Erst jetzt, um ein Uhr nachmittags und vierhundert Meilen hinter Goodnight – vierhundert Meilen zwischen ihm und dem nahezu sicheren Tod –, atmete Guidry langsam auf. In einer Stadt namens Santa Maria, New Mexico, fuhr er vom Highway ab. Stadt? Die Ansammlung von Gebäuden inmitten der endlosen, grasbewachsenen Ebene sah aus wie ein Rest Bartstoppeln, den jemand beim Rasieren übersehen hatte.
Als Guidry aus dem Wagen stieg, hatte er noch immer weiche Knie. Das war verdammt knapp, Bruder. Ist dir überhaupt bewusst, wie knapp?
O ja, ganz genau sogar.
Das einzige Motel am Ort war das Old Mexico Motor Court. Guidry trat an die Rezeption und fragte nach einem Zimmer. Der junge Mann sah ihn nur flüchtig an.
»Wir haben casitas«, sagte der junge Mann. »So soll ich sie nennen.«
»Ist eine casita dasselbe wie ein Zimmer?«, fragte Guidry.
»Ja.«
»Na schön, überredet«, lachte Guidry.
Der Junge notierte den Namen, den Guidry ihm nannte. Frank Wainwright. Noch immer sah er Guidry nicht an. Guidry beobachtete den Jungen genau, um sicherzugehen. Nach dem, was gerade in Goodnight passiert war, würde er ständig auf der Hut sein müssen. Wer wusste denn, wie viele Leute zwischen hier und Las Vegas bereits den Auftrag hatten, die Augen nach ihm offen zu halten? Nach einem allein reisenden Mann, Ende dreißig, durchschnittliche Größe und Gewicht, dunkles Haar und grüne Augen, Grübchen mitten im Kinn, bei dem alle Frauen schwach wurden?
Und wer wusste, wie viele Leute in Vegas selbst nach ihm Ausschau halten sollten? Vegas war fest in der Hand der Mafia. Die Sache würde sich rumsprechen. Bei jedem flüchtigen Blick eines Hilfskellners oder Showgirls würde Guidry sich Gedanken machen müssen.
Seraphine würde vermuten, dass er nach Vegas oder Miami unterwegs war. Vielleicht auch nach Los Angeles. Auf keinen Fall nach Chicago oder New York. Wie konnte er erreichen, dass es bei einer Vermutung blieb? Genau das war die Frage.
Als er duschen wollte, war das heiße Wasser nur ein Rinnsal und das Handtuch so rau, dass man damit die Gesichter von Mount Rushmore hätte abschmirgeln können. Guidry hatte allmählich die Nase voll von beschissenen Unterkünften – von Motelzimmern, Gefängniszellen und casitas. Was er in dieser Hinsicht in den letzten paar Tagen erlebt hatte, reichte fürs Erste.
Er ging auf die Toilette – gute Verdauung, wie immer. Achtzehn Monate Kriegseinsatz im Pazifik und nicht der leiseste Anflug von Durchfall. Und das, obwohl fast jeder Zweite in seiner Einheit an der Ruhr erkrankt war.
Im Fernsehen zog die Begräbnisprozession vorüber. Jackie kam ins Bild, verhärmt und wacklig auf den Beinen, völlig benommen. Guidry wusste genau, wie sie sich fühlte. Vor drei Tagen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Die Zukunft hatte rosig ausgesehen.
Nachdem er sich zwei Stündchen aufs Ohr gelegt hatte, ging er zum Motelportier und ließ sich einen Dollar kleinmachen. Mit dem ersten Dime rief er vom Münzfernsprecher aus seinen alten Kumpel Fritz in Miami an. Fritz, der hinterhältigste, ausgebuffteste, zuverlässig unzuverlässigste Ex-Katholik, Ex-Kommunist, Ex-Nazi der westlichen Hemisphäre. Er arbeitete für Santo Trafficante, verkaufte aber Informationen an alle, die genug dafür zahlten.
»Fritzie-Baby«, sagte Guidry zur Begrüßung.
»Ja. Was?«, fragte Fritz, halb auf Deutsch. Und dann, als der Groschen fiel: »Oh. Ist das Guidry?«
»Kannst du reden? Bist du allein?«
»Ja. Sicher. Guidry. Hallo, hallo, alter Freund.« Fritz hatte sich von seiner Überraschung erholt und witterte sofort ein Geschäft. Guidry konnte förmlich sehen, wie Fritz, einer Würgeschlange gleich, schon mal den Kiefer aushakte und sich, voller Vorfreude auf den leckeren Bissen, auf ihn zuschlängelte. »Was für eine Freude, altes Haus.«
»Fritzie, kann ich mich auf deine Diskretion verlassen?«, fragte Guidry.
»Ja, aber sicher.«
»Ich brauche einen Tapetenwechsel. Du verstehst. Irgendwo, wo’s warm und tropisch ist.«
Man musste die Geschichten glauben, die man erzählte. Man musste sie richtig durchdringen. Guidry kannte mal eine süße kleine Schauspielerin. Jetzt war sie in Hollywood, Femme fatale der zweiten Reihe in irgendeiner drittklassigen Fernsehshow. Die hatte mal gesagt, du kannst das Publikum nicht an der Nase rumführen, wenn du dich selbst nicht an der Nase rumführen kannst. Das musste Guidry allerdings keiner mehr erzählen.
»Um den Transport habe ich mich schon gekümmert«, fuhr Guidry fort. »Jemand, mit dem ich im Krieg in Übersee war, mein alter Staff Sergeant, hat jetzt ein Charterunternehmen für Hochseeangeln. Ein richtiger Mistkerl, aber ich glaube, ich kann ihm vertrauen. Und er hat ein Boot, mit dem er mich nach Honduras bringen kann.«
Guidry konnte den Mann genau vor sich sehen, das Boot, konnte die salzige Meerluft riechen. »Allerdings brauche ich Papiere. Und ein paar Einführungen, sobald ich da unten ankomme.«
»Bist du jetzt in Miami?«, fragte Fritz.
»Geht dich gar nichts an, wo ich gerade bin, Fritzie.« Der Kerl sollte sich anstrengen, zumindest ein bisschen. »Kannst du mir mit den Papieren helfen? Ich zahle auch. Hast du nicht noch ein paar alte Kameraden da unten im Dschungel?«
Wenn man ihn auf seine Loyalitäten während des Krieges ansprach, konnte Fritz ziemlich ungehalten werden. Jedoch nicht diesmal. Stattdessen überschlug er sich fast. »Ja, ja, natürlich, Guidry. Ich kann dir helfen. Ist mir ein Vergnügen, altes Haus.«
Guidry versicherte Fritz, er würde sich bald wieder bei ihm melden, um das Treffen in Miami auszumachen, dann legte er auf. Wenn Fritz sie anrief, würde Seraphine skeptisch sein – unter normalen Umständen würde Guidry jemandem wie Fritz niemals sein Leben anvertrauen. Aber das hier, altes Haus, waren keine normalen Umstände. Guidry war verzweifelt. Das wusste Seraphine. Sie würde diesen Keim der Möglichkeit wässern müssen und beobachten, ob er Blüten trieb.
Der nächste Anruf war der, auf den es ankam. Las Vegas. Warum sollte Seraphine glauben, dass Guidry jemandem wie Fritz sein Leben anvertrauen würde? Weil Guidry im Begriff war, es einem Mann wie Big Ed Zingel anzuvertrauen.
Ein Mann mit englischem Akzent meldete sich. »Guten Tag. Das Zingel-Anwesen.«
»Holen Sie Ed an den Apparat«, sagte Guidry.
»Mr. Zingel ist nicht zu Hause. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
»Richten Sie ihm aus, dass Mr. Marcello aus New Orleans ihn um einen Gefallen bitten möchte. Um der alten Zeiten willen.«
Er legte auf. Es hatte wieder angefangen zu regnen, eine richtiggehende Sintflut. Auf seinem Zimmer wartete er, bis das Unwetter vorüber war, dann ging er zu Fuß in die Stadt.
Santa Maria, New Mexico. Unglaublich. Eine winzige Spielzeugstadt. Wie etwas, mit dem ein Kind am Tag nach der Bescherung an Heiligabend spielen würde. Wie eine farbige Illustration in einer Zeitschriftenanzeige für Margarine. Mit wippenden Pferdeschwänzen kamen zwei Teenager über den Bürgersteig geschlendert. Der Tellerrock der einen war mit Punkten bestickt, der der anderen mit Gänseblümchen. Auf einmal war es wieder 1955, nur hatte man vergessen, Guidry Bescheid zu sagen.
Er zählte drei Kirchen auf zwei Blocks. Ein paar Jungs mit Lederjacke, die sich an der Ecke herumdrückten, lächelten freundlich und grüßten ihn. Selbst die harten Kerle hier in »Unserer kleinen Stadt« hatten gute Manieren.
Guidry entdeckte ein Kaufhaus, in dem es nur eine einzige Abteilung gab. Die verkaufte alles. Die Auswahl an Herrenbekleidung war so, wie er befürchtet hatte. Er kaufte zwei Paar Freizeithosen aus Polyester (»Dacron«, Herr des Himmels), zwei billige Paar Schuhe von Florsheim und ein Jackett mit Hahnentrittmuster. Die Ärmel des Jacketts waren ein paar Zentimeter zu kurz, dafür war es überall sonst etwas zu groß. Und als Kopfbedeckung einen grauen Woll-Fedora mit einem Hahnentrittmuster, das sich mit dem des Jacketts biss.
Er betrachtete sich im Spiegel und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Das war nicht mehr Frank Guidry. Er sah aus wie jemand, der Lebensversicherungen verkaufte und an einem Ort wie Santa Maria, New Mexico, wohnte.
Na ja, das war ja schließlich das Ziel der Übung gewesen.
Im kleinen Spirituosenladen gab es zwei Arten von Scotch: den billigen und den ganz billigen. Aber in seiner Situation konnte Guidry es sich nicht leisten, Ansprüche zu stellen.
Am Dienstagmorgen hatten sich die Wolken verzogen. Die Luft war kühl und klar, der Himmel von einem hellen, zaghaften Blau. Er aß pappiges Gebäck aus dem Motel-Automaten, trank Scotch mit dünnem Kaffee und sah aus dem Fenster. Zwei kleine Mädchen hockten auf dem Rand des leeren Swimmingpools und ließen die Beine baumeln. Daneben lag ihre Mutter auf einem Liegestuhl. Gestern auf dem Weg in die Stadt hatte Guidry einen Abschleppwagen gesehen, der die drei hier am Old Mexico Motor Court abgesetzt hatte. Vermutlich war sie die Frau neben dem Auto im Straßengraben, an der er auf dem Highway vorbeigekommen war.
Dienstagmorgen. Neun Uhr. Guidry hatte eine weitere Nacht überlebt. Er hatte schon angefangen, auf diese Weise das Fortschreiten der Zeit zu bemessen.
Die Frau am Pool war nicht übel. Als sie sich gestern am Münzfernsprecher begegnet waren, hatte er sie sich genauer angesehen. Große, ernste Augen, ein kleiner Kussmund. Das Haar sollte sie allerdings lieber offen tragen, einen kräftigeren Lippenstift verwenden und vor allem dieses Kleid loswerden, eine züchtige Nummer mit hochangesetzter Taille, die selbst Fernsehhausfrau Donna Reed zu bieder wäre. Zu einer anderen Zeit, in glücklicheren Tagen, hätte Guidry es sicherlich genossen, sie aufzutauen und zu spüren, wie sie unter seinen Händen schmolz. In einem anderen Leben.
Das schlecht sitzende Jackett, der Fedora. Vielleicht konnte er sich noch eine Brille besorgen. Sich die Haare färben? Sicher, aber Guidry wäre immer noch Guidry. Das war das unausweichliche Dilemma. Er wäre immer noch ein allein reisender Mann, Ende dreißig, durchschnittliche Größe und Gewicht, grüne Augen und Grübchen mitten im Kinn. Nichts davon konnte er ändern.
Oder doch? In seinem Kopf begann sich ein Plan zu entspinnen. Er ging hinüber zur Motel-Rezeption und zog sich noch ein Teilchen aus dem Automaten. Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer blieb er am Pool stehen – um den Ausblick auf die Wüste zu bewundern.
»Herrlicher Tag, was?«, bemerkte er laut.
Die Frau sah zu ihm herüber. Sie trug einen Ehering, aber Guidry hatte nirgends einen Ehemann entdeckt. »Ja«, sagte sie. »Das ist er.«
»Nett, Sie wiederzusehen. Wir sind uns gestern beim Telefon begegnet. Ich heiße Frank. Frank Wainwright.«
»Ja, ich erinnere mich. Charlotte Roy.«
Charlotte Roy. Ein Kleinstadtmädchen, so tugendhaft und langweilig wie ein Kornfeld, mit einem eselsohrigen Neuen Testament in der Handtasche und unkomplizierten Vorstellungen von Richtig und Falsch. Guidry wollte sie nicht verschrecken, also würde er ganz behutsam vorgehen müssen. Dazu war er durchaus in der Lage. Er war zu allem in der Lage, was die Situation erforderte.
Er schob sich den Hut ein Stück aus dem Gesicht und lehnte sich an das Eisengitter vor dem Pool. Es ging ein kühles Lüftchen, aber in der Sonne war es angenehm warm.
»Sehen näher aus als gestern«, sagte er. »Die Berge meine ich. Als ob sie sich über Nacht an uns rangeschlichen hätten.«
Die Frau beschirmte die Augen mit der Hand und suchte den Horizont ab. »Ich bin mir ganz sicher, wir sind schneller und können ihnen entkommen«, entgegnete sie.
Guidry musste lachen und warf ihr einen raschen Blick zu, um sie sich nochmals anzusehen. Er mochte Frauen, die nicht auf den Mund gefallen waren.
Die kleinen Mädchen, die eine war blond, die andere hatte braune Locken, hatten sich umgedreht und betrachteten ihn.
»Ich bin Rosemary, das ist Joan«, sagte die mit den Locken. Die Haar- und Augenfarbe hatte sie von ihrer Mutter. Die kleine Blonde hatte ihre großen, ernst dreinblickenden Augen. »Wir sind aus Oklahoma.«
»Davon hab ich schon mal gehört«, sagte Guidry.
»Wir fahren nach Los Angeles und besuchen Tante Marguerite. Die wohnt in Santa Monica, direkt am Meer.«
Also fuhren sie nach Westen, genau wie Guidry gehofft hatte. Mal sehen, wie sich das anhörte: Frank Wainwright, Versicherungsvertreter, unterwegs mit seiner Frau und den beiden Töchtern. Wenn Guidry das hinbekäme, wäre er so gut wie unsichtbar.
»Da fahre ich auch hin«, sagte Guidry. »Nach Los Angeles. Die Stadt der Engel. Wusstet ihr, dass die Spanier es vor langer Zeit so getauft haben?«
»Ehrlich?«, fragte das lockige Mädchen.
»Großes Ehrenwort«, sagte Guidry.
Er fragte sich, wann der Wagen der Frau fertig war. Aber er war zuversichtlich. Das Auto hatte ziemlich ramponiert ausgesehen, und Guidry hatte noch keinen Mechaniker getroffen, der sich mit einer Reparatur unnötig beeilt hätte.
»Na dann, ich sollte wohl besser«, sagte Guidry. Schön unverfänglich, nicht zu forsch, besonders nicht bei der ersten Unterhaltung. Zum Abschied von den drei Damen tippte er sich an den Hut. »Bis dann. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Vielleicht sieht man sich ja noch mal.«