29

Searchlight lag eine Stunde weiter südlich auf dem Weg nach Bullhead City. Barone war auf der Hinfahrt nach Las Vegas durchgefahren. Dabei war er genau am El Condor vorbeigekommen.

Moe Dalitz’ Muskelpakete hatten Namen. Joey war der Fahrer, der, der immer das Reden übernahm, der Jüngere der beiden und auch der Dümmere, mit einem breiten, von Rasurbrand streifigen Hals. Er war derjenige, der im Hacienda den Arm um Barone gelegt hatte. Shelley war der auf dem Beifahrersitz, er redete nicht viel, sondern knallte nur mit seinem Kaugummi und ließ nacheinander die Knöchel seiner rechten Hand knacken. Nach dem Aussehen seiner zerfledderten Ohren zu urteilen, war er ein ehemaliger Boxer. Auch er war anscheinend nicht der Hellste.

Jemanden wie Sie könnte ich hier gut gebrauchen, hatte Dalitz zu Barone gesagt, aber das stimmte nicht. Dalitz und Sam Giancana hatten ein paar Jungs, die fast genauso gut wie Barone waren. Aber stattdessen hatte Dalitz Joey das Plappermaul und Shelley die abgehalfterte Witzfigur geschickt, um Barone abzuholen und auf ihn aufzupassen.

Hatte das etwas zu bedeuten? Wollte Dalitz Barone damit etwas sagen? Sagte er Barone das eine, wollte aber, dass er etwas ganz anderes tat? Barone hatte keine Ahnung. Das war auch nicht das, womit er sich auskannte. Moe Dalitz, Carlos, Seraphine. Die drei hielten jeden ihrer Schachzüge geheim. Sie sagten die Wahrheit, wenn sie logen, und logen, wenn sie die Wahrheit sagten. Sie bauten die Dominosteine auf und warteten, dass irgendein armer Idiot sie umstieß.

Barone konnte spüren, wie sein Fieber wieder anstieg und in ihm brodelte. Genau wie vor ein paar Tagen in New Mexico. Er würde sich noch ein Weilchen konzentrieren können, und dann, ohne jede Vorwarnung, würde er sich vollkommen verwirrt und orientierungslos fühlen. Auf einmal wäre er wieder in der Vergangenheit, zurück im Quarter, als der alte Schwarze »Round Midnight« gespielt hatte.

Der Graben, in dem er den Jungen hatte liegen lassen, befand sich auf der anderen Seite von Bullhead City. Theodore, nennen Sie mich nicht Ted, nennen Sie mich auch nicht Teddy. Vielleicht hatten die Bullen mittlerweile seine Leiche gefunden. Bloß irgendein schwarzer Junge, wen juckte das schon? Wegen ihm würden die Bullen sich nicht groß anstrengen.

Wenn er sich um Guidry gekümmert hatte, würde Barone vielleicht nicht wieder nach New Orleans zurückkehren. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen oder was er machen würde. In seiner Vorstellung sah er sich in einer Gegend voller Schnee, die Luft kühl und klar. Alaska vielleicht.

»Haben Sie mich gehört?«

Abrupt kehrte Barone aus Alaska zurück. »Was?«

»Ich habe gesagt, wir sind da«, sagte Joey Plappermaul.

Barone betrat das El Condor. Gerade konnte er sich wieder konzentrieren, die Wolken waren verschwunden, und der Himmel war wieder klar. Joey ging mit ihm hinein. Shelley blieb im Wagen, um den Parkplatz im Auge zu behalten. Für den Fall, dass Barone versuchen sollte, sich aus dem Hotel zu schleichen und sie abzuschütteln.

Joey sprach mit dem Manager und kam mit Barones Schlüssel wieder. In dem heruntergekommenen Zimmer gab es ein Bett, einen Stuhl und eine Kommode. Soweit Barone sehen konnte, war da nichts, was er als Waffe gegen Joey verwenden konnte. Höchstens die »Hasenohren« der Zimmerantenne. Den Glasaschenbecher. An einem guten Tag hätte er Joey in neun von zehn Fällen fertiggemacht, selbst wenn der eine Waffe gehabt hätte und Barone keine. Aber heute war kein guter Tag für Barone, und in neun von zehn Fällen, das Risiko war ihm zu groß.

Wenn es ein fairer Kampf ist, hast du irgendwas falsch gemacht, hatte Barone schon früh gelernt.

Er setzte sich auf die Bettkante. Joey setzte sich auf den Stuhl. Barone stand wieder auf. Joey tat es ihm nach.

»Ich besorge mir einen Drink«, sagte Barone.

»Was immer Sie sagen, Mr. Barone.«

Die Bar war spärlich beleuchtet und nahezu leer. Sie setzten sich an die Theke. Barone suchte sich einen Platz in der Nähe der Barmaße und Shaker, der Löffel und des Siebs, des Behälters voller Eis. Er bestellte einen doppelten Rye mit Coca-Cola auf Eis für sich und dann noch einen für Joey.

»Danke sehr«, sagte Joey. »Na, das nenn ich wahre Nächstenliebe.«

»Musst du unbedingt auf meinem Schoß sitzen?«, fragte Barone.

Joey grinste. Er rückte seinen Hocker noch ein kleines Stückchen näher an ihn heran. »Ich mache nur meinen Job, Mr. Barone.«

»Nenn mich Paul.«

»Ich hab nen Bruder namens Paul. Er lebt noch an der Ostküste, in Providence, arbeitet auf dem Bau. Wenn du denkst, ich bin ein ganz schöner Brocken, solltest du mal Paulie sehen. Ich bin der Mickrigste von uns.«

»Wer hat mich an deinen Boss verpfiffen?«, fragte Barone. »Hast du irgendeine Ahnung? Ihr seid mir gestern nicht gefolgt, sonst hätte ich’s sofort gemerkt.«

Joey grinste wieder. Barone machte ihn nicht nervös. Wieso auch? Joey war einer von Moe Dalitz’ Jungs. Und wenn man einen von Moe Dalitz’ Jungs umbrachte, war das ein Schlag gegen Moe selbst, und dann konnte man sich schon mal verabschieden. Niemand würde so dumm sein. Zumindest nahm Joey das an. In Wahrheit war die Sache ein wenig komplexer, wusste Barone. Und zwar besser als jeder andere.

»Paulie war mal rechter Tackle bei Notre Dame«, sagte Joey. »Du hättest ihn mal spielen sehen sollen. Wenn der in die Defensive Line reingerannt ist, ist die explodiert, als ob man ne Handgranate reingeworfen hätte. Bumm. Hätte in der Profi-Liga spielen können. Das haben alle gesagt.«

Das Ganze trieb ihn allmählich in den Wahnsinn. Niemand wusste, dass er Guidry im Hacienda aufgespürt hatte. Nur Stan Contini. Und Seraphine, falls Stan mit ihr gesprochen hatte. Also wie kam es dann, dass …«

Seraphine.

Aber sie würde bei der Sache doch keinen Sand ins Getriebe streuen wollen. Sie wollte doch, dass Barone Guidry erledigte. Nein, für sie war es sogar unbedingt notwendig. Seraphine war wegen der ganzen Sache nämlich genauso dran wie Barone selbst.

Aber irgendjemand hatte ihn an Moe Dalitz verpfiffen. Jemand … o Scheiße, Barone kapierte es jetzt, er war im Begriff das Rätsel zu lösen. Noch mal den ganzen Weg zurück nach Houston. Wie war es Guidry an dem ersten Abend in der Hotelbar gelungen, an Remy vorbeizukommen? Weil jemand ihm einen Hinweis gegeben hatte. Guidry hatte gewusst, dass Remy auf ihn wartete.

Seraphine. Sie hatte Guidry den Tipp gegeben. Sie war es, die die Dinge in Las Vegas für ihn ruiniert hatte. Oder aber derjenige, dem dieser grüne Rolls gehörte.

Joey deutete mit seinem Cocktailstäbchen auf Barones verbundene rechte Hand, die lädierte. »Was ist mit deiner Flosse passiert?«

»Die war zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Tut’s sehr weh?«

»Nur wenn ich atme.«

»Ich hab noch einen anderen Bruder, Gary, er arbeitet für Ray oben in Boston«, sagte Joey. »Mal von ihm gehört? Gary Ganza. Er ist der Schlauste von uns. Er ist dabei, richtig Karriere zu machen. Gary Ganza. Behalt die Reklametafel im Auge. Eines Tages steht da oben sein Name in erleuchteten Buchstaben.«

Barone wartete, bis Joey sich nach vorn beugte, um sich eine Handvoll Erdnüsse zu nehmen. Dann gab er dem Barhocker mit dem Knie einen kleinen Schubs. Joey war fast so massig wie die Zielperson in Houston, vielleicht noch massiger, aber gib mir einen Hebel und ich kann die Welt aus den Angeln heben.

Joey konnte sich gerade rechtzeitig wieder fangen, bevor er mit dem Stuhl umkippte. Allerdings knallte er auf die Bar, verteilte überall Erdnüsse und fluchte lauthals. Für den Barmann war das nichts Neues. Er warf Joey einen finsteren Blick zu und ging ein paar Schritte zur Seite, um in Ruhe weiterrauchen zu können.

»Bist du etwa schon blau, Joey?«, fragte Barone. »Nach nur einem Drink?«

Jetzt grinste Joey nicht mehr. Er beugte sich zur Seite und sah mit finsterer Miene nach unten. »Irgendwas stimmt nicht mit dem verdammten Hocker.«

»Schreib am besten an deinen Abgeordneten.«

»Leck mich.«

»Ich hab von einem Gary gehört, der für Patriarchi arbeitet«, sagte Barone. Der Griff des Eispickels aus lackiertem Kirschholz war geschwungen und hatte die Form einer Sanduhr. Das Holz fühlte sich kühl in Barones Hand an, da der Barmann den Pickel direkt neben dem Eisbehälter hatte liegen lassen. »Wie war noch mal der Nachname?«

Joey hörte auf, dem Bein seines Hockers eine Strafpredigt zu halten. »Ganza. Was hast du über Gary gehört?«

»Ich will ja nicht aus dem Nähkästchen plaudern.«

»Komm schon, erzähl.«

Barone legte Joey den rechten Arm um die Schulter, und Joey lehnte sich dicht zu ihm herüber, um besser zuhören zu können, dann hob Barone blitzartig die Linke und rammte Joey die gut zehn Zentimeter lange Spitze in den Gehörgang. Das Ganze war so schnell und sauber, rein und wieder raus, dass Joey einen Moment brauchte, bis er merkte, dass er tot war. Seine Augenlider flatterten, seine Lippen versuchten, Worte zu formen. Dann sackte er endlich zusammen. Barone, darauf vorbereitet, hielt ihn fest, bevor er vom Hocker rutschen konnte. Es gab keinen einzigen Tropfen Blut. Der Winkel musste genau stimmen, aber das war das Schöne an einem Eispickel direkt ins Hirn.

Jetzt kam der schwierige Teil. Barone bückte sich unter Joeys Arm hindurch und hob ihn auf die Füße. »Der Mickrigste von uns«, kaum zu glauben. Barone ging erst mal in die Knie, stemmte sich gegen das Gewicht und schaffte es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben. Tote waren schwerer als Lebende. Das war nun mal so.

»Auf geht’s, Kumpel«, sagte Barone laut. »Du hattest genug. Wir bringen dich jetzt ins Bett.«

Barone ließ einen Fünfdollarschein auf der Bar. Als der Barmann herübersah, bedachte Barone ihn mit einem Moe-Dalitz-Achselzucken, die Schulter hochgezogen bis zum Ohr. Tja, was soll man machen?

Er schleppte seinen bewusstlosen Kumpel mühsam aus der Bar. Ein langwieriges Unterfangen. Hau … ruck. Barone brach der Schweiß aus, ihm zitterten die Beine. Vorbei an den Blackjack-Tischen. Kein Mensch schenkte ihm und Joey auch nur die geringste Beachtung. Dann den Flur runter. Zum Glück war das El Condor auch ziemlich mickrig: Der ganze Laden war nicht viel größer als die Lobby des Dunes oder des Stardust. Wenn Barone Joey durch eins von denen schleppen müsste, würde er es niemals schaffen.

Das Zimmer, endlich. Barone schloss die Tür auf und ließ Joey auf das Bett plumpsen. Er probierte ein paar verschiedene Positionen an Joey aus, Arme und Beine so oder so, mit Kopfkissen oder ohne, bevor er sich für eine Stellung entschied, die überzeugend aussah und natürlich wirkte – wie jemand, der nach einer Sauftour bewusstlos ins Bett gefallen war.

Er nahm Joeys Waffe, die .45er, an sich. Jetzt zeigte sich ein dünnes Fädchen Blut, das sich aus Joeys Ohr an seiner Wange zum Kinn hinunterschlängelte. In der Brusttasche von Joeys Sakko fand Barone ein Stofftaschentuch. Damit tupfte er vorsichtig das Blut ab, faltete es wieder zusammen und steckte es zurück.

Wenn in Belgien in nächster Nähe eine Granate detoniert war, hatten einen die Schockwellen aus dem Körper gerissen und falsch herum wieder reingestopft. Barones Fieber war eine etwas sanftere Erfahrung, eher so, als atme ihn das Universum in einem gemächlichen Rhythmus ein und wieder aus, aber das Gefühl, als drehe sich ihm der Magen um, war dasselbe. Barone war kotzübel. Er ging ins Bad und beugte sich über die Schüssel. Nichts kam heraus. Der Schweiß rann ihm in Strömen herunter. Aber er musste sich nur einen Moment gedulden. Bald wäre es wieder vorbei.

Seraphine. War sie diejenige, die Guidry in Houston den Tipp gegeben hatte? Die Barone in Vegas das Leben schwer gemacht hatte?

Er würde es herausfinden. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn Barone Guidry erledigt hatte, würde er den nächsten Flug zurück nach New Orleans nehmen, die Tür von Seraphines Haus am Audubon Park eintreten und all die Dinge zu seinem persönlichen Vergnügen mit ihr machen, die er über die Jahre geschäftlich für sie hatte erledigen müssen.

Shelley die abgehalfterte Witzfigur hatte das Fenster heruntergerollt und den Arm auf den Türrahmen gelegt. Er entdeckte Barone und versuchte, sich einen Reim auf den Anblick zu machen. Barone, allein, aber nicht dabei, abzuhauen. Barone, allein, der mit einem ruhigen, freundlichen Gesichtsausdruck auf ihn zukam. Barone, der sagte: »Du solltest besser reinkommen, Joey kotzt sich die Seele aus dem Leib, muss wohl irgendein Virus sein.«

Als Shelley endlich nach der Pistole in seinem Holster tastete, war Barone bereits bei ihm, und es war zu spät.