Die Frau, Charlotte, verlangte Guidry doch ein wenig mehr ab, als er gehofft hatte – sie war nicht ganz so einfach zu lesen. Aber er leistete brav die Vorarbeit. Er sorgte dafür, dass sie sich immer wieder über den Weg liefen, er installierte sich mitten in ihrem Leben, er machte sich zu einer vertrauten Größe. Das war bereits die halbe Miete. Und dann konnte er seinen Charme spielen lassen und etwas direkter werden. Aber nicht zu direkt. Sie sollte ihm vertrauen. Als sich eines Abends im romantischen Mondschein die Gelegenheit bot – beziehungsweise er sie für sich geschaffen hatte –, machte er sich nicht an sie heran. Nicht doch, auf den Gedanken wäre er niemals gekommen. Schließlich war er der perfekte Gentleman.
Sein Schlaf war unruhig. Jedes Mal, wenn er einnickte, tippte ihm ein hartnäckiges Gefühl der Sorge an die Schulter und ließ ihn wieder hochschrecken. Was, wenn er falschlag? Was, wenn Seraphines Leute sich von der Sache in Goodnight nicht hatten täuschen lassen? Was, wenn sie wussten, dass er auf dem Highway 66 nach Westen unterwegs war? Was, wenn sie ihm jetzt, in diesem Moment, bereits auf den Fersen waren und sich langsam, aber sicher die Schlinge um ihn zuzog?
Am Mittwochmorgen schenkte er sich Scotch und einen Schuss Kaffee in seinen Becher. Nahm sich an der Rezeption die Tageszeitung aus Albuquerque – Caroline besucht das Grab ihres Vaters – und ließ sich am Fernsprecher mit Las Vegas verbinden, Evergreen 5-1414, bitte.
Der Butler mit dem englischen Akzent ging wieder dran. »Das Anwesen von Mr. Zingel.«
Guidry zögerte. Wie wäre es damit: auflegen und stattdessen Seraphine anrufen. Und ihr dann was erzählen? Vergeben und vergessen, Schnee von gestern? Er wusste, was sie sagen würde. Sie würde zu Guidry sagen: Aber natürlich, mon cher. Komm wieder nach Hause. Ich werde dich mit offenen Armen empfangen. Und dann hätte sie jemanden am Flughafen postiert, der nur darauf wartete, dass er aus dem Flugzeug stieg. Seraphine mochte Guidry, das wusste er, aber dafür konnte er sich letzten Endes überhaupt nichts kaufen.
»Ich bin’s noch mal, Jeeves«, sprach Guidry in den Hörer. »Ich hatte gestern schon mal angerufen.«
»Ah, richtig. Mr. Marcello«, entgegnete Eds Butler. »Einen Moment bitte.«
Dann war auch schon Big Ed am Apparat.
»Hör gut zu, du hinterhältiges Stück Scheiße«, polterte Ed. »Du mieser, schwanzlutschender Itaker. Du willst also, dass ich dir einen Gefallen tue? Ich tu der ganzen Menschheit einen Gefallen. Ich ramm dir nen Pistolenlauf in deinen Itaker-Arsch und drücke ab. Nein, ich ramm dir gleich zwei Pistolen in den Arsch und drücke dann ab.«
»Hallöchen, Ed«, flötete Guidry.
»Einen Gefallen? Um der alten Zeiten willen? Soll das ein Witz sein, du beschissener …« Ed hielt inne. Guidry konnte hören, wie er wütend auf und ab lief und dabei lautstark durch den Mund atmete. »Frank?«
»Dachte ich mir doch, dass diese Nachricht dein Interesse wecken würde«, sagte Guidry.
»Frank Guidry. Gottverdammt.«
Guidry wusste nicht, warum Ed Carlos so sehr hasste. Er war nur erleichtert, es bestätigt zu sehen.
»Wie ist es dir ergangen, Ed?«
»Verdammt, Boychik«, grummelte Ed. »Wegen dir hatte ich gerade fast nen Herzanfall, so geladen war ich. Eigentlich sollte ich dir ne Pistole in den Arsch stecken.«
»Mir geht’s prima, danke der Nachfrage«, sagte Guidry.
Guidry hörte, wie Ed den Butler wegschickte. Eine Tür schloss sich mit einem leisen Klicken. Jetzt begann der Tanz. Guidry würde lügen. Ed würde lügen. Sie würden einander umkreisen und Pirouetten drehen, wobei jeder hoffte, beim anderen eine bloße Stelle zu entdecken – die Wahrheit, oder zumindest einen Teil davon. Man musste auf seine Schritte achten und durfte nicht aus dem Rhythmus kommen.
»Dann erzähl mir mal, was du angestellt hast, dass der schmierige Mistkerl derart aus dem Häuschen ist. Es heißt, er lässt nicht locker, bis du tot bist, und das am liebsten gestern. Du warst doch sein Goldjunge.«
»Die haben mich mit der Hand in der Kasse erwischt«, sagte Guidry.
»Blödsinn. All der Aufriss um ein bisschen Bares? Quatsch. Carlos hat jeden und seine Großmutter auf dich angesetzt. Was ist wirklich passiert?«
»Wer sagt denn, dass in der Kasse Geld war?«
Ed ließ das einen Moment auf sich wirken, dann lachte er. »Du hast seine Tochter gevögelt?«
»Sie hat mich gevögelt. Ich schwöre bei Gott, Ed. Ich lag nur steif vor Angst da, während sie sich an mir abgerackert hat. Ich wollte ja fliehen, glaub nicht, dass ich nicht dran gedacht hätte.«
Ed brach in schallendes Gelächter aus und bekam einen Hustenanfall. Vielleicht kaufte er Guidry die Geschichte nicht ab. Aber sie war lustig, und bei Ed war das schon was.
»Ich wünschte, ich hätte das Gesicht von dem Mistkerl gesehen, als er’s rausgefunden hat«, keuchte Ed. »Hast du sie auch geschwängert? Du kriegst umgehend zehn Riesen von mir, wenn du sie geschwängert hast. Ich hol schon mal mein Scheckbuch aus der Schublade.«
»Ich hab sie nicht geschwängert. Nein. Und es wäre nett, wenn du solche hässlichen Gerüchte nicht in Umlauf bringen würdest.«
»Mehr als einmal kann er dich nicht umbringen«, bemerkte Ed.
»Ich mache mir auch mehr Sorgen wegen dem, was vor dem Umbringen kommt.«
»Wo bist du?«
»Miami.«
»Blödsinn.«
»Ich muss dringend das Land verlassen, Ed. Hilfst du mir jetzt oder nicht?«
»Ich hab doch gesagt, ich helfe dir, oder?«
»Ach ja?«, sagte Guidry. »Muss ich wohl überhört haben.«
»Ich helfe dir, Boychik. Ist doch wohl klar.«
»Was wird mich das kosten?«
»Jetzt beleidige mich nicht. Ist mir doch ein Vergnügen. Geht aufs Haus.«
Unwahrscheinlich. Sicher, Ed hasste Carlos und mochte Guidry, aber das würde nicht reichen. Guidry würde blechen müssen, und zwar sein gesamtes Erspartes, bis auf den letzten Penny.
»Ich weiß von ein paar Geschäften, die die Marcellos planen«, sagte Guidry. »Die Einzelheiten. Carlos will expandieren. Einer, der Bescheid weiß, könnte einen Riesengewinn machen, Ed.«
»Hmm.«
Hmm. In der Sprache, mit der sie beide vertraut waren, hieß das: Was hast du noch? Das Problem war nur, dass Guidry nichts anderes anbieten konnte. »Ed …«
»Ach, vergiss all das, Boychik«, sagte Ed. »Ich habe Größeres mit dir vor.«
Es wunderte Guidry nicht, dass Ed sich in den paar kurzen Minuten, die sie jetzt miteinander telefonierten, schon eine Bezahlung überlegt hatte. Oder Ed hatte es sich schon vorher überlegt, als Guidry ihm die erste Nachricht hinterlassen hatte. Er wusste die ganze Zeit, dass es Guidry war, der angerufen hatte, und nicht Carlos. Und er hatte richtig geraten, was den Grund für seinen Anruf anging.
»Ich bin gespannt, Ed«, sagte Guidry.
»Indochina«, sagte Ed.
»Indochina?«
»Gerade fließt das Geld kübelweise nach Vegas, aber wo wird es morgen hinfließen? Das ist die Frage, die mich wirklich interessiert. Jetzt, wo er Präsident ist, wird Lyndon B. Johnson seinen dicken texanischen Schwengel auspacken und damit rumwedeln wollen. Nicht Kuba, das ist Schnee von gestern. Vietnam, Boychik, da geht’s demnächst los, das ist der neue Krisenherd. Die CIA braucht einen richtigen Krieg. Hughes ebenfalls. Rüstungsaufträge wachsen schließlich nicht auf Bäumen.«
Bis jetzt hatte Guidry nur einen Zug im Voraus geplant. Am Leben bleiben. Aus dem Land verschwinden, weit weg von Carlos. Darüber hinaus würde Guidry sich Gedanken über die Traufe machen, wenn er es aus dem Regen geschafft hatte.
»Du willst, dass ich für dich arbeite?«, fragte Guidry.
»Mit mir«, korrigierte ihn Ed. »Du bist intelligent und weltgewandt, und du würdest deine eigene Großmutter verkaufen, wenn’s dir einen Vorteil bringt. Genau so jemanden will ich, um meine Interessen zu vertreten. Dieser dämliche Schmalzlappen in New Orleans hat deine Fähigkeiten verschwendet. Da drüben wirst du den Laden schmeißen. Saigon macht verdammt viel Spaß, hab ich gehört. Genau das Richtige für dich. Du wirst den anderen zuvorkommen und uns die besten Plätze für die Vorstellung sichern. Wie hört sich das an?«
Es hörte sich gut an. Ganz wunderbar sogar. Es hörte sich an wie ein Saxofon-Solo von Art Pepper oder eine Frau, die vor Lust aufstöhnte. Ed hätte ihn in der Tasche, und Guidry stünde für immer in seiner Schuld, na und? Er bot Guidry gerade an, ihm sein Leben zurückzugeben. Vielleicht nicht genau das, das er in New Orleans gehabt hatte, aber ein ziemlich ähnliches, nur noch bunter und besser.
Klar klang es gut. Aber klang es vielleicht zu gut?
»Ed, du bist ein Fürst unter den Menschen. Danke«, sagte Guidry.
»Wie schnell kannst du in Vegas sein?«, fragte Ed. »Hast du einen Pass?«
»In zwei Tagen. Freitag. Den Pass habe ich nicht bei mir.«
»In Ordnung. Kein Problem. Ruf mich an, sobald du hier bist. Ich werde mich um alles kümmern.«
Guidry legte auf. An dem Zustand der zeitweilig ausgesetzten Ungewissheit, in dem er sich vor dem Gespräch befunden hatte, hatte sich nichts geändert. Nur dass sie jetzt noch weiter angewachsen war und sich unter ihm ein bodenloser Schlund aufgetan hatte.
Vertrau Ed. Ed vertrauen? Guidry rief sich nochmals in Erinnerung, dass er immer noch keine bessere Idee hatte. Also, auf nach Las Vegas. Jetzt musste er es nur noch von hier dorthin schaffen, ohne erkannt und, vor allem, ohne umgebracht zu werden.
Acht Uhr dreißig am Morgen. Er wollte Charlotte nicht zufällig im Ort begegnen, also ging er zu ihrer casita, um nachzusehen, ob sie da war. Die blonde Tochter machte die Tür auf.
»Hallo, Joan«, sagte Guidry.
Die Kleine wägte mit ernster Miene ihre Begrüßung ab. »Hallo.«
Die lockige Tochter, Rosemary, drängte sich an ihr vorbei. »Hallo, Mr. Wainwright. Wir sind in New Mexico.«
»Ja, das sind wir«, entgegnete er. »Und zwar vom Scheitel bis zur Sohle.«
Charlotte trat lächelnd hinter ihre Töchter. Sie bemerkte die Autoschlüssel in Guidrys Hand, und erfreulicherweise geriet ihr Lächeln ins Stocken. »Oh. Reisen Sie ab?«
»Abreisen? Nein, nicht vor morgen oder Freitag. Ich dachte, ich fahre mal in den Ort und mache ein paar Besorgungen. Und bringe eine große Tüte Marmeladendonuts mit, wenn jemand hier mir verspricht, mir beim Aufessen zu helfen.«
»Ja!«, rief Rosemary.
»Das ist aber nett von Ihnen«, bedankte sich Charlotte.
»Keiner rührt sich vom Fleck. Ich bin gleich wieder da«, sagte Guidry.
Er fuhr nach Santa Maria hinein. In einem so winzigen Örtchen dauerte es nicht lange, bis er die Werkstatt gefunden hatte. Der Mechaniker war gerade in der Reparaturbucht an einem Auto zugange und schloss ein neues Rücklicht an. Dasselbe Auto, das Guidry am Rand des Highways gesehen hatte, wo es den Unfall gehabt hatte. Und auch dasselbe, das hinten am Abschleppwagen gehangen hatte, der Charlotte zum Old Mexico Motor Court gebracht hatte.
Der Mechaniker sah zu ihm herüber. Guidry analysierte seinen Gesichtsausdruck. Kaum eine Reaktion. Leichte Irritation, mürrische Gleichgültigkeit. Gut. Also war er keiner von denen, die nach Guidry Ausschau hielten.
»Bin beschäftigt«, brummte ihm der Mechaniker zu.
»Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie sich noch meinen Dodge ansehen könnten, bevor ich mich morgen wieder auf den Weg mache«, sagte Guidry. »Zumindest den Keilriemen prüfen.«
»Beschäftigt.«
»Was Sie nicht sagen. Was ist das da drüben, woran Sie gerade arbeiten?«
Guidry nahm einen Zehndollarschein aus seinem Portemonnaie und legte ihn auf eine Werkbank. Schlagartig änderte sich die Atmosphäre im Raum. Der Mechaniker richtete sich auf und schielte auf das Geld.
»Das ist doch das Auto, das ich vorgestern an Ihrem Abschleppwagen gesehen habe«, sagte Guidry. »Gehört ner Lady und ihren beiden Töchtern.«
»Ganz genau«, entgegnete der Mechaniker.
»Sah ziemlich ramponiert aus. Was ist Ihre Einschätzung?«
»War nicht so schlimm. In ein paar Stunden hab ich ihn fertig.«
Guidry behielt das Portemonnaie draußen. »Das sind doch ganz wunderbare Neuigkeiten.«