-Charles-Tram werfen.
»Er ist zum Fischen gefahren«, sagte Esme. »Ein paar Tage raus an den Atchafalaya. Du weißt doch, wie gerne er da draußen ist.«
Klar, im Frühling, wenn die Barsche bissen. Aber im November? »Wann ist er wieder da?«, fragte Guidry.
»Das weiß ich nicht.«
Sie lächelte, ganz ohne erkennbare Anspannung. Aber Guidry konnte es spüren. Da war etwas. Furcht? Er spähte an ihr vorbei ins Haus und entdeckte einen Koffer an der Küchentür.
»Meine Schwester in Shreveport.« Esme beantwortete die Frage, noch bevor Guidry sie stellen konnte. »Am Wochenende fahre ich mit dem Bus zu ihr rauf.«
»Wie kann ich Armand erreichen?«, fragte Guidry.
»Das weiß ich nicht. Auf Wiedersehen, Frank.«
Sie schloss die Tür. Guidry ging langsam zurück zu seinem Auto. Armand war tot. Guidry wehrte sich gegen diesen Schluss, aber er war der einzige, zu dem er kommen konnte. Armand war umgelegt worden, genau wie Mackey, und Esme wusste es. Sie hatte eine Heidenangst, dass Carlos sich an ihr rächen würde, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen davon erwähnte. Schlau, die Gute.
Mackey war umgelegt worden, weil er den Scharfschützen angeheuert hatte.
Und Armand war umgelegt worden, weil … Das war einfach: Weil er Carlos’ diskreteste und zuverlässigste Quelle war, was Waffen anging. Man würde es von Armand nicht vermuten, da in seinem Schrottplatzverhau, aber er konnte jedwede Art von Waffe besorgen und an jeden beliebigen Ort liefern.
Die Hinweise häuften sich. Carlos durchtrennte die Fäden, die ihn mit dem Attentat verbanden. Und der Nächste würde kein anderer sein als Guidry selbst.
Nein, Blödsinn. Guidry war ein wertvolles Mitglied et cetera, sein Posten in der Organisation nur ein oder zwei Stufen unter dem von Seraphine et cetera. Guidry stellte fest, es klang nicht so beruhigend, wie er zunächst angenommen hatte. Von hier oben konnte er das Ganze überblicken, konnte genau genommen zu viel sehen und all die Teile des Puzzles zusammenfügen.
Und was war mit dem nervös gewordenen Deputy Chief in Dallas, dem Grund, warum Seraphine ihn überhaupt dorthin geschickt hatte? Galt das als ein weiterer Schlag gegen Guidry?
Als Guidry zurück über die Brücke über den Mississippi fuhr, erinnerte ihn das dunkle Wasser unter ihm an den Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte. Omen und Vorzeichen.
Carlos und Seraphine hätten jeden x-Beliebigen in der Organisation damit beauftragen können, den Flucht-Eldorado in Houston zu entsorgen, jemanden, den man nicht weiter vermissen würde. Warum musste es unbedingt Guidry sein? Vielleicht, weil sie längst beschlossen hatten, dass seine Zeit abgelaufen war.
In einem billigen Motel draußen in Kenner nahm er sich ein Zimmer. Er glaubte nicht, dass Seraphine etwas unternehmen würde, bevor er den Eldorado in Houston abgeladen hatte, aber er wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Guidry hatte immer einen gepackten Koffer im Auto. Zahnbürste, Kleidung zum Wechseln, zweitausend Dollar in bar. Am Samstagmorgen stand er im Terminal des Moisant-Field-Flughafens und studierte die Abflugtafel. Der Flug nach Houston, den Seraphine für ihn gebucht hatte, ging um zehn. Einer nach Miami um halb elf.
Guidry könnte den Flug nach Miami nehmen und versuchen zu verschwinden. Aber angenommen, er stand gar nicht auf Carlos’ Liste. Wenn Guidry sich jetzt aus dem Staub machte, würde er sich damit geradewegs auf Platz eins katapultieren, herzlichen Glückwunsch auch.
Wenn er abhaute, würde er alles zurücklassen müssen. Sein gesamtes Leben. Das Lächeln, das freundliche Nicken zur Begrüßung, die Hotelpagen im Monteleone, die sich fast überschlugen, um ihm die Tür aufzuhalten, und die hübschen Rothaarigen und Brünetten, die ihn quer durchs Lokal anstarrten.
Sein Notgroschen war da, wo er hingehörte, in seiner Wohnung. Wie zum Teufel sollte er für immer verschwinden mit nur zwei Riesen in der Tasche?
Vielleicht hatte Seraphine jemanden am Flughafen, der ihn beobachtete. Guidry ließ diese Möglichkeit keineswegs außer Acht. Also schlenderte er an die Bar, bestellte sich eine Bloody Mary und flirtete mit der Cocktail-Kellnerin. Unter Druck? Doch nicht Frank Guidry.
Nach dem letzten Aufruf vom Gate stieg er in das Flugzeug nach Houston. Carlos würde ihn nicht abservieren. Das würde Seraphine nicht zulassen. Armand und Mackey – das waren Männer fürs Grobe, leicht zu ersetzen. Aber Guidry war die rechte Hand der rechten Hand des Königs höchstpersönlich und somit unantastbar. Das hoffte er zumindest.
Das Rice, an der Ecke Main und Texas, war das schickste Hotel in Houston, mit einem Pool im Keller und einem Tanzpavillon auf dem Dach. Überall sah man schon die Thanksgiving-Dekorationen: ein Papiermaché-Truthahn mit Pilgerväterhut, ein Füllhorn, aus dem sich Wachsäpfel und – kürbisse ergossen. Aber in der Lobby herrschte Begräbnisstimmung, nur leise Schritte und gedämpfte Stimmen. Kennedy hatte die Nacht vor seiner Ermordung hier in einer Suite verbracht. Vermutlich ein vergnüglicher Abend, nach den Geschichten zu urteilen, die Guidry über ihn gehört hatte.
Von Guidrys Zimmer im achten Stock des Rice sah man hinunter auf den gebührenpflichtigen Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Der himmelblaue Cadillac Eldorado stand ganz hinten in der Ecke, die Chromteile blitzten in der Sonne. Eine Zeit lang beobachtete Guidry den Wagen. Und den Parkplatz. Dann zählte er erneut sein Geld. Zweitausendeinhundertsiebenundvierzig Dollar. Er rief in der Rezeption an und ließ sich vom Zimmerservice ein Clubsandwich, eine Flasche Macallan und einen Kübel Eis bringen. Bloß nicht als Henkersmahlzeit ansehen. Bloß nicht. Er hing sein Jackett innen an die Badezimmertür und ließ die Dusche laufen, heiß, um die Falten aus dem Wollstoff zu dampfen.
Um vier Uhr dreißig überquerte er die Straße, streifte sich die italienischen Fahrerhandschuhe aus Kalbsleder über und ließ sich hinter das Lenkrad des Eldorado gleiten. Nach Süden Richtung La Porte, mit runtergerolltem Fenster, um den Mief von Schweiß, Camels und Haaröl loszuwerden, der noch im Wagen hing. Wo war er jetzt, der Spezialist aus San Francisco, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte und dann mit dem Eldorado aus Dallas hierhergefahren war. Längst verschwunden, vermutete Guidry. Auf die eine oder andere Weise.
Er hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und hielt Ausschau, ob er verfolgt wurde. Ein paar Blocks vor der La Porte fuhr er auf den vollen Parkplatz eines mexikanischen Restaurants.
Der Rücksitz war sauber. Er öffnete den Kofferraum. Wieso? Das wusste Guidry selbst nicht so genau. Er wollte einfach alles herausfinden, was er konnte. So war er als Kind schon gewesen, als er noch in Windeln herumlief.
Ein alter Armeesack, verwaschenes olivgrünes Segeltuch, oben mit Kordelzug. Guidry öffnete ihn. Darin befand sich, eingewickelt in ein Arbeitshemd aus Jeansstoff, eine Repetierflinte mit einem Zielfernrohr mit Vierfachvergrößerung. Ein Karton 6,5-Millimeter-Patronen, ein paar Messinghülsen. Ein Fernglas. Auf dem bestickten Aufnäher des Hemdes stand Dallas Municipal Transit Authority.
Guidry zog den Sack wieder zu und schloss den Kofferraum. In östlicher Richtung auf der La Porte, vorbei an ein paar Meilen mit neuen Reihenhäusern in Fertigbauweise, die in sich zusammenfallen würden, sobald man sie scharf ansah. Die Häuser gingen in Raffinerien, Chemiefabriken und Schiffswerften über. Nach der Humble-Oil-Raffinerie, der letzten in der Reihe, kam ein langes Stück unberührtes Sumpfgebiet mit Kiefern. Ha, welche Lust im unwegsamen Walde. Welcher zugedröhnte englische Dandy hatte das doch gleich geschrieben? Guidry konnte sich nicht erinnern. Coleridge oder Keats, Byron oder Shelley. Einer von denen. Ich werde nicht den Menschen abgewandt, doch mit Natur vertrauter in den Stunden.
Hinter ihm ging die Sonne unter. Na ja, eigentlich war es gar keine richtige Sonne gewesen, nur ein glänzender grauer Fleck im dunkleren Grau des Himmels, der an den durchgescheuerten Ellbogen eines billigen Jacketts erinnerte.
Keine anderen Autos, weder in seiner Richtung noch in der entgegengesetzten, seit er die Humble-Raffinerie hinter sich gelassen hatte. Die nicht gekennzeichnete Straße entpuppte sich als ein schmaler einspuriger Pfad aus kaputtem Asphalt und schwarzem Schlamm, der mitten durch die Bäume gebrochen worden war.
Guidry bog in ihn ein und hielt dann an. Weiterfahren? Oder wieder zurück? Den Motor im Leerlauf, dachte er nach. Sein Vater spielte früher gerne ein Spiel, wenn er ein bisschen besoffen war oder ziemlich besoffen oder überhaupt nicht besoffen und sich langweilte. Dann hielt er ihnen die Hände hin und befahl Guidry oder seiner kleinen Schwester, sich eine auszusuchen, rechts oder links. Dieses Spiel konnte man nicht gewinnen. Die eine Hand bedeutete einen Schlag mit der Faust, die andere einen Schlag mit der flachen Hand. Wenn man die Nerven verlor und nicht rechtzeitig wählte, bekam man einen von jeder Sorte verpasst. Der gute alte Pop kriegte sich jedes Mal kaum wieder ein vor Lachen.
Die Straße führte zu einem durchhängenden Maschendrahtzaun. Das Tor war offen. Die untere Hälfte des daran befestigten Holzschilds war abgesplittert. Nur ein großes rotes NO war noch übrig.
Omen und Vorzeichen. Guidry fuhr weiter, zwischen den Reihen verrosteter Metalltonnen rechts und links hindurch, jede einzelne so groß wie ein Haus. Beim Dock angekommen, stellte er den Wählhebel des Eldorado auf Parken und stieg aus. Irgendetwas, vielleicht der von Unkraut durchsetzte Schlamm unten an den Öltanks, brannte in seinen Augen – ein penetranter, erdiger Fäulnisgestank, ein durchdringender, giftiger Chemiegeruch.
Als Guidry dann sieben oder acht war, hatte er sich geweigert, dieses Spiel seines Vaters mitzuspielen – er hatte sich einfach geweigert, sich eine Hand auszusuchen. Ein kleiner Akt der Rebellion, den er teuer bezahlt hatte, aber Guidry mochte keine Überraschungen. Lieber hatte er den Faustschlag und die Ohrfeige kassiert, als nicht zu wissen, was auf ihn zukam.
Er sah sich um. Kein Aufglänzen von Metall, kein Rascheln, das auf eine plötzliche Bewegung hingedeutet hätte. Aber das würde er wohl auch kaum mitbekommen, oder?
Eine schwere Kette war zwischen zwei Eisenklampen gespannt, aber der Schlüssel steckte im Vorhängeschloss. Seraphine hatte Guidry die ganze Sache einfach gemacht. Oder dem Mann, den sie ihm hinterhergeschickt hatte, um ihn umzubringen. Pack Guidry in den Kofferraum, wenn du fertig bist. Dann ab mit dem Auto in den Kanal.
Er zerrte die Kette zur Seite und schob den Eldorado zum Ende des Docks. Der massige Wagen hing für einen Sekundenbruchteil über der Kante – Schnauze nach unten, als ob er am Wasser schnüffelte –, dann glitt er hinein und verschwand, fast ohne eine Welle zu verursachen.
Zu Fuß lief er quer durch den Wald zurück zur La Porte. Dabei atmete er tief ein und aus. Mit jedem Schritt beruhigte sich Guidrys Herzschlag ein wenig mehr. Was er jetzt brauchte, waren ein Drink, ein Steak und eine Frau. Plötzlich musste er auch aufs Klo, und zwar sehr dringend.
Er war noch am Leben. Ihm war nichts passiert.
An der Tankstelle auf der La Porte sah ihn der Tankwart komisch an. »Wo ist denn Ihr Auto, Mister?«
»Ungefähr ne Meile die Straße rauf. Bewegt sich gerade in westlicher Richtung mit vierzig Meilen in der Stunde. Meine Frau sitzt am Steuer«, antwortete Guidry. »Hoffentlich sind Sie nicht verheiratet, mein Freund. Ist die reinste Achterbahnfahrt.«
»Bin ich nicht«, sagte der Tankwart. »Hätte aber nichts dagegen.«
»Stellen Sie sich mal gerade hin.«
»Wie?«
»Wenn Sie Glück bei den Damen haben wollen«, fuhr Guidry fort. Er war gerade in großzügiger Stimmung. »Kopf hoch, Schultern nach hinten. Verhalten Sie sich selbstbewusst. Widmen Sie der Dame Ihre gesamte Aufmerksamkeit. Gibt’s hier ein Telefon, das ich mal benutzen könnte?«
Ein Münzfernsprecher an der Seite des Gebäudes. Mit dem ersten Dime rief Guidry sich ein Taxi. Mit dem zweiten rief er Seraphine an.
»Keinerlei Probleme«, sagte er.
»Aber natürlich nicht, mon cher.«
»Also dann.«
»Übernachtest du im Rice?«, fragte sie.
»Onkel Carlos sollte besser die Rechnung übernehmen.«
»Wird er. Viel Vergnügen.«
Zurück in der Tankstelle ertappte Guidry den Tankwart dabei, wie er vor der Fensterfront am Eingang seine Haltung anhand seines Spiegelbildes überprüfte. Kopf hoch, Schultern nach hinten. Vielleicht würde er’s ja irgendwann hinbekommen. Guidry erkundigte sich nach der Herrentoilette, woraufhin der Tankwart ihn wieder nach draußen schickte, diesmal auf die Rückseite des Gebäudes.
Nur für Weiße. Guidry betrat die einzige Kabine, setzte sich und befreite sich zu seiner großen Erleichterung von dem brennenden Rumoren, das seit vierundzwanzig Stunden in seinen Eingeweiden geherrscht hatte. Auf der Betonziegelwand neben dem Klo hatte jemand etwas mit dem Messer eingeritzt.
Hier sitz ich nun, ich armer Tor,
Bin so verstopft als wie zu
Das war’s. Entweder war dem Dichter die Inspiration ausgegangen, oder er hatte sein Geschäft doch noch erledigt.
Als Guidry aus der Toilette kam, war das Taxi bereits da. Es setzte ihn vor dem Rice ab, und er steuerte direkt den Capital Club an. Dort entdeckte er die ein oder andere vielversprechende texanische Schönheit, aber eins nach dem anderen. Guidry setzte sich an die Bar und bestellte einen doppelten Macallan, pur, dann noch mal dasselbe und ein Rib-Eye-Steak mit Rahmspinat.
Einer der Bartender, blondes Haar so hell, dass es fast weiß wirkte, kam unauffällig zu ihm herübergeschlendert und fragte aus dem Mundwinkel, ob er Gras kaufen wollte. Warum eigentlich nicht? Seraphine hatte ihm doch ausdrücklich aufgetragen, seinen Abend zu genießen, oder? In zehn Minuten sollte Guidry den Barmann in der kleinen Gasse hinter dem Hotel treffen.
Guidry hatte den letzten Schluck Macallan getrunken. Übernachtest du im Rice? Das hatte Seraphine ihn am Telefon gefragt. Warum sollte sie sich vergewissern wollen? Sie hatte doch sein Hotelzimmer gebucht und wusste, dass sein Rückflug morgen früh ging. Warum wollte sie sich vergewissern, und warum fiel es Guidry erst jetzt auf?
»Ich bin vielleicht ein Esel«, sagte Guidry laut.
Der Barmann sah ihn wachsam an. »Bitte?«
»Ich hab mein Portemonnaie oben vergessen.« Guidry zwinkerte ihm zu. »Gleich wieder da.«
Er verließ die Bar, ging durch die Hotellobby, an den Aufzügen vorbei und aus der Drehtür nach draußen. Der Page in der überdachten Einfahrt bot an, ihm ein Taxi zu rufen, es würde nur eine Minute dauern. Die hatte Guidry aber nicht. Er ging bis zum Ende des Blocks, bog um die Ecke – und fing an zu rennen.