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Am Sonntagnachmittag stieg Barone in den Flieger nach Houston. Im Flugzeug blätterte er durch das Life-Magazin von letztem Monat. Die NASA hatte vierzehn neue Astronauten rekrutiert. Bürstenhaarschnitt, wache Augen, kantiges Kinn. Für Barone sah einer aus wie der andere. Für Gott, ihre Mutter und das Vaterland. Wenn sie sich unbedingt an einer Bombe festschnallen und durchs All sausen wollten, bitte sehr, Barone würde sie nicht davon abhalten.

Sein Sitznachbar kam aus Dallas. Er erzählte Barone, dass alle in seinem Büro applaudiert hätten, als sie von der Sache mit Kennedy erfuhren. Endlich war er abserviert. Der Mann sagte, er wüsste gar nicht, was an Kennedy das Schlimmste war: dass er Katholik, Liberaler oder Negerfreund war. Er könnte wetten, dass Kennedy irgendwo auch jüdisches Blut in sich hatte. Aus zuverlässiger Quelle wüsste er auch, dass das Oval Office eine spezielle Telefonverbindung zum Vatikan hatte. Jack und Bobby erhielten ihre Anweisungen nämlich direkt vom Papst. Die Zeitungen vertuschten das Ganze, weil sie Juden gehörten. Dann wollte er wissen, was Barone dazu sagte.

»Ich bin katholisch«, entgegnete Barone. Es stimmte zwar nicht, oder zumindest nicht mehr, aber er wollte sehen, was der Mann für ein Gesicht machte.

»Na …«, stotterte der Kerl. »Also …«

»Und ich bin mit nem schwarzen Mädchen verheiratet. Sie holt mich vom Flughafen ab, falls Sie sie mal kennenlernen wollen.«

Der Mann erstarrte. Er kniff die Lippen so fest zusammen, dass sie fast verschwanden. »Kein Grund, ausfallend zu werden, Freund. Ich habe nicht vor, einen Streit anzufangen.«

»Von mir aus gerne«, entgegnete Barone. »Ich hab nichts gegen Streit.«

Der Mann sah sich nach einer Stewardess um, damit sie bezeugte, wie sehr Barone sich danebenbenahm. Als sich keine zeigte, schnaufte er entrüstet und schlug lautstark seine Zeitung auf. Während des restlichen Fluges nach Houston ignorierte er Barone.

Um Viertel vor sechs landete das Flugzeug am Municipal-Flughafen. Barone trat gerade rechtzeitig aus dem Terminal, um noch das letzte Tageslicht am Horizont verglühen zu sehen. Vielleicht fackelte auch nur gerade eine Raffinerie Gas ab. Die Luft in Houston war noch feuchter und drückender als in New Orleans.

Eins von Carlos’ kleinen Helferlein hatte ein Auto für ihn auf dem Flughafenparkplatz bereitgestellt. Barone warf seine Aktentasche auf den Rücksitz. Unter dem Sitz befand sich eine .22er Browning Challenger. Barone ging zwar nicht davon aus, dass er eine Waffe brauchen würde, aber durch ein Übermaß an Vorsicht war noch niemand im Kühlfach eines Leichenschauhauses gelandet. Er schraubte den aufgesetzten Schalldämpfer ab und prüfte den Lauf auf Rückstände. Dann prüfte er das Magazin und den Schlitten. Aus nächster Nähe war die Browning zielgenau und relativ geräuscharm.

Sein Sitznachbar aus dem Flugzeug ging über den Parkplatz. Barone nahm ihn ins Visier und folgte ihm mit der Waffe, bis er sein Auto gefunden hatte, einstieg und wegfuhr. Vielleicht ein andermal, Freund.

Stau. Barone kroch im Schneckentempo vorwärts. Bis zum Old Spanish Trail brauchte er zwanzig Minuten. Das Bali Hai Motor Court Lodge war ein zweigeschossiges, L-förmiges Schalsteingebäude, das einen Pool umschloss. Alle paar Sekunden veränderte sich die Farbe der Lichter im Pool von Grün zu Lila, von Lila zu Gelb und von Gelb wieder zurück zu Grün.

Barone parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einem eingeebneten Barbecue-Lokal. Auf dieser Seite des Highway 9 wurde bereits großflächig gebaut und die an der Straße liegenden Gaststätten, Tankstellen und Motels abgerissen, um Platz für ein neues Stadion nebst Parkplatz zu schaffen. Wenn es fertig war, würde das Stadion ein Dach haben, eine riesige Kuppel, die man schon von weither würde sehen können. Astronauten und ein Astrodome, wie das neue Stadion heißen sollte, das war die Zukunft. Bislang ragten nur eine Handvoll gebogener Stahlträger in den Himmel. Sie sahen aus wie die gekrümmten Finger einer Hand, die versuchte, sich aus dem Erdboden ans Tageslicht zu wühlen.

Das Bali Hai hatte zwei Treppenaufgänge, die zu dem nach einer Seite offenen Korridor vor den Zimmern im ersten Stock führten. Letzte Woche war Barone bereits hier heraus gefahren, um sich das Ganze genauer anzusehen. Eine Treppe lag ganz am nördlichen Ende des Gebäudes. Die andere in der Mitte, im Knick des Ls, auf der Rückseite. Nur das Zimmermädchen benutzte diese Treppe. Vom Pool, dem Highway oder dem Motel-Büro aus war sie nicht einzusehen.

Die Zielperson hatte ein Zimmer im ersten Stock, das unmittelbar an der Treppe in der Mitte lag. Nummer 207. Laut Seraphine würde die Zielperson gegen fünf Uhr einchecken. Barone konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob der Mann bereits auf dem Zimmer war oder nicht. Im Zimmer brannte zwar Licht, aber die Vorhänge waren zugezogen.

Barone richtete sich auf seinem Beobachtungsposten ein. Wenn er Glück hatte, würde die Zielperson vor die Tür treten, um frische Luft zu schnappen. Manche Leute hatten nichts dagegen, einen Auftrag spontan auszuführen. Nicht so Barone. Er war gerne so gut vorbereitet wie möglich. Laut Seraphine war die Zielperson sehr groß. Barone wollte sich selbst ein Bild machen, wie groß.

Bei der Zielperson handelte es sich um einen externen Dienstleister aus San Francisco, der sich Fisk nannte. Das war alles, was Barone über ihn wusste. Das, und dass er gut mit einem Zielfernrohr umgehen konnte. Scharfschützen waren meist ziemlich schräge Vögel. Vor Jahren hatte Barone mal einen gekannt, der sich kaum selbst die Schnürsenkel binden konnte. Aber wenn man ihm einen Deutschen im Gebüsch in dreihundert Metern Entfernung gezeigt hatte – Peng.

Dreißig Minuten vergingen. Eine Stunde. Barone gähnte, in Gedanken immer noch beim Krieg. In Belgien war er einmal in seinem Schützenloch eingeschlafen, als seine Kompanie auf einen Angriff der Deutschen vom Wald her wartete. Der Sergeant rüttelte Barone wach und fragte ihn, ob er nicht ganz richtig im Kopf wäre, er wäre immer so gelassen.

Vielleicht war Barone tatsächlich nicht ganz richtig im Kopf. Das hatte er schon in Erwägung gezogen. Und wenn es so war? Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Man wurde mit bestimmten Eigenschaften geboren. Die behielt man sein ganzes Leben. Jeder bekam, was er verdiente.

Es hatte angefangen zu regnen. Auf dem Schild des Bali Hai war ein Hula-Mädchen in einem Bastrock aus Neon abgebildet, das die Hüften schwang. Der Regen, der Schein des Neonschilds und die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos warfen seltsame Umrisse auf Barones Windschutzscheibe, die sich langsam und geschmeidig bewegten wie Tänzer. Er summte die Nummer mit, die gerade im Radio lief, Coltranes Solo aus »Cherokee«.

Um Viertel vor neun hörte der Regen auf. Kurz darauf ging die Tür von Zimmer 207 auf, und das Ziel, Fisk, trat auf den Korridor. Er war tatsächlich riesig. Seraphine hatte nicht übertrieben. Etwa eins neunzig, mit breitem Brustkorb und massigem Bauch, im Vergleich zu dem seine Arme und Beine spindeldürr wirkten. Um die fünfzig. Er hatte sich als Tourist verkleidet und trug ein kurzärmliges Polyester-Hemd in einem dunklen Senfgelb und karierte Hosen.

Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich an die hölzerne Balkonbrüstung. Das tiefe Ende des Pools lag genau unterhalb seines Zimmers. Der Widerschein der Poolbeleuchtung tauchte ihn in ein langsam die Farbe änderndes Wellenmuster. Lila, Gelb, Grün. Als er zu Ende geraucht hatte, schnippte er die Kippe weg und holte einen Kamm heraus. Damit fuhr er sich durch das schüttere Haar. Ein Linkshänder. Sieh an. Dieses Detail hatte Seraphine nicht erwähnt. Darum ließ Barone sich auch immer gern Zeit und sammelte seine eigenen Informationen.

Aus dieser Entfernung konnte er den Gesichtsausdruck der Zielperson nicht erkennen. Fisk wirkte aber nicht nervös. Ein plötzlicher Windstoß fuhr durch die Zweige der Palme am Pool, und Fisk sah kaum hin. Er war knappe zwanzig Kilo schwerer als Barone. Man konnte es allerdings auch andersherum sehen: Barone war knappe zwanzig Kilo leichter.

Fisk war mit Kämmen fertig, inspizierte die Zinken des Kammes und ging dann zurück in sein Zimmer.

Niemand im Pool, der Korridor vor den Zimmern menschenleer. Das Hula-Mädchen auf dem Schild schwang weiter die Hüften. Das Licht von Zimmer 207 war das einzige, das im ersten Stock des längeren Motel-Flügels brannte. Im kürzeren Flügel war alles dunkel. Im Erdgeschoss brannte in zwei Zimmern Licht, aber die Vorhänge waren zugezogen.

Das Büro des Motels lag direkt am Old Spanish Trail. Von der Rezeption aus konnte der Nachtportier die Straße, den Pool, den kurzen Flügel und den Parkplatz sehen. Zumindest das meiste davon. Die Einfahrt vom Old Spanish Trail zum nordöstlichen Teil des Parkplatzes befand sich im toten Winkel.

Die Uhr auf dem Armaturenbrett tickte unaufhörlich weiter. Fisk sollte anfangen, sich Sorgen zu machen. Und so richtig ins Schwitzen kommen. Um Viertel nach neun, also eine Viertelstunde zu spät, fuhr Barone auf den Old Spanish Trail, wendete, fuhr zurück und stellte sich in die nordöstliche Ecke des Bali-Hai-Parkplatzes. Er griff die Aktentasche vom Rücksitz, steckte sich eine ausgebrannte Glühbirne in die Jacketttasche und ging die Treppe in der Mitte des Gebäudes hinauf. Klopf, klopf.

Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Das schüttere Haar auf Fisks Schädel sah aus wie die gewundenen Rillen eines Daumenabdrucks. Er musterte Barone eingehend. »Hast du’s dabei?«

»Was denkst du?«, entgegnete Barone.

Fisk ließ Barone eintreten und schloss die Tür hinter ihm. Mit einem .38er-Police-Positive-Revolver, den er in der Hand hatte, deutete er auf das Bett. »Setz dich, während ich mich selbst davon überzeuge«, sagte Fisk.

»Hast du irgendwas Trinkbares?«

»Nein.«

»Gar nichts? Oder nur nichts, das du mit mir teilen willst?«

Fisk ließ das Schloss der Aktentasche aufschnappen. Er nahm den ersten Umschlag heraus und riss ihn auf. Reisepass. Er prüfte den Pass genauestens, wobei er mit dem Daumennagel an den Ecken knibbelte.

»Wie lange wird das hier dauern?«, fragte Barone. »Ich sollte nämlich nur die Aktentasche abgeben und gleich wieder verschwinden.«

»Halt’s Maul«, sagte Fisk.

Er legte den Reisepass auf den Nachttisch und riss den zweiten Umschlag auf. Flugticket. Das prüfte er ebenso sorgfältig, dann holte er das Geld heraus. Zwei dicke Stapel Scheine.

»Beeindruckender Schuss gestern in Dallas«, sagte Barone. »Wie weit warst du weg, zweihundert Meter?«

Fisk hörte auf zu zählen. Mit völlig ausdruckslosem Blick sah er zu Barone hoch. »Keine Ahnung, wovon du redest.«

»Klar. Mein Fehler.«

Fisk sah ihn noch einen Moment lang unverwandt an. Dann fing er noch mal von vorn mit dem Zählen an.

Barone wartete ab, bis Fisk mit dem zweiten Stapel fast durch war, dann stand er auf. »Also dann.«

»Halt, wart mal«, sagte Fisk.

»Mach’s gut, Kumpel.«

»Da fehlt ein Riese.«

»Darüber weiß ich gar nichts«, sagte Barone.

»Zehn als Anzahlung, fünfzehn, sobald der Auftrag erledigt ist«, erläuterte Fisk. »Das war die Abmachung.«

»Ich bin nur der Überbringer.« Barone schlüpfte schnell durch die Tür auf den Korridor. »Da musst du dich an die Geschäftsführung wenden.«

»Ich hab gesagt warte, Arschloch.«

Barone ging einfach weiter. Er konnte spüren, wie Fisk ihm nachlief, ziemlich flink für so einen schwergewichtigen Typen. Oben an der Treppe versuchte Fisk, Barone an der Schulter zu packen. Barone, der sich für diesen ersten Körperkontakt bereit gemacht hatte, duckte sich, trat zwei Schritte zur Seite und rammte Fisk den Handballen von unten gegen das Kinn. Wäre Fisk kleiner gewesen, hätte der Schlag ihm glatt den Schädel abgetrennt. Barone musste ihm aber gar nicht den Schädel abtrennen. Fisks Kopf flog zurück und knallte gegen die Wand des Korridors.

Benommen nahm Fisk unwillkürlich die Hände nach oben. Barone schlang seinen Gürtel um Fisks Handgelenke, zurrte ihn fest und trat Fisk die Füße weg. Fisk polterte die Treppe hinunter. All diese Körpermasse und nichts, um sie aufzuhalten. Barone hatte jeden Schritt unzählige Male im Kopf durchgespielt. Jetzt kam es ihm so vor, als sähe er sich das Ganze als unbeteiligter Zuschauer an – als sähe er sich die Wiederholung von etwas an, das schon längst geschehen war.

Fisk kam mit voller Wucht unten auf. Barone lief rasch die Treppe hinunter und nahm ihm den Gürtel wieder ab. Fisk lag ausgestreckt auf dem Rücken. Sein Oberkörper sah aus, als würde er nach links rennen, sein Unterkörper, als ob er nach rechts rannte. Er atmete noch, gerade so. Ein Auge war offen, das andere voller Blut. Barone ging in die Hocke und beugte sich über ihn. Jetzt bloß vorsichtig. Es musste echt aussehen: ein Mal ordentlich auf den Boden schmettern. Den Kopf anheben und ihn aufschlagen wie ein Ei am Pfannenrand. Barone packte Fisk an den Ohren.

Irgendwie nahm er das Messer wahr. Glück, oder vielleicht sein Schutzengel. Barone konnte gerade noch die Hand hochnehmen und zwischen seine Rippen und das Messer bringen. Die Klinge glitt durch seine Hand hindurch und kam auf der anderen Seite wieder heraus.

Noch kein Schmerz, nur Überraschung. Barone kämpfte gegen den Drang an, seine Hand wegzureißen. Wenn man das tat, gab man dem anderen das Messer zurück, dann hatte er quasi einen Freischuss und konnte erneut zustechen. Fisk versuchte, sein Springmesser aus Barones Hand zu ziehen. Barone hielt es fest. Jetzt setzte auch der Schmerz ein und wurde immer stärker, wie eine Band, die sich vor einem Konzert aufwärmte, erst ein Instrument, dann nach und nach auch die anderen. Barone hielt weiter das Messer fest. Mit der unverletzten Hand packte er Fisk an den Haaren. Fisk beobachte ihn mit seinem blutigen Auge. Barone riss seinen Kopf hoch und donnerte ihn auf den Fußboden. Dann gingen bei Fisk die Lichter aus.

Was Barone jetzt unbedingt vermeiden musste, war Blut. Wenn er die Klinge jetzt aus seiner Hand riss, würde er alles vollbluten. Also ließ er sie, wo sie war, und ging wieder die Treppe hinauf nach oben. Über dem Waschbecken in Fisks Zimmer zog er langsam und vorsichtig das Messer heraus. Die Hand spülte er mit kaltem Wasser ab und wickelte, so gut es ging, ein Handtuch darum. Für Feinheiten war jetzt keine Zeit.

Alles landete in der Aktentasche: Reisepass, Flugticket, Geld, Fisks .38er, sein Springmesser. Immer mit der Ruhe. Man hat immer mehr Zeit, als der Körper einem weismachen will.

Barone trat auf den Korridor und schloss das Zimmer ab. Er überprüfte die Stelle an der Wand, gegen die Fisk mit dem Kopf geknallt war. Kein Blut. Gut.

Die Glühbirne in der Lampenfassung oben an der Treppe ersetzte er durch die ausgebrannte in seiner Tasche. Wer auch immer Fisks Leiche fände, würde annehmen, das arme Schwein wäre im Dunklen die Treppe runtergestürzt. Kein Mensch würde je darauf kommen, wie er wirklich umgekommen war – oder warum.

Am Fuß der Treppe war kein Blut von Barones Hand zu sehen. Gut. Er warf die Aktentasche auf den Rücksitz des Wagens. Bog auf den Old Spanish Trail. Er konnte nur mit links fahren und musste um das Lenkrad herumgreifen, um Wählhebel und Blinker zu bedienen. Seine Rechte in ihrem Handtuchverband hatte er zwischen die Beine geklemmt.

Der Schmerz spielte unvermindert weiter, in voller Lautstärke und mit allen Instrumenten. Barone ignorierte ihn. Carlos hatte jemanden hier in Houston, einen Junkie-Arzt im mexikanischen Teil der Stadt. Eine Spritze, eine Pille, ein anständiger Verband. Mehr brauchte Barone nicht, und dann wäre er bereit für den nächsten Auftrag.