Fast eine ganze Stunde lang schwebte Charlotte auf Wolke sieben. Sie fühlte sich überglücklich, fast euphorisch. Ich bin dabei, ihn zu verlassen. Ich habe ihn verlassen. Die Mädchen bemerkten ihre gute Laune. Zu dritt sangen sie Lieder – »On Top of Spaghetti (All Covered with Cheese)«, »The Ballad of Davy Crockett« – und zählten Ölpumpen, Pferde und Autos mit Kennzeichen eines anderen Bundesstaats. Der Hund, den Kopf auf Rosemarys Schoß, seufzte zufrieden und schmatzte im Schlaf mit den Lippen.
Aber dann, als sie sich Oklahoma City näherten, ließ sie die Schwere dessen, was sie getan hatte, wieder auf dem Boden der Tatsachen ankommen. Ich habe ihn verlassen. Die Flügel aus Wachs waren geschmolzen, Ikarus war abgestürzt.
Scheidung. Bis zum heutigen Tag hatte sie noch nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung gezogen. Wer tat das auch, an einem Ort wie Woodrow? Man lernte einen Mann kennen, heiratete und blieb an seiner Seite, bis einer von beiden starb. Die Art von Frauen, die ihre Männer verließen und nach Reno oder Mexico durchbrannten – die gab es nur in zwielichtigen Großstädten oder Skandalblättern.
Wenn Charlottes Freundinnen herausfanden, was sie getan hatte, wären sie vollkommen schockiert. Jeder einzelne Mensch, den sie kannte, wäre schockiert. Mit anderen Worten, jeder in Woodrow.
Und die schiere Menge an Fragen, die sich plötzlich auftat, war erdrückend. Musste sie nach Reno oder Mexiko fahren, um die Scheidung zu beantragen? Würde sie einen Anwalt brauchen? Wie viel würde ein Anwalt kosten? Wo würden sie und die Mädchen leben? Wie würde sie den Lebensunterhalt für sie alle verdienen?
Sie hatten die Abzweigung zum Highway 66 erreicht. Noch war es nicht zu spät umzukehren. Wenn sie jetzt umdrehte, genau an dieser Stelle, würde sie wieder zu Hause sein, lange bevor Dooley spätabends durch die Tür gestolpert kam. Sie würde sich wieder so nahtlos in ihr Bett, in ihr Leben, einfügen, als sei nichts hiervon jemals geschehen.
»Mommy? Die Ampel ist grün«, merkte Rosemary an.
»Ich weiß. Ich muss nur kurz nachdenken«, antwortete Charlotte.
Das Auto hinter ihr hupte. Der Mann am Steuer wedelte genervt mit dem Arm. Charlotte bog nach rechts auf den Highway 66 ab und fuhr nach Westen.
»Wir besuchen Tante Marguerite«, sagte sie. Kaum war ihr der Name eingefallen, hatte sie ihn schon ausgesprochen. »In Kalifornien.«
»Wen?«, fragten Rosemary und Joan gleichzeitig.
»Meine Tante. Eure Großtante. Die Schwester meiner Mutter«, entgegnete Charlotte.
Im Rückspiegel sah sie, wie die Mädchen sich ratlos ansahen. Der Hund hob seinen großen Kopf, um das plötzliche Schweigen zu studieren, dann ließ er ihn wieder hinplumpsen und schlief weiter.
»Du hast eine Tante«, stellte Rosemary fest.
»Ja, natürlich. Die habe ich doch bestimmt schon mal erwähnt. Tante Marguerite. Sie wohnt in Los Angeles. In Santa Monica, gleich am Meer.«
Zumindest hatte Marguerite das in der Vergangenheit einmal getan. Sie war nach Kalifornien gezogen, als Charlotte sechs oder sieben war, und nie nach Oklahoma zurückgekehrt, noch nicht einmal zu Besuch. Jedes Mal, wenn Charlotte ihre Mutter nach dem Grund fragte, machte ihre Mutter ein finsteres Gesicht. »Keine Ahnung, und es ist mir auch egal«, sagte sie dann. Und weigerte sich, weiter über das Thema zu sprechen.
Jedes Jahr hatte Marguerite Charlotte eine unpersönliche Geburtstagskarte geschickt: keine Glückwünsche, keine Nachricht, nur ganz förmlich Marguerites voller Name, hastig hingekritzelt, als hätte sie einen ganzen Stapel solcher Karten, durch den sie sich schnellstmöglich hindurcharbeiten müsste.
Als Charlottes Mutter vor fünf Jahren gestorben war, war Marguerite nicht zur Beerdigung erschienen. Die Geburtstagskarten waren lange davor immer seltener geworden und schließlich gar nicht mehr gekommen. Das letzte Mal, dass Charlotte von Marguerite gehört hatte, war … sie konnte sich gar nicht genau erinnern. Jedenfalls bevor sie Dooley geheiratet hatte.
Auch an Marguerite konnte sie sich nicht genau erinnern. Es war so lange her, dass ihre Erinnerungen winzige Bruchstücke von winzigen Bruchstücken waren, die zusammen nicht einmal ansatzweise ein vollständiges Bild ergaben: Marguerite trug Schwarz. Sie hatte sehr kalte Hände und lächelte nie. Sie war rappeldürr und erschreckend groß, einen ganzen Kopf größer als Charlottes Mutter. Sie trug eine schwarze Cateye-Brille. Einmal hatte sie zu Charlottes Mutter »Herrgott noch mal, Dolores!« gesagt.
Wohnte Marguerite noch an dieser Adresse? War sie noch in Kalifornien? Lebte sie überhaupt noch? Wenn ja, wie würde sie darauf reagieren, wenn auf einmal eine lang vergessene Nichte an ihrer Schwelle auftauchte, mit zwei kleinen Mädchen und einem epileptischen Hund im Schlepptau?
Fragen über Fragen. Zu viele.
»Kommt, wir singen noch ein Lied«, sagte Charlotte laut.
»Mommy?«, fragte Rosemary. »Wie lange dauert es noch bis Kalifornien?«
»Ich weiß es nicht genau, Schätzchen.«
»Einen Tag?«
»Das ist wie im Zauberer von Oz«, sagte Charlotte. »Wir müssen nur dem gelben Ziegelsteinweg folgen.«
Charlotte hielt sich nicht lange mit der Ironie dieser Aussage auf. Denn die Moral des Zauberers von Oz war ja, dass Dorothy am Ende begriff, dass es zu Hause am schönsten war.
»Ich will die Vogelscheuche sein«, verkündete Rosemary. »Joan kann der Blechmann sein oder der Feige Löwe.«
»Vielleicht will ja auch Joan die Vogelscheuche sein«, merkte Charlotte an.
»Joan. Willst du die Vogelscheuche sein? Oder willst du nicht viel lieber der Blechmann oder der Feige Löwe sein?«
»Ich kann ruhig der Blechmann oder der Feige Löwe sein«, entgegnete Joan pflichtschuldig.
»Siehst du, Mommy?«, sagte Rosemary.
Um neun Uhr hielten sie in McLean, Texas, an, um dort zu übernachten. Viel später wollte Charlotte nicht mehr unterwegs sein, und die Mädchen waren völlig erschöpft. Mittlerweile befürchtete Charlotte, die unüberlegteste und folgenschwerste Entscheidung ihres Lebens getroffen zu haben. Ich habe ihn verlassen. Jetzt brauchte sie ein freundliches Gesicht, ein aufmunterndes Wort.
Stattdessen fand sie an der Rezeption des Motels eine sauertöpfische Baptistin vor. Die Frau musterte Charlotte. Sie musterte die Mädchen. Dann musterte sie den Hund. Charlotte konnte nicht entscheiden, wer von ihnen der Frau am wenigsten willkommen war.
»Hunde sind nicht erlaubt«, sagte die Frau schließlich. »Unter gar keinen Umständen.«
»Ich verstehe«, entgegnete Charlotte.
»Sie müssen den Hund entweder im Auto lassen oder sich etwas anderes suchen.«
»Er kann im Auto schlafen«, sagte Charlotte. »Das ist kein Problem.«
»Oder Sie suchen sich etwas anderes«, wiederholte die Frau. »Mir ist es egal. Und wir erlauben keinen Herrenbesuch. Unter gar keinen Umständen.«
Also wirklich, dachte Charlotte. Sie war seit fünf Uhr dreißig am Morgen auf den Beinen und hatte gerade dreieinhalb Stunden im Auto gesessen. Sah sie etwa so aus, als erwartete sie Herrenbesuch?
»Ich verstehe«, sagte Charlotte stattdessen.
Die Frau reichte ihr den Zimmerschlüssel, hielt ihn aber am Anhänger fest. Der Blick, mit dem sie Charlotte musterte, war noch säuerlicher als gerade eben. »Wer mit Hunden zu Bett geht, steht mit Flöhen wieder auf.«
Das Zimmer war klein, trostlos und roch, als hätte jemand im Badezimmer Kohl gekocht. Rosemary und Joan hatten jedoch noch nie in einem Motel übernachtet und fanden jedes Detail dieser Erfahrung – die winzigen Seifenstücke, die Werbebroschüre für indianische Kriegstänze in Tucumari – faszinierend.
Charlotte duschte, dann packte sie die restlichen Roastbeef-Sandwiches aus, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie verzehrten sie im Schneidersitz auf einem der Betten.
»Mommy?«, fragte Rosemary. »Lucky hat aber gar keine Flöhe.«
»Das war nur eine Redensart«, erläuterte Charlotte.
»Und was bedeutet das?«
»Es bedeutet … tja, vermutlich, dass man sich seine Freunde mit Bedacht aussuchen sollte.«
»Weil sie Flöhe haben könnten?«, fragte Rosemary. »Und die Flöhe könnten auf einen überspringen, und dann hat man selber Flöhe?«
»So ungefähr, ja.«
Während die Mädchen im Bad waren, knöpfte Charlotte sich den Mantel wieder zu, steckte ihre feuchten Haare in den Kragen und trug die Tagesdecke, auf der sie gesessen hatten, nach draußen, um die Krümel abzuschütteln. Dann verfütterte sie die zweite Hälfte ihres Sandwichs an den Hund und ging mit ihm auf dem zerfurchten Feld hinter dem Motel Gassi. Ihr war ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, ihn die ganze Nacht im Auto zu lassen, allein in der Dunkelheit und Kälte.
An der Motel-Rezeption brannte kein Licht mehr, die säuerliche Baptistin war nirgends zu sehen. Charlotte war es nicht gewohnt, gegen die Regeln zu verstoßen, aber andererseits war sie es auch nicht gewohnt, ihren Mann zu verlassen, die Kinder mitzunehmen und nach Kalifornien zu fahren. Also konnte sie genauso gut aufs Ganze gehen, beschloss sie.
»Komm«, flüsterte sie dem Hund zu. »Beeil dich.«
Der Hund sah sie zweifelnd an.
»Das ist deine letzte Chance«, warnte ihn Charlotte.
Die Mädchen sagten ihre Gebete, Charlotte deckte sie zu und gab jeder einen Kuss auf Stirn, Nase und Kinn. Der Hund beanspruchte das zweite Bett für sich und legte sich mitten darauf. Charlotte musste ihn zur Seite schieben, bevor sie sich selbst hinlegen konnte.
Sie warf noch einen raschen Blick auf die Esso-Straßenkarte und maß die Entfernungen grob mit dem Daumen. Von McLean bis nach Los Angeles waren es mehr als tausend Meilen. Wenn sie morgen früh zeitig loskamen und unterwegs nicht allzu oft anhielten, sollten sie abends in Gallup, New Mexico, sein. Dort könnten sie übernachten und Tante Marguerite anrufen. Dienstag würde ein weiterer langer Tag werden, eine weitere lange Fahrt, die sie vor sich hatten. Wenn allerdings alles glattging, würden sie vielleicht noch rechtzeitig in Santa Monica ankommen, um die Sonne im Pazifik untergehen zu sehen.
Charlotte knipste die Nachttischlampe aus. Rosemary schnarchte bereits, aber in der Dunkelheit konnte Charlotte hören, dass Joan noch grübelte.
»Was ist denn, meine Süße?«, fragte Charlotte leise.
»Rufen wir Daddy noch an?«, fragte Joan ebenso leise zurück.
»Ich hab ihm gesagt, wir rufen ihn morgen an. Ich habe ihm einen Zettel hingelegt.«
Joan dachte darüber nach. »Was, wenn er ihn nicht findet?«
»Ich hab ihn dahin gelegt, wo er ihn ganz sicher findet«, sagte Charlotte.
Und zwar auf die Ablage im Bad, direkt neben die Schachtel Alka-Seltzer. Wenn er heute Nacht nach Hause kam, würde Dooley den Zettel vielleicht nicht entdecken, weil er zu betrunken war, um sich die Zähne zu putzen, aber Charlotte war sich ziemlich sicher, dass er morgen früh als Erstes zu den Kopfschmerztabletten greifen würde.
Joan schien die Antwort zufriedenzustellen. Ihre Atmung wurde ruhiger. Charlotte versuchte, sich auszumalen, wie Dooley reagieren würde, wenn er die Nachricht las und begriff, dass sie und die Mädchen nicht mehr da waren. Dann stellte sie sich vor, was ihre Reaktion wäre, wenn sie eines Tages nach Hause käme und die Mädchen wären nicht mehr da. Es würde sie … vollkommen vernichten. Nichts wäre von ihr übrig, an dem die Krähen picken könnten, wie es in der Bibel hieß, noch nicht mal ihre Handflächen oder Fußsohlen.
Dooley war zwar kein besonders aufmerksamer Vater, aber er war nun mal der Vater der Mädchen. Welches Recht hatte Charlotte, ihm Rosemary und Joan wegzunehmen? Welches Recht hatte sie, die beiden von allen und allem wegzureißen, das ihnen vertraut war, ihrem Zuhause, der Schule, ihrem Vater und ihren Freunden? Sie wollte, dass sie einmal mehr Möglichkeiten hatten, als es je in Woodrow der Fall gewesen wäre. Aber zerstörte sie in Wirklichkeit ihr Leben, anstatt sie zu retten?
Charlotte hörte draußen auf dem Parkplatz eine Autotür ins Schloss fallen und das leise Zischen flüsternder Stimmen. Wieder einmal fiel ihr die Warnung ihrer Mutter ein. Es könnte immer noch schlimmer kommen. Sie stand auf und vergewisserte sich, dass die Kette an der Tür vorgeschoben war.