17

Zum Mittagessen gab es bei Charlotte und den Mädchen Wiener Würstchen und Cracker. Der Nachtisch bestand aus dem Rest der Donuts, die ihnen Frank am Morgen an die Tür gebracht hatte. Nach dem Essen gingen sie wieder zu Fuß in den Ort. Das Wetter war wieder herrlich, fast frühlingshaft. Charlotte fragte sich, wie wohl der Winter in Kalifornien sein würde. Sonne, milde Meeresbrise, tiefgrüne Natur. Sobald daheim in Woodrow der Dezember anbrach, sog die Kälte alle Farbe aus dem Himmel, und der Wind fegte die Blätter von den Bäumen.

Auf einem mit Klebestreifen an der Tür der Werkstatt befestigten Zettel stand In fünf Minuten zurück, also schickte Charlotte die Mädchen zum Spielen in den Park gegenüber. Vom Münzfernsprecher an der Ecke versuchte sie es erneut bei Tante Marguerite.

»Fünfzig Cent, bitte«, sagte die Telefonistin.

Charlotte steckte die Münzen in den Schlitz. Sie hatte gerade angefangen zu zählen, wie oft es klingelte, aber fast unmittelbar meldete sich eine weibliche Stimme.

»Hallo?«

»Marguerite?«, fragte Charlotte.

»Am Apparat. Wer ist dran?«

»Tante Marguerite, hier ist Charlotte.«

»Charlotte.«

»Deine Nichte Charlotte. Aus Oklahoma.«

»Ja, natürlich. Ich weiß, wer du bist. Charlotte. Das ist eine Überraschung.«

Marguerites Stimme klang irgendwie abgehackt und metallisch, wie ein Hammer, der auf einen Meißel trifft – jetzt erinnerte sich Charlotte. Und sie erinnerte sich jetzt auch, was ihre Mutter einmal gesagt hatte: Wenn man Eis für seinen Drink bräuchte, müsste man sich nur ein, zwei Stückchen von Marguerite abschlagen.

»Wie schön, nach all der Zeit deine Stimme zu hören, Tante Marguerite«, fuhr Charlotte fort.

»Ja.«

Schweigen. Charlotte hatte gehofft, zunächst eine Unterhaltung in Gang zu bringen und sich dann langsam an ihr Anliegen heranzutasten, um das meiste aus ihren fünfzig Cent herauszuholen. Aber offenbar funktionierte diese Taktik nicht.

»Tante Marguerite, ich rufe an, weil die Mädchen und ich vielleicht bald nach Kalifornien kommen. Meine Töchter und ich, nach Los Angeles. Und ich dachte, falls es keine zu große Zumutung ist, ich dachte, wir könnten dich vielleicht besuchen.«

»Bei mir wohnen, meinst du?«, brachte Marguerite es auf den Punkt.

»Wenn es dir nicht allzu viel ausmacht«, murmelte Charlotte.

»Das ist keine gute Idee. Bei mir ist nicht viel Platz, und ich arbeite von zu Hause, musst du wissen. Da kann ich keine lärmenden Kinder gebrauchen, die überall herumwuseln und im Weg sind.«

Charlotte hatte sich auf die Möglichkeit gefasst gemacht, dass Marguerite vielleicht nein sagen würde, aber die Geschwindigkeit und Entschlossenheit dieser Absage – wie ein Ast, der glatt mittendurch gebrochen wird – überraschte sie doch.

»Hallo?«, fragte Marguerite. »Bist du noch dran?«

»Ja, tut mir leid. Das versteh ich natürlich.«

»Ich kann ein gutes Hotel empfehlen. Wie lange habt ihr vor, in Los Angeles zu bleiben?«

»Wie lange? Also, eigentlich lasse ich mich … lassen mein Mann und ich, Dooley, wir lassen uns … vielleicht lassen wir uns scheiden.«

»Ihr lasst euch scheiden. Aha.«

»Und da dachte ich … Kalifornien. Da wollte ich schon immer leben. Was mir vorschwebt, was ich glaube, dass wir, die Mädchen und ich, brauchen, ist, noch einmal neu anzufangen, eine neue Seite aufzuschlagen. Ich weiß, das klingt sicher albern.«

Marguerite beeilte sich keineswegs, ihr zu widersprechen. Stattdessen seufzte sie. »Los Angeles ist eine schwierige Stadt. Überhaupt nicht so, wie sich’s die Leute immer vorstellen, nur goldene Strände, Orangenhaine und Filmstudios.«

»Nein, natürlich nicht.« Obwohl das bei näherer Betrachtung nicht weit von dem entfernt war, was Charlotte sich darunter vorgestellt hatte.

»Also gut«, fuhr Marguerite fort. »Wie ich bereits sagte, kann ich euch ein gutes Hotel empfehlen, wenn ihr so weit seid. Aber wenn du meinen Rat hören willst, würde ich dir empfehlen, dich um ein Apartment zu kümmern, bevor du ankommst. Hotels können hier recht teuer sein.«

Charlotte brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass das Gespräch beendet war – ein weiterer Ast, der entzweiging.

»Vielen Dank«, sagte sie nur.

»Viel Glück, Charlotte«, sagte Marguerite zum Abschied.

Charlotte legte auf. Sie rief sich in Erinnerung, dass es immer ungewiss gewesen war, ob sie bei Tante Marguerite unterkommen konnten. Das war ihr von Anfang an klar gewesen. Na schön. Es gab andere Möglichkeiten, falls sie sich entschloss, trotzdem nach Kalifornien weiterzufahren. Andere Möglichkeiten würden sich auftun.

Sie ging zurück zur Werkstatt und klingelte an der Tür. Und klingelte ein zweites Mal. Schließlich kam der Mechaniker heraus und wischte sich die Hände an einem öligen Lappen ab. Tabaksaft tropfte ihm aus dem Mundwinkel.

»Guten Tag«, sagte Charlotte. »Ich komme wegen meines Wagens.«

»Ja.«

»Werden Sie ihn heute noch fertig machen können? Wie viel wird es kosten?«

Der Mann schob sich den Tabakpriem von einer Backe in die andere. Er vermied es, sie direkt anzusehen. Sie machte sich auf die schlechte Nachricht gefasst. Fünfzig Dollar? Fünfundsiebzig? Doch wohl keine hundert.

»Die Vorderachse ist komplett durchgebrochen, der Fahrschemel ist total im Eimer«, sagte der Mechaniker. »Und noch schlimmer, das Getriebe ist auch im Eimer. Sie müssen mit Karacho in den Graben gekracht sein. Ist total hinüber.«

»Das Getriebe ist hinüber?«, fragte Charlotte.

»Nein, das Auto. Das Auto ist hinüber.« Der Mann schob den Tabakpriem wieder zurück auf die andere Seite. »Die Reparatur würde sie mehr kosten, als das ganze Auto wert ist. Ich werd Ihnen nichts vormachen.«

Charlotte spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Eine heiße Röte überzog ihre Schlüsselbeine, und von der Kombination der Gerüche in dem engen, kleinen Büro, Tabak, Öl und Schweiß – der des Mechanikers und ihr eigener – wurde ihr schwindlig.

»Haben Sie … kann ich mich einen Moment setzen?«, stammelte sie.

Der Mann räumte einen Stapel Ersatzteilkataloge und Männermagazine von einem Klappstuhl. Er brachte ihr einen Pappbecher Wasser und kramte eine Schachtel Streichhölzer hervor, damit sie sich ihre Zigarette anstecken konnte.

Noch immer sah er sie nicht an. »Tut mir leid, Ma’am.«

Als Charlotte wieder nach draußen trat, waren auf der anderen Straßenseite die Mädchen gerade dabei, den Hund dazu zu bringen, auf die Wippe zu klettern. Sie blieb stehen und sah ihnen zu. Sie fühlte sich wie betäubt, zerbrechlich, wie die zertretene trockene Hülle einer Zikade.

Sie kramte eine weitere Zigarette aus ihrer Tasche hervor. Eine Träne rann ihr vom Kinn und verschmierte die Tinte vorne auf ihrem Adressbuch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weinte. Oder wann sie angefangen hatte.

Wie dumm von ihr zu glauben, sie könnte tatsächlich den Mumm haben, die Sache durchzuziehen, tatsächlich Oklahoma ein für alle Mal den Rücken kehren, Dooley ein für alle Mal den Rücken kehren und ganz allein neu anfangen. Dabei lag ihre wahre Begabung im Nachgeben und Aufgeben. Als Mr. Hotchkiss sich geweigert hatte, sie Fotos für die Zeitung machen zu lassen, hatte sie aufgegeben. Als Dooley sich geweigert hatte zuzugeben, dass er ein Alkoholproblem hatte, hatte sie nachgegeben. Als der Tankwart vor ein paar Tagen in Texas sie anzüglich angesehen hatte, hatte sie nach unten auf ihre Hände gestarrt und sich noch bedankt.

Ihr fiel die Geschichte von den drei kleinen Schweinchen ein, die die Mädchen so gern gemocht hatten, als sie noch kleiner waren. In der Geschichte ihres eigenen Lebens war Charlotte nicht aus Stein gebaut, ja noch nicht einmal aus Holz, sie bestand aus Stroh, wie das Haus, das der Wolf so mühelos hatte umpusten können.

Dooley kannte sie offenbar besser, als sie sich selbst kannte. »Komm wieder nach Hause, Charlie«, hatte er am Ende ihres Telefonats am Montag zu ihr gesagt. »Du weißt, du kommst wieder zurück.«

Sie sah den Mädchen zu. Würden Rosemary und Joan sich später an irgendetwas hiervon erinnern? Wie würden sie sich daran erinnern? Und wie würden sie sich an sie erinnern?

Der Hund sprang vom Sitz der Wippe, und die Mädchen beeilten sich lachend, ihn wieder einzufangen. Er wälzte sich auf dem Rücken und schnappte glücklich nach dem trockenen Gras.

Charlotte fiel auf, dass er keinen Anfall mehr gehabt hatte, seit sie Woodrow verlassen hatten. Die neuen Tabletten schienen zu wirken. Ihm ging es eindeutig besser, und er war lebhafter und mehr wie der Hund, den sie kannte, als es lange Zeit der Fall gewesen war.

Würde dieser Zustand anhalten? Nein. Der Tierarzt hatte sie gewarnt, dass der Hund selbst im Idealfall sehr wahrscheinlich noch hin und wieder einen Anfall bekommen würde. Diese Rückschläge würden allerdings schwächer ausfallen und weniger häufig auftreten. Jedes Mal wenn das Leben ihm einen Streich spielte, würde der Hund widerstandsfähiger sein und schneller wieder auf die Beine kommen.

Und in diesem Moment stand ihr Entschluss fest. Sie würde nicht nach Oklahoma zurückkehren. Und sie würde nicht zu Dooley zurückkehren. Egal, was passierte. Das Auto war ein Rückschlag. Mit Sicherheit würde es weitere geben. Aber davon brauchte sie sich nicht abschrecken lassen. Sie würde einfach jedes Mal die Entscheidung treffen, schnell wieder auf die Beine zu kommen.

Charlotte hatte keine Ahnung, wie sie es nach Kalifornien schaffen sollten, aber sie würde schon einen Weg finden. Und wenn sie erst mal dort waren? Wie sollten sie über die Runden kommen? Charlotte würde sich etwas einfallen lassen. Vielleicht hatte Frank ja recht. Vielleicht schuldete das Universum ihr wirklich einen Gefallen.

Und da war er auch schon, Frank, und kam die Straße entlanggeschlendert, als habe sie ihn herbeigezaubert. Als er näher herangekommen war, verschwand sein Lächeln, und er musterte sie besorgt. Sicher sah sie furchtbar aus mit ihrer verschmierten Wimperntusche.

»Was ist los?«, fragte er. »Und wie kann ich helfen?«