22

»Ich bin vorher noch nie aus Texas rausgekommen«, sagte der schwarze Junge.

»Glückwunsch«, entgegnete Barone. »Jetzt bist du auf Weltreise.«

Tucumcari, New Mexico. Ein halbes Dutzend Motels, aufgereiht entlang des Highway 66. Barone überprüfte jedes einzelne.

Ich bin Privatdetektiv und suche jemanden, einen Mann. Hat Frau und Kinder daheim sitzen lassen, und seine Frau hat mich beauftragt, ihn ausfindig zu machen. Kann sein, dass er einen Dodge fährt, oben blau, unten weiß. Keine Ahnung, welchen Namen er derzeit benutzt. Ich beschreibe Ihnen mal, wie er aussieht.

Es folgten zwei Motels in Santa Rosa, zwei in Clines Corner und eins in Moriarty. Derselbe Sermon, derselbe leere Blick als Reaktion, dasselbe »Nein, tut mir leid, nee, nie gesehen«.

Barone behielt den Rückspiegel im Auge. Jetzt, da sie Texas verlassen hatten, machte er sich nicht allzu viele Sorgen wegen der Bullen. Die hatten nichts in der Hand, um ihn aufzuspüren.

Am Mittwochabend übernachteten sie in Moriarty. Barone hatte sich zu viel zugemutet. Er schaffte es kaum vom Auto bis in sein Zimmer. Der Junge ging die Straße runter in das einzige Restaurant am Ort und holte Barone eine Schüssel Suppe. Er gab Barone seine Tabletten und bröselte Saltine-Cracker in die Suppe, genau wie es seine Schwestern daheim in Houston immer für ihn machten, wenn er krank war, wie er sagte.

Eine Nacht durchschlafen wirkte bei Barone Wunder. Am Donnerstagmorgen, an Thanksgiving, fühlte er sich mehr oder weniger wiederhergestellt. Als er unter dem Verband nachsah, war die Schwellung an seiner Hand fast vollständig zurückgegangen.

Barone brauchte den ganzen Tag, um in den Motels, Hotels und Wohnheimen in Albuquerque nachzufragen. Zwischen den einzelnen Stationen ließ der Junge ihn an seinen zahlreichen Überzeugungen teilhaben. Er teilte ihm mit, er würde niemals für eine Firma wie die von Barone arbeiten, wo man nicht wenigstens ab und zu einen Tag frei hatte. Er hatte vor, sich eine hübsche Frau zu suchen, die etwas im Kopf hatte, und zu heiraten, sobald er mit der Highschool fertig war, also übernächstes Jahr. Aber vielleicht würde er auch erst zur Army gehen.

»Du willst nicht zur Army«, kommentierte Barone.

»Und wieso nicht?«, fragte der Junge.

»Hör einfach auf mich. Und warum bist du so scharf drauf, so schnell zu heiraten?«

»Mann. Warum ich so scharf drauf bin, so schnell zu heiraten.«

»Ich hab keine Ahnung. Deshalb frage ich ja.«

»Wieso stellen Sie mich ihr nicht vor?«, fragte der Junge. »Der schwarzen Rechtsanwältin, von der Sie neulich erzählt haben.«

Am Freitag schafften sie den Rest von New Mexico und ein gutes Stück von Arizona. Kurz vor Holbrook wurde ein Radiosender allmählich schwächer und verschwand, während ein anderer langsam klarer wurde. Das Lied, das dort gerade lief, baute sich Stück für Stück auf, wie Luftblasen, die an die Wasseroberfläche stiegen.

»›Round Midnight.‹« Da war es wieder, diesmal in der Klavier-Version von Billy Taylor. Als ob der Song Barone verfolgte. Oder Barone den Song.

»Glaubst du an Gott?«, fragte Barone.

»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte der Junge.

»Warum sagst du’s mir nicht einfach?«

Der Junge machte die nächsten ein, zwei Meilen ein finsteres Gesicht. Er war ein umsichtiger und gewissenhafter Fahrer. Nie nahm er die Hände vom Steuer oder die Augen von der Straße. Wenn das alles hier vorbei war, würde Barone ihn vielleicht tatsächlich Seraphine vorstellen, ein gutes Wort für ihn einlegen und dem Jungen einen richtigen Job verschaffen.

»Ja und nein«, sagte der Junge schließlich. »Glaube ich an Gott.«

»Beides geht nicht«, merkte Barone an.

»Ich glaube, Jesus war kein Weißer.«

»Wo hast du das denn gehört?«

»Ist doch egal.«

In Holbrook übernachteten sie und checkten ins Sun-and-Sand-Motel ein. Zumindest versuchten sie es. Als der Geschäftsführer den Jungen sah, schüttelte er den Kopf. Der Mann hatte lauter geplatzte Äderchen im Gesicht und war fett, vielleicht ein aus dem Leim geratener Ex-Bulle, zumindest hatte er diesen verächtlichen Zug um den Mund.

»Nein, nein, nein«, sagte der Mann. »Kommt überhaupt nicht infrage.«

»Bitte?«, fragte Barone.

Der Geschäftsführer kräuselte die Lippe. »Es ist ein plötzlicher Mangel an freien Zimmern aufgetreten.«

Barone hätte ihn gerne abgeknallt. Noch besser, an einen Stuhl gefesselt und ins tiefe Ende des Swimmingpools runtergelassen. Durch die sich gemächlich hin und her bewegenden Schichten von Sonnenlicht und Wasser dabei zugesehen, wie seine Augen aus den Höhlen traten und ihm allmählich bewusst wurde: Das war’s, Ende, Vorhang. Dieser Augenblick kam für viele als Überraschung, selbst wenn sie’s eigentlich hätten wissen müssen.

Der Junge war verschwunden. Barone fand ihn draußen im Auto wieder.

»Was soll das werden?«, fragte Barone.

»Ich schlaf im Auto. Macht mir nichts aus.«

»Nein.«

Sie fuhren die Straße eine Meile zurück zu Lucille’s Come On Inn. Lucille, falls sie es war, beäugte den Jungen. Sie schüttelte den Kopf, als bedauere sie, wohin es mit der Welt gekommen war, wenn kleine Neger auf der großen Straße einfach so frei herumlaufen durften. Letztendlich rückte sie jedoch einen Zimmerschlüssel heraus.

Der Junge machte Barone einen kalten Waschlappen, den er sich auf die Stirn legen sollte. »Wir brauchen ein Green Book.«

»Ein was?«

»Ein Green Book. Da steht drin, wo man als Schwarzer unterwegs willkommen ist. Damit man keinem auf die Füße tritt. Schwarze machen auch Urlaub. Mann. Dachten Sie vielleicht, die machen keinen?«

Barone hatte keinen blassen Schimmer, wovon der Junge da redete. Aber mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt.

»Hier ist ein Fünfdollarschein«, sagte Barone. »Bring mir Whiskey mit, sonst brauchst du dich gar nicht wieder hertrauen.«

»Nehmen Sie Ihre Tablette. Trinken Sie das Wasser da«, sagte der Junge.

Am nächsten Tag, dem Samstag, nahm sich Barone Winslow vor. Fehlanzeige. Weiter ging es nach Flagstaff.

In einem altmodischen Hotel im Stadtzentrum spulte Barone seinen Sermon zum dreißigsten, vierzigsten, fünfzigsten Mal ab.

Ich bin Privatdetektiv und suche jemanden, einen Mann. Hat Frau und Kinder daheim sitzen lassen, und seine Frau hat mich beauftragt, ihn ausfindig zu machen. Kann sein, dass er einen Dodge fährt, oben blau, unten weiß. Keine Ahnung, welchen Namen er derzeit benutzt.

Der Mann am Empfang trug eine altmodische Schürsenkel-Krawatte aus geflochtenem Leder, die mit einer silbernen, türkisbesetzten Spange zusammengehalten wurde. Vermutlich zwang ihn der Hotelbesitzer dazu, sie zu tragen, damit er optisch zum Hotel passte.

»Nein, an so jemanden kann ich mich nicht erinnern.« Der Mann sah in seinem riesigen Buch nach. »Nein. Nur Familien und verliebte Pärchen.«

Barone hatte den falschen Riecher gehabt. Immerhin war das eine Möglichkeit. Der Sheriff in Texas hatte gelogen, und Barone hatte sich hinters Licht führen lassen. Was er nur ungern in Betracht zog. Guidry könnte nach Osten statt nach Westen gefahren sein. Oder er war die vierundzwanzig Stunden nach Los Angeles durchgefahren, ohne zwischendurch zu übernachten. Er war längst in Mexiko.

Halb eins am Mittag. Es kam ihm vor wie halb eins in der Nacht. Barone wollte sich hinlegen und ein, zwei Jahre schlafen. Aber bei einem Auftrag gab er niemals auf. Das war seine einzige positive Eigenschaft, und zwar schon von klein auf. Selbst seine Stiefmutter, die ihn auf den Tod nicht ausstehen konnte, hatte es zugeben müssen. Paul Barone gab niemals auf.

Und dann das Lied, das er gestern wieder gehört hatte: »Round Midnight«. Vielleicht bedeutete es nichts. Vielleicht aber schon.

Also beschrieb er Guidry dem Mann an der Rezeption mit der altmodischen Schnürsenkel-Krawatte – zum dreißigsten, vierzigsten, fünfzigsten Mal. Größe, Gewicht. Dunkles Haar, helle Augen, das Lächeln. Dass Guidry versuchte, einem das Gefühl zu geben, man kannte sich schon seit Ewigkeiten.

Der Mann überlegte kurz. »Hm, da war … nein.«

Barone spürte ein Kribbeln. »Ja?«

»Das klingt sehr nach Mr. Wainwright. Aber der war ja mit seiner Frau da. Und seinen Töchtern.«

»Mit seiner Frau und seinen Töchtern?«, fragte Barone perplex.

»Sie sind zusammen angekommen. Ja. Und ich habe sie auch zusammen wieder abreisen sehen.«

Das war nicht Guidry. Konnte er nicht sein. »Was ist Ihnen noch an ihm aufgefallen?«

»An ihm aufgefallen?«

»An Mr. Wainwright. Denken Sie nach.«

»Na ja …« Der Empfangsmitarbeiter richtete sich auf. »Er hatte einen leichten Akzent, wenn ich jetzt drüber nachdenke. Ein bisschen wie Ihrer.«

Guidry, dieser gerissene Mistkerl. Irgendwie, auf irgendeine Art und Weise, hatte er es geschafft, sich unterwegs Frau und Kinder zuzulegen, wie Hut und Mantel vom Garderobenständer. Die Tarnung hätte auch fast funktioniert.

»Wann sind sie abgereist?«, fragte Barone.

»Heute Morgen. Gegen neun.«

Barone starrte den Mann ungläubig an. Guidry war nicht in Mexiko. Er hatte nur drei Stunden Vorsprung vor Barone.

»Wo wollten sie hin?«, fragte Barone. »Wissen Sie das zufällig?«

Der Mann zögerte. Barone musste sich zusammenreißen, um nicht seinen neuen .38er Police Positive auszupacken und dem Mann ins Gesicht zu halten.

»Sie will nur, dass er sich bei ihr meldet«, sagte Barone. »Seine Frau meine ich. Das ist alles. Sie ist völlig fertig mit den Nerven. Der Mann ist kein schlechter Kerl, hat sich nur in jemand anderes verliebt. Ich will ihm gar keine Schwierigkeiten machen. Aber wenn ich ihn nicht finde und dazu bringe, daheim anzurufen, werde ich nicht bezahlt.«

Der Empfangsmitarbeiter gab nach. »Sie fahren nach Las Vegas. Ich habe gehört, wie sie das am Telefon gesagt hat. Also Mrs. Wainwright. Oder Mr. Wainwrights … Begleitung.«

Barone trat vor die Tür. Auf der anderen Straßenseite gab es eine Telefonzelle.

»Er ist unterwegs nach Vegas«, teilte Barone Seraphine mit. »Ich bin drei Stunden hinter ihm.«

»Ich verstehe.« Seraphine bemühte sich, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Aber Barone konnte es hören. Vermutlich hörte sie es auch an seiner Stimme. »Carlos wird sich sehr freuen. Geh zu Stan Contini im Tropicana. In Las Vegas musst du vorsichtig vorgehen. Verstehst du?«

»Ich weiß, was zu tun ist.« Er wollte auflegen.

»Da wäre noch etwas, mon cher«, sagte sie.

»Was denn.«

»Der Vorfall im Polizeirevier in Texas. Gerade habe ich aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass der Verdächtige ein Weißer ist, der mit einem schwarzen Jugendlichen reist.«

Die Kellnerin in dem Diner. Die hatte Barone ganz vergessen. Er hatte sich gezwungen, sie zu vergessen.

»Sind das beunruhigende Neuigkeiten?«, fragte Seraphine.

»Wieso sollten sie das sein?«, entgegnete Barone.

»Wenn die Polizei weiß …«

»Ich melde mich aus Vegas wieder.«

Barone legte auf. Als sie aus Flagstaff rausfuhren, ließ er den Jungen an einem Supper Club namens The Tall Pine Inn anhalten. Gediegene Atmosphäre, gutes Essen, Bier und Wein zum Mitnehmen. Barone kaufte zwei Sechserpack Schlitz.

»Ich weiß, was der Arzt gesagt hat«, sagte Barone. »Ist doch nur Bier. Lass mich ein bisschen feiern.«

»Geben Sie mir auch eins«, sagte der Junge.

»Du musst fahren. Vergiss es.«

Nach zwei Meilen reichte Barone dem Jungen eine Dose. »Mach mal ein bisschen Musik an.«

Sie konnten nichts Anständiges finden. Nur jodelnde Hillbillys, Feuer-und-Schwefel-Prediger und Lesley Gore, die auf ihrer eigenen Party weinte. Sie war die Schlimmste, mit einer Stimme, die sich einem direkt in den Schädel bohrte.

Barone schaltete das Radio aus. Der Junge hatte sein Bier ausgetrunken und griff nach dem nächsten. Ohne zu fragen, weil ihn der Hafer stach.

»Das ist dein letztes«, sagte Barone. »Mach das meiste draus.«

»Mann«, kommentierte der Junge. »Mach das meiste draus.«

»Ganz genau.«

»Und Sie?«

»Was soll mit mir sein?«

»Glauben Sie an Gott?«, fragte der Junge.

»Nicht an den, an den die meisten glauben«, antwortete Barone.

Die kiefernbestandenen Berge lagen jetzt hinter ihnen. Vor ihnen erstreckte sich die knochentrockene, tote Wüste. Ein Straßenschild aus Blech, verziert mit einem Einschussloch, verkündete: Las Vegas 150 Meilen.

Der Junge hatte angefangen, das Lied von Lesley Gore in einem brüchigen Falsett zu singen. Jedes Mal kam er nur ein paar Takte weit, dann musste er so lachen, dass er wieder von vorn anfangen musste. Vollkommen blau schon nach zweieinhalb Dosen schwachem Bier.

»Huuiii! Ich muss dringend pinkeln«, sagte der Junge.

»Lass dich von mir nicht abhalten«, entgegnete Barone.

Parallel zum Highway verlief ein ausgetrocknetes Flussbett: fünfzig Fuß in Richtung Wüste und so tief, dass man ungestört pinkeln konnte.

»Da vorne«, sagte Barone. »Halt da an.«

»Ich muss Sie was fragen«, sagte der Junge.

»Ich dachte, du musst pinkeln. Dann mach. Ich muss nämlich auch mal.«

»Ich muss Sie aber was fragen.«

»Was denn?«

»Vergessen.«

Barone folgte dem Jungen hinunter in das trockene Flussbett. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Gürtel zu nehmen, damit die Sache nicht zu laut wurde, aber er konnte den Jungen gut leiden, und mit dem Gürtel dauerte es ewig. Außerdem fühlte sich Barone noch nicht wieder richtig fit, war geschwächt vom Fieber und hatte eine schlimme rechte Hand. Also schoss er dem Jungen mit dem Police Positive einmal in den Hinterkopf und dann zweimal zwischen die Schulterblätter.

Danach kletterte er wieder hoch zum Highway: meilenweit in jede Richtung kein Auto zu sehen. Barone stieg wieder ein, diesmal setzte er sich ans Steuer. Vom steilen Aufstieg war er außer Atem, aber jetzt war es nur noch ein kurzes Stück.