Der Streifenwagen hielt hinter Guidry. Ein älterer Polizist mit Cowboyhut stieg aus. Der Sheriff von Gottvergessen, Texas. Er bewegte sich ein wenig steif, als sei er gerade vom Pferd gestiegen. Fred, der Deputy aus dem Diner, ging auf die andere Seite von Guidrys Wagen, eine Flinte vor der Brust.
Guidry rollte sein Fenster herunter. »Guten Abend, Sheriff.«
Der Sheriff beugte sich nach unten und spähte ins Wageninnere. Er hatte einen ergrauenden Schnauzbart, der fast den gesamten Mund und einen Teil seines Kinns verdeckte. Er sah hinüber zu seinem Deputy. »Ich glaube, du könntest goldrichtig liegen, Fred.«
»Ach, hallo, Fred.« Guidry winkte dem Deputy, der eine Hand vom Schaft der Flinte nahm, um zurückzuwinken, sich dann aber besann und sich stattdessen an der Nase kratzte. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff? Bin ich zu schnell gefahren?«
Guidry hoffte inständig, dass es sich nur um eine Routinedurchsuchung handelte. Feiner Pinkel aus der Stadt auf der Durchreise – den schnappen wir uns, nehmen ihm sein Geld ab und lassen ihn wieder laufen. Aber falls der Sheriff für jemanden arbeitete, der für jemanden arbeitete, der für Carlos arbeitete, falls es sich herumgesprochen hatte, Ausschau nach diesem speziellen feinen Pinkel zu halten …
»Sind Sie’s?«, fragte der Sheriff Guidry.
»Bin ich was?«
»Der Dorn im Fleisch aus den Sprüchen Salomos. Das Haar in der Suppe. Der Knabe, der für die ganze Unruhe gesorgt hat.«
Exakt die Worte, die Guidry nicht hatte hören wollen. Aber er lächelte weiter. Verzweifelt, könnte man sagen.
»Mein Name ist Bobby Joe Hunt«, sagte er. »Ich verkaufe Gebrauchtwagen in Houston. Könnten Sie mir nicht endlich sagen, worum es geht, Sheriff?«
»Steigen Sie aus, Junge«, sagte der Sheriff. »Hände, wo ich sie sehen kann.«
»Klar doch.«
»Brieftasche. Werfen Sie sie rüber.« Der Sheriff durchsuchte Guidrys Portemonnaie. »Wo ist Ihr Führerschein?«
In kleine Stücke gerissen und unter einem Berg Abfall versteckt in einem Metallmülleimer hinter dem Motel in Houston.
»Ist er da nicht drin?«, fragte Guidry erstaunt. »Sollte er aber. Und meine Visitenkarte. Bobby Joe Hunt. Wie gesagt, ich komme aus Houston und bin unterwegs nach Amarillo zu einer Auto-Auktion. Fragen Sie doch Fred da drüben.«
Der Sheriff schnippte die Visitenkarte weg und zog eine Pistole aus dem Holster. »Drehen Sie sich um«, befahl er Guidry. »Hände hinter den Rücken.«
Guidry war außer sich vor Wut, dass sein Ende so schnell gekommen war. Weniger als vierundzwanzig Stunden Freiheit, zu mehr hatte er es nicht gebracht. Und außer sich, dass es auf diese Weise passieren würde und hier, an diesem Ort – durch einen korrupten Kleinstadtsheriff, auf den kahlen, ausgedörrten Plains des Texas Panhandle, einer Gegend, die so hässlich war, dass selbst ein herrlicher Sonnenuntergang nichts daran ändern konnte.
Der Sheriff legte ihm Handschellen an und tastete ihn ab. »Fred«, sagte er zu dem Deputy. »Nimm seinen Wagen und fahr uns zurück zum Revier hinterher.«
Während der Fahrt pfiff der Sheriff vor sich hin. Guidry erkannte das Lied nicht. Er könnte versuchen, gegen den Vordersitz zu treten. Richtig dagegen donnern und hoffen, dass der Sheriff von der Straße abkam. Aber was dann? Selbst wenn der Sheriff sich den Kopf anstieß und Guidry sich seinen nicht anstieß, würde Guidry immer noch die Handschellen tragen und säße im Wagen fest. Der Deputy befand sich unmittelbar hinter ihnen, etwa hundert Meter entfernt – mit seiner Flinte.
»Ich glaube, die Stelle ist aus Korinther, nicht Sprüche«, sagte Guidry laut. »Der Dorn in Paulus’ Fleisch, den Sie erwähnt haben.«
»Da haben Sie wohl recht«, entgegnete der Sheriff.
»Wenn ich mich richtig erinnere, war der Dorn ein Bote Satans, der Paulus quälen sollte, als er zu eingebildet geworden war.«
Der Sheriff pfiff weiter vor sich hin und setzte unbeirrt die Fahrt fort.
»Sie haben den Falschen, Sheriff«, setzte Guidry an.
»Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, bekommen Sie von mir eine aufrichtige Entschuldigung und einen herzhaften Händedruck.«
Das Polizeirevier in Goodnight bestand aus einem einzigen Raum. Wandvertäfelung aus Holzimitat und ein Linoleumboden in der Farbe von grün gesprenkeltem Erbrochenem. An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen ein Dutzend gerahmter Malen-nach-Zahlen-Bilder. Durch die Gitterstäbe seiner Zelle hatte Guidry beste Sicht auf jedes einzelne: ein Leuchtturm, eine überdachte Brücke im Herbst, Stockenten auf einem Teich. Zwei verschiedene Versionen des Letzten Abendmahls, einmal mit Heiligem Geist, der hinter Jesus schwebte, einmal ohne.
»Ich muss mal kurz nach gegenüber, einen Anruf machen, Deputy«, sagte der Sheriff. »Halten Sie die Komantschen in Schach.«
»Jawohl, Sir«, entgegnete der Deputy.
Wie viel Zeit blieb Guidry noch? Der Sheriff würde denjenigen anrufen, der sein Kontaktmann in Dallas war. Die Neuigkeiten über Guidry würden sich ausbreiten wie Wellen in einem Teich, bis zurück zu Seraphine in New Orleans. Sobald sie herausgefunden hatte, dass Guidry in Goodnight war, würde sie tout suite jemanden vorbeischicken.
»Fred«, sagte Guidry eindringlich.
Keine Reaktion.
Vielleicht hatte Seraphine jemanden in Dallas. Aber vermutlich war der Killer, der aufräumen sollte, in diesem Moment in Houston. Acht Stunden entfernt von hier. Wie spät war es jetzt? Sieben Uhr dreißig. Dann könnte Seraphine die Nachricht über Guidry um zehn erhalten.
Sechs Uhr morgen früh. Das war demnach Guidrys Galgenfrist. Tick, tack.
»Annabelle vom Diner drüben«, sagte er zu dem Deputy. »Ich glaube, sie mag Sie. Warum sollte sie sonst so an Ihnen rummeckern?«
Keine Reaktion.
»Nach wem sollten Sie Ausschau halten, Fred? Einem großen bösen Mafia-Gangster aus der Stadt? Ich bin noch nicht mal Italiener, ich schwöre bei Gott. Ich bin französischer Cajun mit ein bisschen irischem Blut, ein Junge vom Land wie Sie, aus Ascension Parish, Louisiana. Winziges Fleckchen namens St. Amant. Ich wette, davon haben Sie noch nie gehört. Ich war Shortstop in meinem Highschool-Team.«
Das war etwas großzügig ausgelegt. Guidry war damals mit dem Shortstop des Highschool-Teams befreundet gewesen.
»Was hat Ihnen der Sheriff noch gesagt, Fred?«, fragte Guidry weiter. »Dass ich ein gesuchter Verbrecher auf der Flucht bin? Dass ein paar Jungs vom FBI hier rauskommen werden und mich mitnehmen?«
Der Deputy stand auf, ging zum Wasserkühler und ließ Wasser in einen winzigen geriffelten Pappbecher laufen. Er trank ihn leer und zerdrückte ihn in der Hand, dann setzte er sich wieder.
»Fragen Sie sich doch mal, Fred: Warum ist der Sheriff zum Telefonieren nach gegenüber gegangen, wo doch direkt vor Ihnen auf dem Schreibtisch ein Telefon steht? Warum wollte er nicht, dass Sie mitbekommen, was er zu sagen hat?«
Der Deputy legte die Füße auf den Tisch und gähnte.
»Ich bin Kronzeuge der Staatsanwaltschaft«, fuhr Guidry fort. »Der Mob will mich tot sehen. Die Leute, die in ein paar Stunden hier aufkreuzen, werden nicht vom FBI sein. Sie müssen mir nicht glauben. Warten Sie’s einfach ab.«
»Wissen Sie was?«, sagte der Deputy schließlich.
»Was?«
»Ist mir egal, ob sie mich mag oder nicht. Annabelle Ferguson könnten Sie mir auch nackt auf den Bauch binden.«
Kurz darauf kehrte der Sheriff von seinem Telefonat zurück. Er schickte den Deputy ins Wochenende, stellte die Kaffeemaschine an und machte es sich hinter dem Schreibtisch gemütlich. Guidry inspizierte seine Zelle. Ein Fenster, ziemlich weit oben und kaum mehr als ein Schlitz. Da würde er sich niemals durchzwängen können, selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, den rostigen Maschendraht zu entfernen, der mit Schrauben davor am Putz befestigt war.
»Ich werde Ihre Intelligenz nicht beleidigen, Sheriff«, sagte er laut.
»Nett von Ihnen.«
Der Sheriff hatte ein Dutzend winziger Farbtöpfe mit Schraubdeckel vor sich aufgereiht. Er schraubte einen Topf auf und tauchte seinen Pinsel hinein.
»Ich beneide Sie nicht«, redete Guidry weiter. »Sie stecken in der Zwickmühle, stimmt’s?«
Der graue Schnauzer des Sheriffs zuckte vor Belustigung, aber er sah nicht von seinem Bild auf. »Ist das so.«
»Sie wissen, dass das hier mit der Sache zu tun hat, die mit Kennedy passiert ist.«
Der Sheriff sah noch immer nicht auf, aber die Hand mit dem Pinsel hielt kurz in der Bewegung inne. »Ich weiß nichts dergleichen.«
»Sie wissen, dass Oswald niemals so einen Schuss hinbekommen hätte«, sagte Guidry. »Nicht mal einer von tausend Durchschnittsbürgern hätte das geschafft. Fünfter Stock, ein sich bewegendes Ziel, Bäume im Weg. Peng, peng, zweimal voll ins Schwarze? Für so einen Auftrag würde man einen Profi brauchen.«
»Ich rate Ihnen, etwas zu schlafen, falls Sie können«, sagte der Sheriff. »Wenn Sie noch eine Decke brauchen, hole ich Ihnen eine.«
»Dieser Profi – sobald er abgedrückt hatte, hörte er auf, die Lösung zu sein. Er wurde zum Problem. Stimmt doch, oder? Für diejenigen, die ihm den Auftrag erteilt haben. Sie können sicher nachvollziehen, warum.«
Der Sheriff schwieg. Er legte den Pinsel auf der Kante des Farbtöpfchens ab, damit er sich die Finger massieren konnte.
»Die Auftraggeber mussten das Problem aus dem Weg räumen«, machte Guidry weiter. »Jetzt sind Sie die Lösung. Zumindest, bis Sie mich übergeben haben. Und raten Sie mal, was Sie danach sind.«
Guidry konzentrierte sich auf jeden Atemzug, während die Minuten quälend langsam verstrichen. Man musste wissen, wann man an der Angelschnur ziehen und wann man mehr Leine geben musste. Jeder Junge in Ascension Parish wusste von klein auf, wie man fischte.
Der Sheriff war intelligent. Zumindest hoffte es Guidry. Intelligent, aber nicht zu intelligent. Darin lag Guidrys einzige Chance. Was er vorhatte, würde ebenfalls nur einer von tausend schaffen.
Eine Stunde verging. Zwei. Guidry lief allmählich die Zeit davon.
»Ach, Mist, schon wieder!« Der Sheriff, noch immer fleißig beim Malen, tauchte die Ecke einer Papierserviette in seine Kaffeetasse und tupfte damit am Bild herum. »Je mehr man sich anstrengt, desto mehr scheint danebenzugehen …«
»Die werden Sie umbringen«, sagte Guidry. »Sagen Sie mir nur, dass Sie das begriffen haben, und ich halte die Klappe. Sie wissen zu viel, Sheriff. Sie sind ein Sicherheitsrisiko, genau wie ich.«
»Das ist Ihre Meinung«, antwortete der Sheriff.
»Wie lange stehen Sie schon auf Carlos’ Gehaltsliste?«
»So sehe ich das nicht.«
»Natürlich nicht. Für Sie ist das Ganze nur ein kleiner Nebenerwerb. Den Rahm von den Einnahmen der Jukebox abschöpfen tut schließlich keinem weh. Kann doch nicht schaden, oder?«
»Wissen Sie schon, ob Sie die zusätzliche Decke wollen?«, fragte der Sheriff. »Bald wird’s hier drin ziemlich kühl.«
»Sie werden Sie umbringen, und dann suchen sie sich Fred und bringen den um. Falls Sie ne Frau haben, bringen sie die ebenfalls um, nur für den Fall, dass Sie ihr gegenüber etwas erwähnt haben. Für diese Gründlichkeit kann man den Leuten keinen Vorwurf machen, steht ja so viel auf dem Spiel. Die Frau vom Diner bringen sie vermutlich auch um. Annabelle, richtig? Nachdem sie aus ihr rausbekommen haben, was sie weiß. Ist Ihre Frau hübsch? Hoffentlich nicht. Was glauben Sie, was das für Leute sind, Sie dämlicher, korrupter Hinterwäldler? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Sie könnten Ihnen nur einen Teil Ihrer Seele verkaufen?«
Die Hand des Sheriffs hatte wieder innegehalten. Kurz darauf legte er den Pinsel ab und schraubte nacheinander die Deckel wieder auf die Farbtöpfe.
»Es gibt einen Ausweg, Sheriff«, fuhr Guidry fort. »Den kann ich Ihnen zeigen.«
»Schlafen Sie ne Runde, Junge«, sagte der Sheriff.
»Für wen in Dallas arbeiten Sie? Howie Fleck? Rufen Sie Howie Fleck an, und sagen Sie ihm, das Ganze war ein Irrtum. Wie sich rausstellt, hat Ihr Deputy den Falschen verhaftet. Seine Ehefrau aus Amarillo ist aufgetaucht und hat ihn abgeholt, falscher Alarm.«
Der Sheriff legte seine Stiefel auf den Schreibtisch. Er lehnte sich im knarrenden Stuhl zurück und schob sich den Hut übers Gesicht.
»Nein, Moment, ich hab noch ne bessere Idee«, fuhr Guidry hastig fort. »Kennen Sie hier in der Gegend jemanden, der so ähnlich aussieht wie ich? Größe, Haut- und Haarfarbe. Muss nicht hundertprozentig übereinstimmen, Pi mal Daumen reicht. Sollen sich Ihre Besucher selbst überzeugen, dass Sie den Falschen geschnappt haben. Sagen Sie einfach: ›Entschuldigt die Umstände, Jungs.‹ Und: ›Vorsicht ist besser als Nachsicht.‹«
Der Sheriff rührte sich nicht. Guidry streckte sich auf seiner Liege aus. Jetzt hieß es abwarten. Mehr konnte er nicht tun. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, die Rede seines Lebens gehalten. Die Würfel hatten seine Hand verlassen und waren über den Filz gerollt.
Er bemühte sich, seinen Geist zu leeren. Er fühlte sich wie Sokrates am Abend, bevor sie ihm den Schierlingsbecher gebracht hatten. Irgendwo hatte er gelesen, dass bestimmte Schamanen und Sadhus in Indien ihre Atmung und den Herzschlag verlangsamen konnten, bis er kaum noch zu spüren war. Vielleicht würde ihm das ebenfalls gelingen. Wenn Seraphines Leute hier eintrafen, würden sie annehmen, er sei bereits tot.
Sokrates oder Sophokles? Guidry brachte immer durcheinander, wer wie zu Tode gekommen war. Einer musste Gift trinken, der andere starb, als er versuchte, eine unendlich lange Gedichtzeile zu rezitieren, ohne Luft zu holen. Einer seiner Kumpel hatte mit ihm gewettet.
Guidry überlegte, was er tun würde, wenn der Sheriff ihn morgen früh auslieferte. Guidry würde versuchen, an die Pistole im Hüftholster des Sheriffs zu kommen. Aussichtslos, aber er würde nicht zulassen, dass ihn Seraphines Leute lebendig in die Hände bekamen. Nicht, wenn sich’s irgendwie vermeiden ließ.
Das Linoleum quietschte. Guidry öffnete die Augen. Er musste eingeschlafen sein. Er fragte sich, wie lange er wohl schon dagelegen hatte. Der Sheriff stand auf der anderen Seite des Gitters.
»Wie lange haben wir noch, bevor sie hier sind?«, fragte der Sheriff.
Guidry setzte sich auf. Er sah auf die Uhr. Fünf Uhr morgens, Montag. »Ungefähr eine Stunde.«
Der Sheriff schloss die Zelle auf. Er gab Guidry sein Portemonnaie und die Autoschlüssel zurück. »Verschwinden Sie.«
»Viel Glück, Sheriff«, sagte Guidry zum Abschied.
»Scheren Sie sich zum Teufel«, fauchte der Sheriff.
Guidry fuhr den ganzen Vormittag durch. Westlich von Tucumari, New Mexico, geriet er in einen Hagelschauer. Er kam an einem liegen gebliebenen Auto am Straßenrand vorbei, neben dem eine durchnässte Frau stand; zwei Kinder starrten aus der Heckscheibe.
Er wurde nicht langsamer. Tut mir leid, Schwester. Guidry hatte genug eigene Sorgen und musste sich nicht noch die anderer Leute aufhalsen.