12

Am Montagmorgen verließen Charlotte und die Mädchen McLean kurz nach Tagesanbruch. Kurz vor Amarillo fing es leicht zu regnen an, dann wurde der Regen immer stärker, bis schließlich die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos flackerten wie Kerzenflammen. Der Regen schien von überallher gleichzeitig zu kommen, von vorne, von hinten, von unten; das Spritzwasser von der Straße prasselte gegen den Boden des Wagens unter ihren Füßen.

Als sie zum Tanken hielten, musterte der Tankwart Charlotte anzüglich, während er den Ölstand prüfte. Er zog den metallenen Peilstab heraus und tat so, als fahre er mit der Zunge daran entlang. Charlotte sah auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Zum Glück waren die Mädchen damit beschäftigt, sich den Verlauf ihrer Reise auf der Karte anzusehen.

Sie reichte dem Tankwart einen Fünfdollarschein für das Benzin. Er gab ihr das Wechselgeld, wobei er sie immer noch lüstern anstarrte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Danke sehr«, murmelte sie schließlich.

Als sie wegfuhren, zitterte sie am ganzen Leib. Alles in Ordnung, versuchte sie sich zu beruhigen. Gleich ist wieder alles in Ordnung.

Wenig später überquerten sie die Staatsgrenze von Texas nach New Mexico, wo der Regen sich in Hagel verwandelte und der Asphalt schimmerte wie Glas, und als es unvermittelt um die Kurve ging, rutschten sie mit dem Auto in den Straßengraben.

Es war so schnell gegangen. Charlotte hatte gespürt, wie der Wagen unter ihr ins Schlingern geriet, dann wurde ihr auch schon das Lenkrad aus der Hand gerissen. Joan prallte gegen Rosemary, die prallte gegen den Hund – der aufwachte und ein Mal verunsichert bellte.

Der Graben war nicht tief, nur einen oder zwei Fuß, aber die Schnauze des Wagens schien senkrecht nach oben zu zeigen. Alles, was Charlotte durch die Windschutzscheibe sehen konnte, war die lange kittfarbene Motorhaube und ein Stück leerer Himmel in nahezu derselben Farbe. Der Motor war ausgegangen, und die plötzliche Stille war fast greifbar.

»Geht’s euch gut?«, erkundigte sich Charlotte bei den Mädchen.

»Was ist passiert?«, fragte Rosemary.

»Kinder! Geht’s euch gut?«

»Ja«, sagte Rosemary.

»Joan?«

»Ja.«

Die Mädchen kletterten auf den Rücksitz, damit sie hinaussehen konnten. Sie hatten gerötete Wangen und waren ganz aufgeregt. »Wir hatten einen Autounfall!«, verkündete Rosemary.

Charlotte drückte mit Kraft ihre Tür auf. Sie kletterte aus dem Graben, um sich einen Überblick über ihre Lage zu verschaffen. Ziemlich übel. Der Wagen steckte anscheinend hoffnungslos fest; die Hinterräder hatten sich in den Schlamm gegraben, und die Vorderräder hingen einen Fuß über dem Boden und drehten sich träge.

Tief durchatmen. Alles in Ordnung. Gleich ist wieder alles in Ordnung.

»Stecken wir fest, Mommy?«, fragte Rosemary.

»Wartet hier«, sagte Charlotte. »Zieht eure Jacken an und kuschelt euch neben Lucky. Stellt euch vor, er ist ein freundlicher Bär im Wald.«

Eine Spritzwasserfontäne nach der anderen ließen die vorbeifahrenden Autos niederregnen und wurden noch nicht mal langsamer. Charlotte stand am Straßenrand, bis sie bis auf die Knochen durchnässt war und vor Kälte zitterte. Jetzt noch mal tief durchatmen. Es war ein Uhr nachmittags, und sie befanden sich auf einem öffentlichen Highway. Irgendwann würde schon jemand anhalten. Laut Straßenkarte war der nächste Ort, Santa Maria, New Mexico, nur wenige Meilen entfernt.

Schließlich rumpelte ein Abschleppwagen vorbei, bremste und fuhr auf den Seitenstreifen. Santa Maria Wreck and Repair. Ein Automechaniker mit ausdruckslosem Gesicht stieg aus. Er sah sich das Auto aus verschiedenen Perspektiven an, stieß ein paar missmutige Laute aus und schüttelte den Kopf. Dann fischte er den Kautabak aus seiner Backentasche und warf den dunklen, stachligen Klumpen auf die von Graupel überzogene Straße.

»Nicht Ihr Glückstag heute«, brummte er.

Charlotte fror so sehr, dass ihr dir Zähne klapperten. Sie hatte immer angenommen, Zähneklappern sei nur eine Redewendung. »Können Sie uns rausziehen?«

»Die Leute nehmen diese Kurve immer zu schnell«, sagte er. »Da hab ich immer was zu tun.«

»Können Sie uns denn rausziehen?«

»Fünfzehn Dollar.«

Das konnte er nicht ernst meinen. »Fünfzehn Dollar?«, fragte sie.

»Sagen Sie Bescheid, falls Sie ein besseres Angebot finden.« Er machte sich auf den Rückweg zu seinem Truck.

»Warten Sie.«

Der Mechaniker setzte mit dem Abschleppwagen zurück und hakte ihr Auto an die Kette. Er ließ den Motor aufheulen, und das Auto begann, hin und her zu schaukeln. Schließlich löste es sich mit einem feuchten Schmatzgeräusch aus dem Schlamm.

Charlotte konnte jetzt sehen, dass die hintere Stoßstange durch den Unfall stark verbeult war, ein Rücklicht war zu Bruch gegangen, und der Auspuff war vollkommen zerdrückt.

Der Kautabakklumpen, den der Automechaniker ausgespuckt hatte, lag suppend auf der Straße wie ein herausgerissenes und weggeworfenes menschliches Organ; ein Herz, das ein letztes Mal schlug. Der Mechaniker umrundete langsam den Wagen. Er schüttelte den Kopf.

»Wirklich nicht Ihr Glückstag, was?«, kommentierte er.

Alle vier, Charlotte, die Mädchen und der Hund, quetschten sich zusammen mit dem Mann in die Fahrerkabine des Abschleppwagens. Im Ort setzte er sie an einem Motel ab, das aus weiß getünchten Adobe-Bungalows rings um einen leeren Swimmingpool bestand. Er teilte Charlotte mit, vor Mittwoch könne er nicht mit der Reparatur des Autos beginnen.

»Mittwoch?«, fragte sie besorgt. »Aber das ist erst in zwei Tagen. Ginge es nicht eventuell …«

»Vielleicht Mittwoch. Kommen Sie am Nachmittag vorbei, dann weiß ich Näheres. Ansonsten wird’s der Montag danach, wegen Thanksgiving.«

Er fuhr weg. Mittlerweile war es zwei Uhr. Die Mädchen hatten einen Riesenhunger. Charlotte besorgte zwei Packungen Schokomilch aus einem Automaten, und sie verzehrten die letzten Roastbeef-Sandwiches. Der Himmel sah nicht mehr ganz so düster aus, und es hatte aufgehört zu regnen. Ihr Zimmer war auch nicht hübscher als das in McLean, aber wenigstens roch es nicht nach gekochtem Kohl. Sie wartete, bis die Mädchen wieder in ihre Disney-Bücher Entdeckungsreisen im Reiche der Natur vertieft waren, schärfte ihnen ein, niemandem außer ihr die Tür aufzumachen (»Absolut niemanden. Verstanden, Rosemary?«) und folgte dem gepflasterten Weg zum Hauptgebäude.

Auf der Veranda vor der Motel-Rezeption gab es einen öffentlichen Fernsprecher. Charlotte blätterte durch ihr Adressbuch, bis sie die Nummer gefunden hatte, von der sie hoffte, dass es noch die von Tante Marguerite in Los Angeles war. Sie nahm den Hörer ab und meldete ein Ferngespräch an. Die Telefonistin wies sie an, fünfzig Cent einzuwerfen.

Charlotte wählte die Nummer und wartete. Sie zählte mit, wie oft es klingelte. Eins, zwei, drei. Charlotte war nicht beunruhigt. Vier, fünf, sechs. Vielleicht war Marguerite gerade beim Einkaufen, aß mit Freunden zu Mittag oder war im Garten und kümmerte sich um ihre Rosen. Vermutlich. Zumindest konnte es sein. Sieben, acht, neun.

Beim zwölften Klingeln legte Charlotte auf. Sie durchsuchte ihre Handtasche nach Zigaretten. New Mexico, oder zumindest der Teil, in dem sie sich befanden, war flach, braun und leer. Abgesehen von den weiß getünchten Bungalows, dem wie ein Baumstumpf geformten Zierkaktus an der Moteleinfahrt und einem undeutlichen Streifen am Horizont, bei dem es sich vielleicht um einen Gebirgszug handeln konnte, hätte Charlotte noch immer in Oklahoma sein können.

Sie nahm den Hörer ab und meldete ein R-Gespräch an.

»Charlie?«, fragte Dooley.

»Hallo, Schatz«, sagte Charlotte.

»Was um alles in der Welt … Charlie! Gestern Nacht bin ich nach Hause gekommen, und du warst nicht da, und die Mädchen waren nicht da, mir ist fast das Herz stehen geblieben.«

»Ich weiß, tut mir leid. Hast du die Nachricht gefunden, die ich dir hingelegt hatte?«

»Ich bin ins Kinderzimmer gegangen, und ihre kleinen Bettchen waren leer. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich da gefühlt habe, Charlie.«

Die Schuldgefühle, die sie bis jetzt mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte, meldeten sich wieder in voller Stärke und drangen an die Oberfläche. »Ich weiß, tut mir leid«, antwortete sie. »Hast du die Nachricht gefunden?«

»Ja, aber erst heute Morgen. Gestern Nacht hab ich kaum ein Auge zugetan, solche Sorgen habe ich mir gemacht.«

»Uns geht’s gut, den Mädchen geht’s gut«, antwortete Charlotte. »Wir sind in New Mexico. Wir hatten einen kleinen Unfall, mit dem Auto, aber …«

»New Mexico!«, rief Dooley. »Was ist bloß in dich gefahren, Charlie?«

»Ich glaube, es ist das Beste, Schatz, wirklich. Für uns alle. Ich glaube …«

»Was ist mit dem Auto? Charlie, du willst keine Scheidung. Ich weiß genau, du willst das nicht.«

»Ich kann so nicht weitermachen, Dooley. Das ist nicht das, was …« Charlotte konnte es sich selbst nicht erklären. Wie konnte sie dann jemals hoffen, es ihm zu erklären? »Ich bin nicht … ich bin nicht der Mensch, der ich gern sein möchte. Vielleicht werde ich das auch nie, aber ich brauche zumindest die Möglichkeit, es zu versuchen. Die Mädchen sollen diese Möglichkeit ebenfalls haben. Wenn ich nicht weggehe, habe ich Angst, dass …«

»Weggehen? Meinst du damit, du brauchst Urlaub?«

»Nein. Ich …«

»Das kannst du mir nicht antun, Charlie«, sagte Dooley. »Eine Scheidung, einfach so, aus heiterem Himmel. Ohne überhaupt mit mir darüber zu reden?«

»Dooley …«

»Das geht nicht, Charlie, ganz allein eine Entscheidung treffen, und ich habe kein Wörtchen mitzureden. Das ist, als ob du dich von hinten an mich rangeschlichen und mir mit nem Kantholz eins überzogen hast. Verheiratete Leute sprechen normalerweise über ihre Probleme.«

Im Lauf der Jahre hatte sie wieder und wieder versucht, ihn dazu zu bringen, gemeinsam über ihre Probleme zu sprechen. Trotzdem fragte sie sich, ob sein Einwand nicht vielleicht doch berechtigt war. Sie hatte sich wie ein Feigling verhalten, indem sie geflohen war, als er nicht zu Hause war und nicht versuchen konnte, sie zum Bleiben zu bewegen. Sie hätte wenigstens abwarten können, bis er wieder zurück war. Oder sie hätte eine Trennung auf Probe vorschlagen können. Die könnte sie jetzt vorschlagen.

Scheidung war der Rand der Klippen. Hatte man sich erst einmal in die unendlichen Weiten geschwungen, gab es kein Zurück mehr …

Es machte Charlotte wütend, wie sich Zweifel in jeden ihrer Gedanken, in jede ihrer Entscheidungen schlich. Das war genau das, was sie eben gemeint hatte: Ich bin nicht der Mensch, der ich gern sein möchte.

»Dooley, ich glaube …«

»Du glaubst. Du glaubst, Charlie. Genau das meine ich. Du weißt es nicht. Sag mir, dass du dir ganz sicher bist. Sprich es aus. Sag: ›Ich will die Scheidung. Ich bin mir hundertprozentig sicher.‹ Kannst du das?«

»Ich … Ich weiß nicht, ob im Leben je irgendetwas hundertprozentig sicher ist.«

»Doch, die Ehe«, entgegnete Dooley. »Das haben wir doch dem Priester gesagt, oder? Bis dass der Tod uns scheidet. Wir haben uns gegenseitig versprochen, dass …« Charlotte konnte hören, wie er Schranktüren öffnete. »Wo ist der Zucker für den Kaffee, Charlie?«

»Auf dem Regal neben dem Kühlschrank.«

Er fing an zu weinen. »O Gott, Charlie, was soll ich denn ohne dich machen? Du und die Mädchen, ihr seid das Beste, was mir je passiert ist.«

»Die Mädchen kannst du nach wie vor sehen«, sagte Charlotte. »Dafür werde ich sorgen, ich versprech’s dir. Ich …«

»Ich bin nur ein hoffnungsloser Nichtsnutz. Das weiß ich.«

»Nein, bist du nicht, Dooley. Du hörst mir nicht zu.«

Der Himmel hatte sich wieder verdunkelt, riesige, aufeinandergeschichtete schiefergraue Wolkenberge. Charlotte erinnerten sie an die eingestürzten Mauern von Befestigungsanlagen oder die herabgerutschten Deckel uralter Grabmäler. Plötzlich fühlte sie sich vollkommen erschöpft, zu müde zum Denken.

Ein paar Regentropfen brachten das Blechdach über der Veranda zum Klingen, und dann ergoss sich ohne weitere Vorankündigung eine rauschende Sintflut vom Himmel. Ein Mann im Anzug – auch ein Gast im Motel – erreichte gerade noch rechtzeitig den Unterstand.

»Ich bin ein hoffnungsloser Nichtsnutz«, wiederholte Dooley, »aber ich liebe dich. Niemand wird dich je so lieben wie ich. Warum willst du das wegwerfen?«

»Ich muss Schluss machen, Schatz«, sagte Charlotte. »Hier will jemand telefonieren.«

»Du willst doch eigentlich gar keine Scheidung, Charlie. Du willst all das hier nicht wegwerfen. Komm einfach nach Hause. Wir reden über alles. Mehr will ich gar nicht.«

»Ich rufe dich bald wieder an.«

»Komm wieder nach Hause«, bat Dooley. »Du weißt, du kommst wieder zurück. Du weißt es. Ich bin auch nicht wütend. Komm einfach …«

Charlotte legte auf, bevor er – oder sie selbst – noch etwas anderes sagen konnte. Der Mann im Anzug lächelte ihr im Vorbeigehen freundlich zu.

»Wenn’s schon mal regnet, dann aber richtig«, sagte er.

Sie nickte, und es gelang ihr, zurückzulächeln. »Ja, das kann man wohl sagen.«