Guidry wusste, Seraphine würde damit rechnen, dass er sich aus dem Staub machte. Einer ihrer Leute würde an jedem Flugzeug stehen, das in Miami oder L. A. landete, jedem Zug, der am Bahnhof von Chicago oder Kansas City einfuhr, jedem Greyhound-Bus, der in Little Rock, Louisville, hielt, und nur darauf warten, dass er ausstieg.
Er musste das Land verlassen. Mexiko. Vielleicht Zentralamerika. Aber dafür brauchte er Geld, und er brauchte einen Reisepass. Die Welt war unendlich groß. Es konnte doch nicht so schwer sein, irgendwo unterzutauchen. O doch – wenn Carlos Marcello derjenige war, der hinter einem her war.
Dolly Carmichael wohnte hier in Houston. Bestimmt würde sie jede Menge Kontakte in der Gegend haben. Vielleicht einen Freund, der ein Boot hatte? Auf Dolly würde Seraphine vielleicht gar nicht kommen, da sie seit einigen Jahren nicht mehr im Geschäft war. Und Dolly selbst wusste vielleicht auch nicht Bescheid.
War Guidry bereit, darauf sein Leben zu verwetten? Auf Dolly? Er grübelte darüber nach, als er in der Dunkelheit auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor ihrem Haus stand.
Nein, entschied Guidry schließlich. Er konnte es nicht riskieren. Irgendwann würde Seraphine sich an Dolly erinnern. Und Dolly würde ihn verraten. Das menschliche Herz war ganz allgemein ein Klumpen Niedertracht, aber das von Dolly ganz besonders.
Also drehte er sich um und ging wieder. Der letzte Bus von der Scott Street setzte ihn am Old Spanish Trail ab. Hier gab es ein Dutzend Motels zur Auswahl. Er suchte sich eins mit Astronautendekor aus. Der Portier reichte ihm einen Zimmerschlüssel, der an einer Miniaturrakete aus Balsaholz hing. Eine Mondrakete! Guidry fand, in seiner gegenwärtigen Lage musste man sich seinen Sinn für Humor bewahren.
Er schlief wie ein Murmeltier – falls Murmeltiere jedes Mal aufschreckten, wenn der Wind am Fenster rüttelte oder eine Fliege vorbeisummte. Am nächsten Morgen ging er in den Imbiss nebenan. Er bestellte sich einen Teller Corned-Beef-Hash mit zwei Spiegeleiern obendrauf. Heißen schwarzen Kaffee, bitte, und zwar reichlich. Der Mann am Nachbartisch bot ihm einen Teil seiner Sonntagszeitung an. Nein, danke. Jetzt gerade konnte Guidry nicht noch mehr schlechte Nachrichten gebrauchen.
Guidry wusste, wie man sich Freunde machte. Das war sein besonderes Talent, seine wertvollste Fähigkeit. Im Laufe der Jahre, die er für Carlos gearbeitet hatte, hatte er unzählige Drinks spendiert, unzählige Schmiergelder verteilt, über unzählige schlechte Witze gelacht und sich mit überzeugender Anteilnahme unzählige Leidensgeschichten angehört. Er hatte ein Mädchen in jedem Hafen. Ein Mädchen, einen Handlanger, einen Buchmacher und einen stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt. Aber wen von ihnen konnte Guidry jetzt, da er es sich mit Carlos verscherzt hatte, um Hilfe bitten? Jeder Einzelne würde Guidry verraten, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ihm ging es wie Tantalus in der Hölle, der vor Durst umkam, obwohl ihm das kühle Wasser fast bis zum Kinn reichte.
Keine Flugzeuge, keine Züge, keine Busse. Das machte Guidrys nächsten Schritt sehr einfach.
»Gibt’s hier in der Nähe einen Autohändler?«, fragte er die Kellnerin. »Gebrauchtwagen, keine neuen.«
»Warum sehen Sie sich nicht selbst um?«, fauchte die Kellnerin. »Ich halte Ihnen derweil den Teller warm.«
»Sie sind ja der reinste Sonnenschein …«
»Zwei Ampeln weiter, auf der linken Seite. Essen Sie das nicht?«
»Bringen Sie mir ein paar Scheiben weißen Toast. Ohne alles.« Guidry schob den Teller Corned Beef von sich weg. Sein Magen hatte sich von gestern noch nicht wieder erholt. Würde er vielleicht auch nie mehr.
Big Ed Zingel in Las Vegas. Der war der Einzige, der Guidry noch einfiel. Sosehr er sich auch anstrengte. Herr des Himmels, so weit war es mit Guidrys Leben gekommen. Ed mochte Guidry. Er konnte großzügig sein, wenn man ihn in der richtigen Stimmung erwischte. Und – das war der entscheidende Punkt – Ed hasste die Marcello-Brüder genauso sehr, wie Carlos die Kennedys hasste. Wenn man ihm also die Gelegenheit gab, Carlos eins auszuwischen, indem er Guidry half, würde er sicher sofort zustimmen.
Oder auch nicht.
Guidrys Einstellung zum Leben war stets sehr simpel gewesen: Lebe frei und ungezwungen, nimm’s dir nicht zu Herzen, sondern lass es einfach an dir abperlen. Tja, im Moment war das leichter gesagt als getan. Aber er durfte sich nicht gestatten, lange darüber nachzudenken, in was für einer wahrhaft beschissenen Lage er sich befand.
Der Mann am Nachbartisch legte seine Zeitung beiseite. Guidry konnte eine der Überschriften erkennen; es ging um den Chirurgen, der Kennedy im Parkland Hospital in Dallas operiert hatte. Dallas-Doc: »Er hat’s nicht kommen sehen«.
Der Gebrauchtwagenhändler hatte auch sonntags geöffnet. Ein schlaksiger Verkäufer eilte ihm entgegen. Vermutlich war Guidry der erste Kunde an diesem Wochenende.
»Wie geht’s Ihnen?«, begrüßte ihn der Verkäufer. »Bobby Joe Hunt, der Name.«
»Wie Bobby Joe Hunt, der Pitcher der Pittsburgh Pirates?«, fragte Guidry.
»Viel besser«, entgegnete der Verkäufer.
»Nie im Leben.«
»Doch, höchst persönlich.«
Vor ein paar Jahren hatte sich Guidry das Spiel der World Series angesehen, in dem Bobby Joe Hunt komplett versagt hatte. »Haben Sie sich zur Ruhe gesetzt?«
»Nein. Ich arbeite in der spielfreien Zeit hier.«
»Die zahlen euch Jungs nicht genug, was?«, scherzte Guidry.
»Nicht annähernd genug. Was kann ich für Sie tun?«
Guidry sah sich um und entschied sich für einen 1957er Dodge Coronet mit vier abgefahrenen Reifen und einem Hamster im Rad, wo sich eigentlich der Motor hätte befinden sollen. Ganz so schlimm war es vielleicht auch nicht. Mit ein wenig Feilschen konnte Guidry den Preis um zweihundert Dollar herunterhandeln. Bobby Hunt verhandelte besser, als er gegen die Yankees gepitcht hatte. Er erklärte sich bereit, einen Satz runderneuerter Reifen auf den Coronet zu ziehen und die alten Keilriemen auszutauschen.
Guidry fuhr mit dem Wagen zurück zum Motel und packte seinen Koffer. Er stellte sich Seraphine in ihrem Büro draußen am Airline Highway vor. Bei zugezogenen Vorhängen, nur die Schreibtischlampe brannte. Sie wäre sicher die ganze Nacht auf gewesen und hätte mittlerweile alle notwendigen Telefonate geführt. Jetzt säße sie da und rauchte, dachte nach und fragte sich, was er gerade machte. Wo bist du, mon cher? Wo willst du nur hin?
Es gab zwei mögliche Routen, die zu Big Ed Zingel nach Las Vegas führten: die nördliche und die südliche. Entweder die Interstate 75 rauf nach Dallas, dann den Highway 287 nach Amarillo und dann die Route 66. Oder der 90 folgen und dann der neuen Interstate genau nach Westen, nach San Antonio und El Paso. Letztlich war es egal. Er würde eine Münze werfen – Carlos gehörte sowieso jeder Zentimeter von Texas. Zahl. Gen Norden, junger Mann. Warum nicht?
Downtown Dallas an einem Sonntagnachmittag war der reinste Friedhof. Die Bullen hatten Dealey Plaza noch immer abgeriegelt, sodass Guidry einen großen Umweg machen musste. Vierzig Meilen östlich von Amarillo hielt er an, um den Dodge aufzutanken und etwas zu Abend zu essen. Eine kleine Stadt namens Goodnight. Kein guter Name. Omen und Vorzeichen.
Neben der Tankstelle gab es einen Diner. Guidry setzte sich an die Theke und bestellte das chicken fried steak. Es entsprach genau der Beschreibung: ein Hacksteak in einer Fried-Chicken-Panade, bedeckt von einer Sahnesauce, um dieses kulinarische Verbrechen zu verstecken. Guidry versuchte, nicht daran zu denken, dass er vermutlich nie wieder in den Genuss einer richtigen Roux oder eines Rote-Bohnen-Eintopfs kommen würde, der den ganzen Tag vor sich hin geköchelt hatte. Komisch, was einem wichtig war, die kleinen Dinge eben.
»Ich kann’s einfach nicht fassen«, sagte die Kellnerin aufgeregt, als sie ihm Kaffee nachschenkte. Sie war jünger, freundlicher und hübscher als ihre Kollegin in Houston.
»Kennedy?«, fragte Guidry. »Ja, wirklich schrecklich.«
Die Kellnerin sah ihn prüfend an. »Sie haben’s noch nicht gehört?«
»Was gehört?«
»Heute Morgen in Dallas. Das von Jack Ruby.«
Jack Ruby? Dem einer der schmierigsten Stripclubs in Dallas gehörte? Der bei jeder Gelegenheit zu Guidry herübergeschwänzelt kam und versuchte, sich bei ihm beliebt zu machen? Was hatte Jack Ruby denn mit irgendwas zu tun?
»Er hat Oswald erschossen«, erklärte die Kellnerin.
»Jack Ruby?«, fragte Guidry perplex.
»Mitten in den Bauch. Als sie Oswald gerade runtergebracht haben, auf dem Polizeirevier. Er ist einfach auf ihn zugegangen und hat ihn erschossen.«
Guidry gab die entsprechenden Bekundungen von Schock und Entsetzen von sich, um seinen ganz realen Schock und sein Entsetzen zu verbergen. Seraphine hatte angedeutet, dass Oswalds Tage gezählt waren. Aber das jetzt … Auf dem Polizeirevier? Und vermutlich als Oswald von einer Meute von Bullen und Reportern umgeben war? Die Sache war nur ein weiterer ominöser Fingerzeig, auf den Guidry gerne verzichtet hätte: dass Carlos jeden kriegen konnte, egal wo, egal wann.
Die Tür ging auf. Ein Polizist kam herein und nahm zwei Hocker neben Guidry an der Theke Platz. Er tippte sich an den Cowboyhut, der dieselbe schmutzig weiße Farbe hatte wie die Sahnesauce.
Guidry erwiderte den Gruß mit einem Nicken. »Sheriff.«
Die großen Ohren des Polizisten liefen rot an. Er war noch fast ein Junge, knochig und mit fliehendem Kinn. »Deputy«, murmelte er.
»Bitte?«, fragte Guidry nach.
»Ich bin Deputy, nicht der Sheriff.«
»Verzeihung. Aber eines Tages werden Sie’s sein, warten Sie’s nur ab.«
Der Polizist wusste nicht, ob er lächeln durfte. Stattdessen konzentrierte er sich auf sein Besteck und die Serviette. Guidry hatte nur zwei Bissen von seinem panierten Hacksteak gegessen. Erst die Neuigkeiten über Ruby, dann setzte sich auch noch ein gottverdammter Deputy fast direkt neben ihn.
Guidry konnte nicht einfach aufstehen und das Lokal verlassen, zumindest nicht unmittelbar. Jetzt hieß es abwarten, nichts übereilen und den Eindruck erwecken, was für ein gelassener, zufriedener Mensch er war. Der Deputy hatte keinen Grund, aber auch nicht den geringsten, Guidry zu verdächtigen. Er war nur ein ganz normaler Bulle, der den Fremden von außerhalb – dem feinen Pinkel aus der Großstadt in seinem feinen Anzug – in typischer Bullen-Manier von Kopf bis Fuß musterte.
»Sind Sie auf der Durchreise?«, fragte der Deputy.
»Ganz genau.« Guidry zeigte ihm die Visitenkarte. »Bobby Joe Hunt, Greenleaf Used Automobiles in Houston. Ich bin auf dem Weg zu einer Auto-Auktion in Amarillo.«
Die Kellnerin runzelte die Stirn. »An einem Sonntag? Das kann doch nicht sein, oder? Dass die sonntags eine Auto-Auktion abhalten?«
Na, vielen Dank, dass du deinen Senf dazugibst, meine Liebe, dachte Guidry. Was würden wir nur ohne dich machen?
»Na ja, die Auktion findet erst morgen statt«, antwortete er. »Ich übernachte in Amarillo, von wegen früher Vogel und Wurm.«
»Ich find’s nicht richtig, dass Leute an einem Sonntag arbeiten müssen«, beschwerte sich die Kellnerin. »Die sollten in der Kirche sein oder daheim bei ihren Lieben.«
Der Deputy studierte eingehend die Visitenkarte. »Bobby Joe Hunt. Das ist doch dieser Pitcher von den Pirates. Ist der nicht auch aus Houston?«
Guidry führte ganz ruhig die Gabel zum Mund. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Ihm fiel auf, dass er den Griff seiner Kaffeetasse so fest umklammerte, dass er Gefahr lief, ihn abzubrechen, also entspannte er sich ein wenig.
»Bei Baseball kennen Sie sich wirklich gut aus, Deputy«, antwortete Guidry. »Ja, das ist er tatsächlich. Aber leider sind wir nicht verwandt.«
»Ich hab seine Baseball-Sammelkarte«, fuhr der Deputy fort. »Ich habe alle Karten von 1957 bis 1963. Die von Topps. Die von Fleer interessieren mich nicht. Fleer hat nur Ted Williams, und ne Ted-Williams-Karte von Fleer würd ich nicht mal geschenkt nehmen.«
»Iss dein Abendessen, Fred, und hör auf, den armen Mann zu Tode zu langweilen.« Die Kellnerin sah, dass Guidry fast mit seinem Hacksteak fertig war, und brachte ihm den Kuchenständer aus Weißblech. »Pekan-Pie, schmeckt wie frisch gebacken – ist er auch.«
»Oh, ja, gerne«, sagte Guidry.
Der Deputy drehte sich auf seinem Hocker um, um sich Guidry genauer anzusehen. »Auf der Durchreise, sagten Sie?«
»Das hat er doch schon gesagt, Fred.« Die Kellnerin reichte Guidry eine saubere Gabel für den Pie. »Sie dürfen sich gar nicht an ihm stören, Mister. Dauert immer einen Moment, bis er in die Gänge kommt.«
Guidry drehte sich zu dem Deputy um. »Ich wette, Sie haben selbst mal Baseball gespielt.«
»Yessir, habe ich«, antwortete der Deputy.
»Und haben Sie was getaugt?«
Wieder liefen die Ohren des Deputys rot an. »Third Base in der County-Liga, zwei Jahre hintereinander.«
»Fragen Sie ihn mal, wie viele Highschools wir hier im County haben«, sagte die Kellnerin zu Guidry.
»Meine Güte, Annabelle«, stöhnte der Deputy. »Du kannst einem wirklich auf die Nerven gehen.«
Guidry hatte seinen Pie in vier großen Bissen verspeist. Er legte das Geld auf die Theke und stand auf. Angeblich war Art Pepper mal mit einem Beutel Hasch in der Jacketttasche aus einem Polizeirevier spaziert. Guidrys Held.
»Also, ich sollte mich jetzt besser auf den Weg machen«, merkte Guidry an. »Schon mal ein schönes Thanksgiving im Voraus. Möge Gott uns alle segnen.«
Der Deputy sah Guidry noch kurz prüfend an, dann tippte er sich an den Hut. »Wiedersehen.«
Die Prärie, verwittert, lederartig und endlos. Als ob Gott bei der Schöpfung immer vorgehabt hatte, sich um sie zu kümmern, aber nie richtig dazu gekommen war. Zwanzig Meilen hinter Goodnight, die Sonne ein goldrotes Spiegelei am Horizont, entspannte sich Guidry allmählich, was den Deputy anging. Er hätte sich gar nicht so viele Gedanken machen müssen.
Nach einer weiteren halben Meile sah er im Rückspiegel den Streifenwagen mit blinkenden Lichtern und heulender Sirene rasch näher kommen.