19

Heute war Thanksgiving. Als Guidry den Wagen auf den Highway steuerte, bedankte er sich innerlich dafür, Santa Maria, New Mexico, ein für alle Mal den Rücken kehren zu können und endlich wieder unterwegs zu sein.

»Jetzt geht’s los«, sagte er zu seinen Reisegefährten. Charlotte saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, ihre Töchter und der Hund auf der Rückbank.

Der Mechaniker hatte sich zuerst geziert, als Guidry ihm fünfzig Dollar geboten hatte, wenn er der Frau sagte, ihr Wagen sei nicht mehr zu retten. Der Mann hatte behauptet, so etwas Mieses könne er nie im Leben tun, besonders nicht bei so einer netten Lady und ihren Töchtern. Von wegen. Er wollte nur den Preis in die Höhe treiben. Bedauerlicherweise steckte Guidry in der Klemme und hatte keine andere Wahl. In den guten alten Zeiten hatte er nie feilschen müssen. Ja, Sir. Aber natürlich, Sir. Grüßen Sie Mr. Marcello von mir, Sir.

Aber sieh das Positive. Wenn Big Ed Zingel sein Wort hielt, bräuchte sich Guidry keine Gedanken um Geld zu machen, sobald er in Las Vegas ankam. Und wenn Ed es nicht täte? Bräuchte er sich ebenfalls keine Gedanken um Geld zu machen – außer um die Münze für Charon, damit er ihn über den Fluss Styx ins Reich der Toten brachte.

Der Mechaniker zumindest hielt sich an seinen Teil der Abmachung. Charlotte kam aus der Werkstatt gewankt, als sei sie gerade von einem Bus angefahren worden.

Guidry passte den Zeitpunkt für seinen Auftritt als Retter perfekt ab. »Wie kann ich helfen?«

Sie berichtete von dem Auto. Er hörte voller Mitgefühl zu. Das musste Guidry ihr lassen: Auch wenn sie gerade noch geweint hatte, wirkte sie jetzt wieder gefasst. Den Schlag hatte sie weggesteckt wie ein Profi – weder zitterte ihre Stimme, noch senkte sie den Blick.

»Tja, Charlotte, dann ist es wohl gut, dass ihr einen Plan B habt.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin mir nicht sicher, dass wir den haben, Frank.«

»Ich fahre doch auch nach Los Angeles, oder? In meinem Auto ist massenhaft Platz. Und dass ich gut mit Hunden umgehen kann, haben Sie selbst gesehen.«

Sie musterte ihn eingehend. Ihr Gesichtsausdruck war eher überrascht als misstrauisch, aber für den Bruchteil einer Sekunde war sich Guidry sicher, dass sie ihn durchschaute.

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich könnte niemals …«

»Lassen Sie uns mal die Gründe durchspielen, warum nicht. Zuerst Sie.«

»Weil …«

»Mit dem Bus brauchen Sie drei Tage. Der hält in jedem Kaff zwischen hier und dem Pazifik. Und drei Personen und ein Hund, das wird nicht billig.«

Guidry beobachtete sie, als sie sich den Rest selbst zusammenreimte. Wie viel würde der Bus kosten? Würde der Fahrer überhaupt Hunde mitnehmen?

Er rieb sich das Kinn, als er einen plötzlichen »Geistesblitz« hatte. »In Los Angeles werden Sie doch ein Auto brauchen, oder? Passen Sie auf. Ich habe einen Freund in Las Vegas. Das liegt genau auf dem Weg nach Los Angeles. Ed hat da draußen mehrere Unternehmen. Wie’s der Zufall will, ist eins davon ein Gebrauchtwagenhandel.«

»Ich habe nicht annähernd genug Geld, um ein Auto zu kaufen«, sagte Charlotte.

»Sie haben mehr als genug, um sich eins zu leihen«, entgegnete Guidry. »Ed ist der Inbegriff des barmherzigen Samariters. Er hat selbst Töchter.«

Guidry hatte keine Ahnung, ob Big Ed überhaupt Kinder hatte. Na, jetzt hatte er welche. Er hatte Töchter, einen Autohandel und ein weiches, großzügiges Herz.

»Aber ich könnte niemals …«, stammelte sie. Sie versuchte, sich mit der Idee anzufreunden. Und sie sich gleichzeitig auszureden.

Fast hatte er sie. Jetzt musste er sich zurückziehen und sie gehen lassen. Das erste Ja einer Frau musste ihr leicht und ohne Zwang über die Lippen gehen. Damit das nächste ihr umso leichter fiel.

»Entschuldigung«, sagte Guidry. »Ich hatte doch versprochen, nicht zu versuchen, Ihnen etwas anzudrehen. Wie wäre es hiermit: Ich fahre nicht vor morgen. Würden Sie wenigstens darüber nachdenken, bevor Sie sich entscheiden? Eine Nacht darüber schlafen?«

Noch immer zögerte sie. Guidry konnte nicht erkennen, ob er es vermasselt hatte. Hatte sie ihn tatsächlich durchschaut, bis in die Tiefen seiner finsteren, betrügerischen Seele geblickt?

Nein. Natürlich nicht. Aber sie hatte genügend Scharfsinn, um zu spüren, dass alles nicht ganz das war, was es zu sein schien.

»Ja«, sagte sie schließlich, »ich werde eine Nacht darüber schlafen. Sie sind sehr liebenswürdig, Frank.«

»Freut mich, dass Sie das finden, Charlotte.«

Und jetzt waren sie hier und brausten den Highway 66 hinunter. Charlotte war angespannt und hatte die Hand in ihrem Schoß fest zur Faust geballt. Immer noch nicht ganz davon überzeugt, dass es klug war, das Angebot anzunehmen, in seinem Auto mitzufahren. Aber Guidry entdeckte kleine Anzeichen, dass sie sich allmählich entspannte. Hin und wieder ein Blick, der hinaus ins High Desert ging und dort verweilte. Der Anflug eines Lächelns, wenn ein Lied, das ihr gefiel, im Radio kam.

»Wir machen gerade eine Liste«, verkündete die Tochter mit den Locken, Rosemary.

Guidry wurde auf einmal bewusst, dass sie mit ihm sprach. Sie hatte das Kinn neben seiner Schulter auf die Sitzlehne gelegt. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie dort schon so gesessen hatte.

»Rosemary, stör Mr. Wainwright nicht«, ermahnte sie Charlotte.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Guidry. »Listen sind sehr wichtig, finde ich. Das Anzeichen eines systematischen Verstandes.«

Rosemary zeigte ihm ihr Disney-Naturbuch. Auf dem Einband waren eine Eule, eine Spinne, etwas, das wie ein Kojote aussah, und ein Oktopus abgebildet. Das Rätsel der verborgenen Welt.

»Das ist über Tiere und Fische und Vögel und Insekten, die nur nachts rauskommen«, erläuterte sie. »Wir machen eine Liste mit unseren Lieblingstieren aus dem Buch. Zuerst kommt natürlich der Kojote, weil der so süß aussieht wie ein Hund. Oder, Joan? Für Fische, Vögel und Insekten haben wir jeweils eine eigene Liste.«

Charlotte warf Guidry heimlich einen amüsierten Blick zu. »Lasset, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.«

»Na, dann solltet ihr besser die Augen aufhalten, da draußen, auf der rechten Seite. Kojoten zeigen sich nämlich auch tagsüber ab und zu. Vielleicht seht ihr ja einen.«

Beide Mädchen drängten sich an das Fenster, die kleinen Hände flach an die Scheibe gedrückt. Überflutet von Sonnenlicht und mit einem so entschlossenen, reinen Ausdruck der Konzentration auf den Gesichtern, dass die Erde aufhören würde, sich zu drehen, sollten sie jemals nachlassen. Von irgendwoher kam Guidry eine lang verschüttete Erinnerung angeflogen. Seine Schwester, Annette, im Alter von vier oder fünf Jahren. Sie kniete auf einem Stuhl vor dem Fenster und beobachtete, wie ihre Mutter auf das Haus zukam. Guidry wäre zu dem Zeitpunkt acht oder neun gewesen. Ihre Mutter entdeckte die beiden am Fenster und lächelte. Überflutet von Sonnenlicht. Bloß nicht blinzeln oder sie verschwindet für immer.

Das Schlimmste an einer unglücklichen Kindheit: die seltenen glücklichen Momente, wenn man eine kurze Ahnung davon bekam, wie das Leben hätte sein können.

»Meinst du, wir sehen einen Kojoten, Joan?«, fragte Rosemary ihre Schwester. »Ich glaube, das werden wir.«

In Coolidge mussten die kleinen Mädchen auf die Toilette. Dann ein Zwischenhalt zum Mittagessen, an einem Hamburger-Drive-in in Gallup. Die Bedienung war sehr gesprächig. Guidry bemühte sich, den richtigen Eindruck bei ihr zu hinterlassen, nämlich dass er Familienvater war. Für den Fall, dass Seraphines Leute später hier aufkreuzen und sich nach einem gut aussehenden Junggesellen erkundigen sollten.

Wir sind unterwegs nach Los Angeles. Die beiden Kleinen da auf dem Rücksitz waren noch nie in Disneyland. Hier, bitte schön, Rosemary, hier, bitte schön, Joan. Wer hatte Vanille-Malz und wer Schokolade? Soll ich noch mal mit dem Hund gehen, bevor wir weiterfahren?

Sein Gassi-Plan wäre beinahe danebengegangen. Während er darauf wartete, dass der Hund eine Wurst in der Länge eines Gartenschlauchs abdrückte, kam die Bedienung zu ihnen herüber, beugte sich nach unten und fragte, wie denn der süße Kerl hieße. Das hätte Guidry auch gerne gewusst.

»Na, am ehesten reagiert er auf ›Fresschen‹«, improvisierte er.

Die Bedienung kicherte. Der Hund, noch immer damit beschäftigt, seine Wurst herauszupressen, warf Guidry einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich weiß genau, was du vorhast, Freundchen.

In Lupton musste Rosemary schon wieder. Und Joan dann in Chambers. Wenn das so weiterginge, hätte Guidry auch nach Las Vegas laufen können. Allerdings war dieses lahme Tempo vielleicht zu seinem Vorteil. Vielleicht hatte Seraphine ihn längst überholt und ließ ihre Leute durch die Städte und Häfen schwärmen und entfernte Gefilde absuchen.

Die Mädchen sangen in gedämpfter Lautstärke Lieder. Guidry merkte sich den Namen des Hundes fürs nächste Mal. Lucky. Charlotte hatte sich so weit entspannt, dass sie die Hand nach dem Verstellknopf des Radios ausstreckte.

»Darf ich?«, fragte sie.

»Bitte, natürlich.«

Die nächsten paar Meilen hörten sie den Sender, den sie eingestellt hatte, ohne sich zu unterhalten. Guidry erkannte den Sänger nicht. Schwache Stimme, kratzig und nasal, aber mit einem ganz eigenen Charakter.

»Wie heißt das Lied?«, fragte Guidry.

»Don’t Think Twice, It’s All Right«, sagte Charlotte. »Interessante Botschaft, finden Sie nicht?«

»Er verlässt sie«, mutmaßte Guidry. »Oder sie hat ihn rausgeworfen. Da bin ich mir allerdings nicht sicher.«

»Aber vielleicht geht’s gar nicht um einen Mann und eine Frau. Oder zumindest nicht im Kern.«

Neugierig geworden, warf er ihr einen raschen Blick zu. »Erhellen Sie mich.«

»Vielleicht geht es um uns alle. Als Individuen – und als Nation. Darum, den Mut zu haben, zu seinen Überzeugungen zu stehen. Als der Präsident erschossen wurde, sagte mein Schwager, die Welt geht vor die Hunde. Aber dieser Überzeugung ist er schon lange. Ich glaube nicht, dass das, was in Dallas passiert ist, wirklich das ist, was Leuten wie ihm solche Angst macht.«

»Sie meinen die Schwarzen«, merkte Guidry an. »Die Bürgerrechtsbewegung und so weiter. Ihr Schwager hat Angst, dass man den Geist nicht wieder zurück in die Flasche bekommt.«

»Nicht nur die Schwarzen. Auch Frauen. Die jungen Leute. Alle, die so lange an den Rand gedrängt wurden, dass sie es sich nicht länger bieten lassen wollen.«

»Die Bibel sagt, selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen«, entgegnete Guidry. »Aber daran habe ich immer gezweifelt.«

»Ich auch. Ich glaube, das tut auch Bob Dylan. Die Sanftmütigen werden das Erdreich nicht besitzen. Man muss seine Stimme erheben. Man muss sich nehmen, was einem rechtmäßig zusteht. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass irgendjemand es einem einfach gibt.«

Diese Antwort hatte Guidry nicht erwartet. Wieder einmal wurde er daran erinnert, dass sie nicht die Frau war, für die er sie gehalten hatte. Er fragte sich, was ihr Mann daheim in Oklahoma machte. War er Getreidebauer? Oder hatte er irgendeinen anderen alltäglichen Beruf? Was Charlotte anging, hatte der Mann jedenfalls ein interessantes Blatt gezogen. Vielleicht war ihm das gar nicht bewusst.

Apropos: Warum war der Vater bei diesem Familienausflug eigentlich nicht mit von der Partie? Seltsamer Zeitpunkt, um eine Tante in Kalifornien zu besuchen. Die Weihnachtsferien fingen erst in knapp einem Monat an. Rosemary und Joan hätten die letzten drei Tage eigentlich in die Schule gehört.

»Wie lange werden Sie in Los Angeles bleiben?«, fragte er.

Charlotte zögerte, was Guidry keineswegs entging. Er hatte recht gehabt. Sie war auf der Flucht, genau wie er.

»Mommy? Können wir jetzt darüber reden? Wie lange wir in Kalifornien bleiben?« Joan stellte die Frage, aber Rosemary hörte aufmerksam zu.

»Oh, guckt mal, Kinder!«, rief Charlotte.

Sie zeigte auf eine Werbetafel für den Petrified Forest und die Painted Desert, den »Versteinerten Wald« und die »Bemalte Wüste«. Darauf war ein Indianer mit Federschmuck abgebildet, der auf einem Berggipfel stand und seinen Blick über die sich unter ihm erstreckenden Felsen und Mesas schweifen ließ, eine zerknüllt wirkende Landschaft in Blutrot und der Farbe von flüssigem Gold, die denselben ungesunden Orangestich aufwies wie die Haut des Indianers.

Die kleinen Mädchen drückten sich wieder ans Fenster. Charlotte strich sich den Rock glatt und tat so, als sei sie ebenso fasziniert von der Werbetafel.

Als Guidry ihren Blick erhaschte, sah er sie entschuldigend an. Tut mir leid, ab jetzt halte ich meine vorlaute Klappe.

»Mommy! Ist die Wüste wirklich bemalt?«, fragte Rosemary. »Wer hat sie denn angemalt? Ist der ganze Wald versteinert? Dürfen wir auf die Bäume klettern? Warum sind die Bäume versteinert? Warum ist die Wüste bemalt? Gibt’s da Indianer?«

Der Versteinerte Wald kam zuerst an die Reihe. Guidry hielt am Aussichtspunkt. Familien und ein einsamer Wolf, der auf der Motorhaube seines klapprigen Trucks saß. Schmutzige Twillhosen, schmutziges Holzfällerhemd, angegrauter Dreitagebart. Als Guidry aus dem Wagen stieg, musterte ihn der Mann eingehend. Guidry ignorierte ihn. Er folgte Charlotte und den Mädchen an das Geländer.

Der Versteinerte Wald war eine Enttäuschung. Wald? Nein, nur geschwärzte formlose Klumpen, weit verstreut auf der kiesigen Ebene wie Zigarrenstummel in einem Aschenbecher. Die kleinen Mädchen waren jedoch begeistert. Zumindest Rosemary.

»Guck mal, Joan!«, rief Rosemary. »Ein Wald, komplett in Stein verwandelt! Von einem Zauberer! Weil die Prinzessin, die er liebte, ihm das Herz gebrochen hat. Zumindest glaube ich das, Joan. Glaubst du das auch?«

Guidry hatte den verschlagen aussehenden Typen im Holzfällerhemd doch schon mal irgendwo gesehen, oder? Hatte er den ramponierten Truck schon in Gallup gesehen, am Hamburgerstand? Guidry war sich nicht sicher. Spürte er, dass der Mann ihn beobachtete? Auch diesbezüglich war er sich nicht sicher.

Die Bemalte Wüste war noch weniger beeindruckend als der Versteinerte Wald. An diesem bewölkten Spätnachmittag hatte das gesamte Panorama die Farbe von alter Seife. Selbst Rosemary konnte es sich nicht schönreden. Nach ein paar Meilen stießen sie jedoch auf einen riesigen, drei Meter großen Gipsindianer. Der »Big Chief Trading Post and Restaurant«.

Die Mädchen liefen ehrfürchtig einmal um den Großen Häuptling herum. Er sah aus, als sei er in einen harten Kampf mit einem Noch Größeren Häuptling verwickelt gewesen. Die Figur hatte Schlagseite, ein Ohr und diverse Finger fehlten, und nahezu die gesamte Bemalung war vom Wüstenwind abgeschmirgelt worden. Ein Auge starrte blicklos, blind, benommen. Na, an wen erinnerte Guidry das? Hm, mal überlegen.

Guidry beobachtete Charlotte, die ihren Töchtern zusah und dabei lächelte, und für einen kurzen Moment konnte er nicht genug von ihrem Anblick bekommen.

Diese Reise, ihr Auszug aus Ägypten, hatte bei Charlotte ihre Spuren hinterlassen. Wie wäre es auch anders möglich? Zwei kleine Mädchen, ein kaputtes Auto, eine Zukunft, die man bestenfalls als ungewiss bezeichnen konnte. Da war eine Anspannung in ihrem Gesicht, die Haut unter ihren Augen zu dünn und durchscheinend. Feine Fältchen, neue. Sie war immer noch jung, würde es aber nicht mehr allzu lange sein. Das machte sie nicht weniger attraktiv. Manches Lächeln wurde mit den Jahren nur noch schöner.

Aber im Lauf der Jahre hatte Guidry sich zu einer Menge Frauen hingezogen gefühlt. Und nie hatte sein Urteilsvermögen darunter gelitten. Warum sollte es diesmal anders sein?

Der ramponierte Truck kam langsam auf den Parkplatz gerollt. Guidrys Blick folgte ihm aus dem Augenwinkel. Der verschlagene Mistkerl im Holzfällerhemd stieg aus. Er streckte sich, gähnte und kratzte sich am Hintern.

Keine Panik. Der Mann war nicht hinter Guidry her. Das Big Chief Trading Post and Restaurant war gerammelt voll: Es war der einzige Ort weit und breit, wo man etwas zu essen bekam. Und für seinen Hunger konnte man schlecht jemandem einen Vorwurf machen.

Sie setzten sich draußen an einen der Picknicktische. Guidry beschloss, wagemutig zu sein, und bestellte sich die Tamales als Thanksgiving-Abendessen. Sie waren nicht übel, hauptsächlich Maisbrei mit etwas Hackfleisch drin. Von der scharfen Sauce bekam er Schluckauf, aber Rosemary wusste, was dagegen half. Sie legte ihm die Hand aufs Knie und erklärte ihm Schritt für Schritt, was er tun musste.

Augen zu, Luft anhalten, rückwärts von zehn zählen. Guck mal, da ist ein ganz schreckliches Monster! Buh! Genau hinter dir!

Es funktionierte tatsächlich, was sagte man dazu? Guidrys Schluckauf war weg.

Ein paar Tische weiter streckte der verschlagene Mistkerl die Hand nach dem Senf aus und warf Guidry einen noch längeren, noch eindringlicheren Blick zu.

Entspann dich. Entspannen? Das Schwert über Guidrys Kopf hing wie in der Sage an einem einzigen Rosshaar. Es würde nicht viel brauchen, und er wäre geliefert: ein leiser Windhauch, eine Zufallsbegegnung, ein flüchtiges Wiedererkennen. Ein Mann, ein Anruf in New Orleans: das Ende.

Der verschlagene Mistkerl hatte seine Mahlzeit beendet und ging wieder hinein. Guidry stand auf. Er nahm seine leere Bierflasche mit.

»Soll ich mal nachsehen, was es für uns zum Nachtisch gibt?«, fragte er Charlotte und die Mädchen. »Ich glaube, das mache ich.«

Im Lokal schlängelte der Mann sich an den Touristen und den Andenken in der Vitrine, den Navajodecken und echten Pfeilspitzen, vorbei. Er bog in einen Flur und verschwand.

Was hast du vor, verschlagener Mistkerl?

Einen Münzfernsprecher suchen, das hatte er vor.

Guidry folgte ihm. Der Flur war leer. Eine Hintertür stand offen. Guidry prüfte das Gewicht der Bierflasche in seiner Hand. Man konnte jemandem mit fast jedem beliebigen Gegenstand den Schädel einschlagen. Das hatte er im Pazifikkrieg gelernt. Wenn man die richtige Nahtstelle fand und immer weiter darauf eindrosch, öffnete sich der Schädel wie eine Blüte ihre Blätter.

Er trat nach draußen, auf den Hinterhof des Gebäudes. Der Mann drehte sich um und entdeckte ihn.

»Suchst du das Telefon?«, fragte Guidry.

Zieh ihm jetzt die Flasche über, sagte er sich, bevor der Kerl sich darauf vorbereiten kann. Jetzt, wo es fast dunkel war und nur sie beide hier draußen. Dann die Leiche da rüber ziehen, hinter die Mülltonnen. Mit etwas Glück würde es Stunden dauern, bevor sie jemand entdeckte.

»Was?«, fragte der Mann.

Guidry konnte nirgends ein Münztelefon entdecken. Aber an der nächsten Rastmöglichkeit gäbe es eins, oder an der danach, und der Mann würde von dort aus seinen Anruf machen. Seraphine würde dann ganz genau wissen, wo auf der Karte Guidry sich befand. Und genau richtig raten, wohin er unterwegs war.

»Ich suche ne Stelle zum Pinkeln, wenn’s recht ist«, sagte der Mann ungehalten. »Der Lokus drinnen ist besetzt, und ich muss verdammt nötig. Nicht, dass Sie das was angeht.«

Guidry durfte kein Risiko eingehen. Er hatte einen einzigen Leitsatz, nach dem er lebte. Wenn es heißt, du oder ich, Kumpel, entscheide ich mich für mich. Und zwar jedes verdammte Mal.

Er machte einen Schritt auf den Mann zu. Der sah ihn gar nicht an. Stattdessen betrachtete er angestrengt eine Stelle ein Stück links von Guidry. Guidry wollte sich gerade in die Richtung drehen – wohin zum Teufel starrte er da? –, als er bemerkte, dass der Mann ihn mit seinem anderen Auge genau fixierte.

Herr des Himmels, Guidry fiel es wie Schuppen von den Augen, der Mann hatte ihn vorhin überhaupt nicht beobachtet – er schielte wie ein Chamäleon.

Guidry warf die leere Bierflasche weg.

»Worüber lachen Sie?«, fragte der Mann.

»Über gar nichts«, kicherte Guidry. »Entschuldigung.«

»Lach ruhig, du Blödmann. Ich bin es gewohnt.«

Guidry besorgte gebratene Süßkartoffeltaschen für Charlotte und die Mädchen und für sich noch ein Bier. Das brauchte er jetzt. Zurück im Auto, als der Große Häuptling hinter ihnen in der Dämmerung immer kleiner wurde, musste Guidry wieder lachen. Rosemary stützte das Kinn neben seiner Schulter auf den Sitz.

»Musst du gerade an einen lustigen Witz denken?«, fragte sie.

Guidry nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Ja, das kann man wohl sagen.«