31

Jetzt war es Charlotte klar, dass Frank ihr etwas verheimlichte. Vielleicht sogar alles. Was Ed anging, was ihn selbst anging. Aber eine andere Einsicht – dass er ihr nicht zuhörte, dass er aufgehört hatte, ihr zuzuhören – ließ ihr das Herz noch schwerer werden.

»Ich bin aus Oklahoma weggegangen, um mir und den Mädchen ein neues Leben aufbauen zu können. Das muss ich alleine machen. Das will ich alleine machen.«

»Bitte denk einfach drüber nach. Gib mir eine Chance. Wir lieben uns. Alles andere ist unwichtig.«

Er küsste sie. Und sie erwiderte den Kuss.

»Denk bitte einfach darüber nach. In Ordnung?«

Charlotte nickte. »Ja.«

Sie liebte ihn vermutlich tatsächlich. Aber an diesem Punkt in ihrem Leben gab es noch so viele andere Dinge, die wichtig waren. Die wichtiger waren. Das hätte er auch verstanden, hätte er ihr nur zugehört.

»Wiedersehen, Frank«, sagte sie.

»In einer Stunde bin ich wieder da.«

Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Charlotte setzte sich auf das Bett und wartete. Die cremefarbene Tagesdecke aus Chenille hatte ein Muster aus Rosenknospen. Sie zählte sie der Reihe nach ab. Als sie bei fünfzig angekommen war, als sie Frank genug Zeit gegeben hatte, mit dem Aufzug nach unten zu fahren und zu seinem Wagen zu gehen, als sie sicher war, dass er nicht zurückkommen würde, weil er Autoschlüssel oder Portemonnaie vergessen hatte, stand sie auf und ging über den Flur ins Zimmer der Mädchen.

Das Licht in ihrem Zimmer hatte sie ausgelassen – der Schein, der von der Minigolfanlage hereinfiel, musste reichen –, und so leise wie möglich zog sie die Schubladen der Kommode auf.

Die Mädchen würden entrüstet sein. Sie bestanden immer darauf, ihren Koffer selbst zu packen, und legten viel Wert darauf, dass alles genau dorthin kam, wo es hingehörte, und zwar in genau der richtigen Reihenfolge. Charlotte wollte sie jedoch noch nicht wecken, erst, wenn alles fertig war. Rosemary hätte zu viele Fragen. Charlotte würde erst einmal aufhören und ihr erklären müssen, warum sie jetzt abreisten, warum Frank nicht mitkam und warum sie sich so beeilen mussten. Charlotte hatte nur eine Stunde, bis Frank zurückkam. Sie wollte sich nicht zweimal von ihm verabschieden müssen.

Steigt ins Taxi, Kinder, schnell, beeilt euch. Ich werde euch alles erklären, sobald wir im Bus sitzen.

Fuhr spätabends noch ein Bus nach Los Angeles? Ja, ganz bestimmt. Und wenn nicht, würde Charlotte sich damit auseinandersetzen, wenn es so weit war.

Würden die Mädchen fragen, warum Frank sich nicht von ihnen verabschiedet hatte? O ja, das würden sie ganz sicher. Charlotte hatte keine Ahnung, was sie ihnen erzählen würde. Auch damit würde sie sich später auseinandersetzen.

Einer von Joans Schuhen fehlte. Charlotte kniete sich auf den Boden und tastete unter dem Bett herum. Der Hund kam zu ihr herübergetapst und stupste sie mit seiner kalten Nase seitlich an den Hals.

»Keine Sorge«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe dich nicht vergessen.«

Der Hund ließ sich neben ihr hinplumpsen und stieß ein skeptisches Seufzen aus.

»Die können sich nicht weigern, dich im Bus mitzunehmen«, versicherte sie ihm. »Das werde ich nicht zulassen.«

Charlotte fühlte sich … überraschend gut. Hellwach, mit klarem Kopf und optimistisch, was die Zukunft anging. Es war erst etwas über eine Woche her, dass sie wie betäubt und vollkommen ausgelaugt am Esszimmertisch gesessen hatte, während Dooley den Sonntagsbraten anschnitt. Und es war auch erst etwas über eine Woche her, dass sie sich bei der Aussicht auf einen weiteren Tag davon – von diesem Leben, von ihrem Leben – am liebsten klein zusammengerollt hätte und nie mehr aufgestanden wäre.

Jetzt, obwohl sie wusste, was für Prüfungen ihr noch bevorstanden, konnte sie es gar nicht erwarten herauszufinden, was der nächste Tag ihr bringen würde.

Endlich fand sich Joans fehlender Schuh: er klemmte zwischen dem Papierkorb und einem Bein des Schreibtischs. Als Charlotte sich wieder aufrichtete, entdeckte sie einen Umschlag auf dem Schreibtisch. Bei der spärlichen Beleuchtung im Zimmer wäre er ihr fast nicht aufgefallen. Im Umschlag befanden sich die Abzüge des Rollfilms, den sie Gigi anvertraut hatte.

Rasch blätterte Charlotte durch den Stapel. Eine der Aufnahmen von der Minigolfanlage war recht gut geworden, wenn auch nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Der Verschluss war ein wenig zu langsam gewesen, sodass die Schatten der Windmühle auf Frank und die Mädchen gefallen waren. Aber durch diesen zusätzlichen Bruchteil einer Sekunde war Rosemarys Pirouette ein paar Zentimeter höher ausgefallen, hob sich Joans Golfball in einem noch strahlenderen Weiß vom Hintergrund ab und war Frank in genau dem Moment zu sehen, als sich sein Mund zu einem Lächeln kräuselte.

Sie stopfte die Fotos in ihre Handtasche und packte zu Ende. Dann sah sie nach, ob die Mädchen noch schliefen. Der Tag auf dem See hatte sie vollkommen geschafft, und die beiden hatten sich noch nicht gerührt. Es würde ein ziemlicher Kampf werden, sie wach zu bekommen und anzuziehen, aber Charlotte hatte noch Zeit.

Zurück in Franks Zimmer gegenüber suchte sie sich einen Stift und ein Blatt des Hotelbriefpapiers. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm schreiben sollte. Was gab es noch zu sagen? In ihrem Kopf war er bereits dabei, sich zu verändern, von einer realen Person zu einer schönen Erinnerung zu werden. Eine Erinnerung, die mit der Zeit vielleicht noch schöner werden würde, allerdings auch weniger real.

Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihm das Foto zu schenken, das von der Minigolfanlage. Allerdings war es das beste des ganzen Films, also entschied sie sich, es zu behalten.

Als sie die Tür öffnete, um zu gehen, war sie überrascht, dort einen Mann stehen zu sehen. Sie nahm an, er wollte gerade anklopfen, obwohl er beide Arme an der Seite hatte.

»Oh«, rief sie erstaunt. »Hallo.«

»Ich bin vom Hotel«, sagte der Mann.

»Gibt es ein Problem?«

»Zurück ins Zimmer.«

Ihr erster panischer Gedanke: ein Feuer, die Mädchen, warum hatte sie den Alarm nicht gehört? Sie musste zu ihnen, sie musste jetzt sofort zu ihnen. »Meine Töchter. Ich muss sie …«

»Zurück ins Zimmer«, wiederholte der Mann. Er machte einen Schritt auf sie zu, und Charlotte war gezwungen, einen Schritt zurück zu machen, und bevor ihr bewusst wurde, was gerade vor sich ging, hatte der Mann die Tür hinter sich geschlossen und verriegelt.

Er war kreidebleich und schwitzte stark, einzelne feuchte Strähnen seines dunklen Haars klebten ihm an der Stirn. Sein Anzug sah aus, als ob er darin geschlafen hätte.

Er arbeitete nicht für das Hotel. Mit den Augen suchte er das Zimmer ab. An der rechten Hand hatte er einen Verband, vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen. Das war ihr vorher nicht aufgefallen. In der linken Hand hatte er eine Waffe. Wo war die auf einmal hergekommen? Sie war ihr ebenfalls nicht aufgefallen.

Ihr war schwindlig. Vielleicht arbeitete der Mann ja doch für das Hotel. Beim Sicherheitsdienst. Vielleicht …

»Wo ist er?«, fragte der Mann.

»Das hier ist nicht mein Zimmer«, sagte Charlotte.

»Wo ist er?«

»Er ist nicht da. Er wollte einen Freund besuchen.«

»Setzen Sie sich. Da aufs Bett.«

Wenn sie anfing zu schreien, würden die Mädchen vielleicht aufwachen. Und sie würden vielleicht hier herübergelaufen kommen. Sie wussten ja, wo sie war. Jede Nacht, wenn sie sie ins Bett brachte, hatte sie sich vergewissert, dass sie es verstanden hatten: Ich bin gleich gegenüber. Bis um zehn bin ich spätestens wieder da. Wenn ihr etwas braucht, egal was, kommt rüber und holt mich.

Wenn sie losschrie und der Mann mit der Pistole auf sie schoss, würden die Mädchen den Schuss hören und sofort herübergerannt kommen. Und dann würde er sie ebenfalls erschießen.

Die Mädchen, die Mädchen, die Mädchen. Charlottes Hirn geriet ins Stottern und hängte sich auf. Die Mädchen, die Mädchen, die Mädchen – sie konnte an nichts anderes denken. Egal, was passierte, was immer sie tat oder nicht tat, was immer dieser Mann ihr antat oder nicht antat, sie musste ihn von Rosemary und Joan fernhalten.

Sie war so dumm gewesen. Diese Sache hatte mit Frank zu tun. Nein, sie hatte mit dem Mann zu tun, den sie für Frank gehalten hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Ihre Hände zitterten. Sie ballte sie zu Fäusten und presste sie in die Chenilletagesdecke, in das erhabene Muster aus Rosenknospen.

»Wann kommt er wieder?«, fragte der Mann.

»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, in ungefähr einer Dreiviertelstunde.«

Der Mann warf einen raschen Blick ins Badezimmer, in den Kleiderschrank. Dann zog er die Vorhänge zu. »Ich werde Ihnen nicht wehtun.«

Seine Stimme, ruhig und im Plauderton, hätte sie eigentlich beruhigen sollen. Aber das tat sie nicht. Er zog den Stuhl vom Schreibtisch und setzte sich neben die Zimmertür. Mit seiner verbundenen Hand wischte er sich den Schweiß von der Schläfe und der Stirn.

Er war in Franks Alter. Kleiner, schmächtiger, einfach … ganz alltäglich aussehend. Tatsächlich war das die einzige Beschreibung, die ihr für ihn einfiel. Von seiner ungewöhnlichen Blässe abgesehen, hätte er jeder beliebige des Dutzends Männer sein können – Rezeptionsmitarbeiter, Kellner und andere Gäste –, die ihr bislang im Hotel begegnet waren. Augen, eine Nase, ein Mund. Sie wartete, ob er blinzelte, während er sich ein weiteres Mal im Zimmer umsah, aber er tat es nicht.

Der Mann schlug die Beine übereinander. Er legte den Arm mit der verbundenen Hand über die Rückenlehne. Die Hand mit der Pistole stützte er auf dem Knie ab, der Lauf zeigte wie zufällig auf eine Stelle ein Stück links von ihr.

Er war nicht nervös. Warum schwitzte er dann so? Betrunken war er auch nicht.

»Sie wissen, was passiert, wenn Sie mir irgendwelche Schwierigkeiten machen?«, fragte er.

Charlotte zwang sich, die Pistole auszublenden. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die wippende Spitze seines schwarzen Oxford-Schuhs. Die Mädchen, die Mädchen, die Mädchen. Was, wenn Rosemary einen ihrer Albträume hatte und sich nicht beruhigen ließ? Joan wusste, was zu tun war. Komm, wir holen Mommy. Was, wenn Joan wach wurde, weil sie Bauchweh hatte? Dann wusste Rosemary, was zu tun war. Komm, wir holen Mommy. Sie ist gleich gegenüber.

Ein leises, zaghaftes Klopfen an der Tür. Jeden Moment würde sie es hören. Charlotte würde schreien, so laut sie konnte. Lauft weg! Sie würden sich auf den Mann stürzen und versuchen, an seine Pistole zu kommen, und sie würde nicht aufhören zu schreien. Lauft weg!

Würden sie’s tun? Würden die Mädchen weglaufen? Nahezu jede Entscheidung, die Rosemary und Joan gemeinsam trafen, musste eingehend besprochen werden. Wie oft hatte sie mitbekommen, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten und sich beratschlagten wie zwei Anwälte in einem Gerichtssaal. Charlottes Schrei könnte sie entweder zum Handeln antreiben oder so erstarren lassen, dass sie sich nicht vom Fleck rührten.

Sie würde nicht lange genug leben, um herauszufinden, wofür sie sich entschieden hatten. Sie würde sterben, ohne zu wissen, ob sie in Sicherheit waren.

»Sie wissen, was passiert, wenn Sie mir irgendwelche Schwierigkeiten machen?«, fragte der Mann erneut.

Charlotte sah zu ihm hoch. »Lassen Sie mich gehen. Bitte. Ich reise ab. Ich habe schon gepackt. Was immer es ist, was immer Sie von Frank oder Ed wollen, ich habe nichts damit zu tun. Es … es interessiert mich nicht.«

»Ich werde Ihnen nicht wehtun.« Aber der Mann sagte es erst nach kurzem Zögern, als sei er ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte und ihn erst nach Anweisung aus dem Off aufsagte.

»Bitte«, flehte Charlotte. »Lassen Sie mich gehen.«

Er ließ die Schultern sinken. Ein sanfterer Ausdruck trat in seine Augen. Was geschah gerade mit ihm? Charlotte hatte mal einen Schokoladenkuchen zu früh aus dem Ofen genommen – früher, als sie noch nicht gut backen konnte – und dabei zugesehen, wie er vor ihren Augen seitlich weggesackt war.

Dem Mann gelang es, sich zu fangen. Er richtete sich wieder auf. Die Pistole ließ er nicht fallen.

»Ted?«, fragte er.

»Nein. Er heißt Ed. Wie er mit Nachnamen heißt, weiß ich nicht. Er ist Franks Freund.«

Ein Frösteln durchfuhr den Mann. Dann hörte es wieder auf. Ein wenig Farbe kehrte in seine Wangen und Lippen zurück.

»Sie sind krank«, sagte Charlotte. »Sie haben Fieber.«

»Ist mir schon schlechter gegangen.«

»Ich heiße Charlotte. Wie heißen Sie?«

Sie wusste, es war aussichtslos. Der Mann sah sie auf dieselbe Weise an, wie er die Lampe mit dem gebogenen Hals oder den Glasaschenbecher auf dem Nachttisch oder die nackte Wand hinter ihr ansah.

»Falls mich jemand fragt«, fuhr sie fort, »werde ich schwören, dass ich Sie noch nie im Leben gesehen habe.«

»Halten Sie den Mund«, sagte er.

»Möchten Sie, dass ich Ihnen ein Glas Wasser bringe?«

Was konnte sie tun? Die Mädchen, die Mädchen, die Mädchen. Das Klopfen an der Tür, jede Sekunde würde es kommen. Was würde passieren, wenn Frank zurückkam?

»Wo sind Ihre Kinder?«, fragte der Mann.

Jetzt durchfuhr sie ein Frösteln. Er konnte Gedanken lesen. Nein, ihr fiel wieder ein, dass sie ihm von den Mädchen erzählt hatte, noch bevor er ins Zimmer gekommen war. So dumm. Von Anfang an war sie unglaublich dumm gewesen.

»Ich habe gesagt, wo sind Ihre Kinder?«

»Unten«, antwortete Charlotte. »Im Kindergarten.«

»Der hat geschlossen.«

Er wusste gar nicht, ob der Kindergarten geschlossen hatte. Das erkannte Charlotte jedoch zu spät. Der Mann hatte ihr anfängliches Zögern bereits bemerkt.

»Sind sie nebenan? Oder gegenüber?«

»Was haben Sie mit Ihrer Hand gemacht? In der Handtasche habe ich Aspirin.« Irgendetwas, egal was, um ihn abzulenken. »Ist Frank Wainwright sein richtiger Name? Mir hat er gesagt, er ist Versicherungsvertreter aus New York. Ich bin so dumm.«

Der Mann nahm die Beine wieder auseinander und setzte die schwarzen Oxfords fest auf den Teppich. Mit dem Ellbogen drückte er sich von der Stuhllehne hoch, aber konnte sich nur wenige Zentimeter hochstemmen, bevor er wieder nach unten sank. Charlotte dachte, er würde die Waffe vielleicht auf dem Boden oder der Kommode ablegen, damit er sich mit der gesunden Hand hochziehen konnte. Das tat er jedoch nicht, und beim zweiten Versuch gelang es ihm, aufzustehen.

»Werfen Sie’s mir rüber«, sagte er.

»Was denn?«

»Das Aspirin.«

Sie öffnete den Schnappverschluss ihrer Handtasche. Der Stapel Fotos, eine Nagelfeile, eine Streichholzschachtel, Puder und Lippenstift, ein Zimmerschlüssel an einem diamantförmigen Anhänger aus Plastik. Nichts, was Charlotte als Waffe hätte benutzen können. Ein Streifen Kaugummi. Der von Rosemary innig geliebte Rickshaw Racer, ein Plastikspielzeug zum Zusammenbauen aus einer Packung Rice Krinkles.

»Werfen Sie’s mir rüber«, befahl der Mann erneut.

Er fing das Fläschchen mit der verbundenen Hand und unter Zuhilfenahme seiner Brust auf. Mit den Zähnen schraubte er den Verschluss ab, dann schüttelte er sich einige Tabletten in den Mund und zerkaute sie.

»Ich kann Ihnen ein Glas Wasser bringen«, bot Charlotte an.

»Statten wir lieber Ihren Kindern einen Besuch ab.«

Vielleicht sagte er noch etwas, aber Charlotte hörte es nicht mehr. Einen kurzen Augenblick lang versagte ihr Gehör. In ihren Ohren ertönte nur noch ein schwaches, fiependes Zischen, das immer lauter wurde wie ein überkochender Dampfkessel. Wie lange lebte man eigentlich noch, wenn das Herz aufgehört hatte zu schlagen?

»Nein.«

»Bringen Sie mich in Ihr Zimmer. Wir werden dort auf Frank warten.«

»Wir können doch hier auf ihn warten.«

»Wollen Sie nicht bei Ihren Kindern sein?«

Der Mann würde sie und die Mädchen umbringen. Das wusste Charlotte ohne jeden Zweifel. Sie konnte es praktisch vor sich sehen: der Glanz des Porzellans, der Fliesen und des Spiegels. Rosemarys lebloser Körper in der Badewanne. Joans lebloser Körper, an den ihrer Schwester geschmiegt. Unzertrennlich, selbst im Tod. Der von den Ringen gerissene Duschvorhang. Charlottes lebloser Körper auf dem Boden. Der laufende Wasserhahn und eine darunter gehaltene Männerhand.

Charlotte sah genau das, was der Mann mit der Waffe sah. So als stünden sie beide nebeneinander vor dem Fenster und betrachteten ihre gemeinsame Zukunft.

»Stehen Sie auf«, sagte der Mann zu ihr.

»Nein.«

Er hob die Pistole und richtete sie auf sie. Sie verfiel in Panik und brach völlig zusammen. Die Mädchen, die Mädchen, die Mädchen. Aber gleichzeitig sorgte ein noch stärkeres Gefühl als Panik dafür, dass sie sich nicht rührte, innerlich ruhig wurde und jegliche Angst, jeglicher Schrecken und jegliche Ablenkung einfach verschwand.

Sollte er sie ruhig erschießen. Die Mädchen würden den Schuss zwar hören, aber das würden auch die anderen Gäste in diesem Flügel des Hotels. Irgendjemand würde die Rezeption benachrichtigen, die Polizei. Der Mann würde fliehen müssen. Das wusste er. Darum wollte er sie auch nicht erschießen. Er wollte sie in das Zimmer gegenüber bringen und keinen Aufruhr verursachen. Charlotte sollte dafür sorgen, dass die Mädchen sich ruhig verhielten. Pssst, sollte sie zu ihnen sagen. Keine Sorge, er wird uns nicht wehtun.

»Stehen Sie endlich auf«, befahl der Mann.

Charlotte wusste, dass er sie erschießen würde. Es war ihr egal. Sie erkannte, was er in Wirklichkeit war: ein geschwächter Mann, der nicht die Kraft hatte, sie von hier wegzuschaffen, solange sie sich weigerte, sich aus freien Stücken zu bewegen.

Und das konnte sie. Daran hatte sie keinerlei Zweifel.

»Was haben Sie mit Ihrer Hand gemacht?«, fragte sie.

»Stehen Sie auf, sonst gibt’s Ärger«, sagte der Mann. »Ich sag’s nicht noch mal.«

»Haben Sie jemanden?«

»Ob ich jemanden habe?«

»Eine Frau. Oder eine Freundin. Jemanden, der sich um Ihre Hand kümmern kann.«

Der Mann schwankte leicht hin und her. Er schwitzte stark und zitterte am ganzen Körper. Charlotte konnte genau beobachten, wie es wieder passierte: das In-sich-Zusammensacken, das Ohnmächtigwerden, als er einen weiteren Fieberschub bekam. Der Mann beobachtete es ebenfalls. Seite an Seite standen sie vor ihrem Fenster und sahen in die Zukunft. Wie seine Augen glasig wurden, ihm die Knie wegknickten und die Pistole aus der Hand rutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppich landete.

»Sie sind sehr krank«, bemerkte Charlotte. »Meinen Sie nicht, Sie sollten sich lieber hinsetzen?«

Der Mann legte die Pistole auf die Kommode. Im nächsten Moment hatte er in zwei überraschend schnellen Schritten den Raum durchquert – und stand über ihr, die Hand um ihre Kehle geschlossen, dann hatte er sie auch schon rücklings aufs Bett gestoßen. Sein plötzliches Gewicht auf ihr war ein unfassbarer Schock. Tausend erdrückende Pfund, die sich ohne jede Vorwarnung auf sie niedergesenkt hatten. Sie konnte nicht atmen. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber das machte es nur noch schlimmer. Ihre Kehle. Die stete, zermalmende Kraft seiner Finger war unfassbar. Er hatte ihre Schultern unter sich eingeklemmt. Sie konnte nicht atmen, und sie konnte sich nicht bewegen. Die Welt vor ihren Augen pulsierte und verschwamm.

»Scheiße«, krächzte er. Seine Stimme, direkt an ihrem Ohr. In seinem Atem konnte sie das Aspirin riechen. Sie roch auch den penetranten, süßlichen Fäulnisgeruch des Verbandes. Schweiß rann von ihm herunter und brannte ihr in den Augen. »Verdammte Scheiße.«

Denn er schwebte wieder. Zumindest fühlte es sich so an. So als würde er langsam von der Frau abheben, sein ganzes Gewicht, Gramm für Gramm, wie vom Wind zerstreute Ascheflocken. Er kämpfte darum, unten zu bleiben. Zitternd, mit glasigen Augen.

Jetzt konnte Charlotte einen Arm bewegen, aber nur ein winziges Stück. Wonach tastete sie da? Sie hatte keine Ahnung. Nach seiner Pistole, hinten im Hosenbund. Nein. Die hatte er auf die Kommode gelegt. Er war zu schlau.

Gramm für Gramm, Flocke für Flocke, hob er ab, und der Druck auf ihren Hals ließ nach. Das Fieber hatte ihn wieder mit sich fortgerissen. Aber nicht weit genug und zu langsam. Sie konnte noch immer nicht atmen.

Jetzt steckte ihre tastende Hand fest – sie hatte sich in einer Tasche verfangen, in der Tasche seines Jacketts. Sie konnte einen glatten Holzgriff spüren. Einen am Griff befestigten Stahlschaft, dünn wie eine Nadel. Die scharfe Spitze stach sie in die Kuppe ihres Zeigefingers.

Sie packte den Holzgriff, so fest sie konnte, und dann rammte sie ihm unter Aufbietung des letzten Restchens Lebens, das noch in ihr war, den Eispickel in die Seite. Oder war es der Bauch? Der Oberschenkel? Sie wusste es nicht. Sie wusste auch nicht, ob er es überhaupt wahrnahm. Sein Atem ging ein kleines bisschen schneller, aber das konnte auch nur am Fieber liegen.

Aber dann spürte sie, wie sich seine Hand von ihrem Hals löste. Der Mann glitt von ihr herunter, drehte sich matt auf die Seite und bettete den Kopf auf den Arm. Sie hatte keine Ahnung, ob er noch lebte. Er hätte jemand sein können, der gerade von einem Nickerchen aufwachte und jeden Moment die Augen öffnen und gähnen würde, wäre da nicht der feuchte, dunkle Fleck gewesen, der sich unter seinem Bauch auf der Bettdecke ausbreitete.

Charlotte rollte vom Bett und kam stolpernd auf die Beine. Ihre Kehle brannte wie Feuer. Sie musste sich erst wieder beibringen, wie man atmete. Einatmen, ausatmen. Sie lebte noch. Da war sie sich relativ sicher.

Sie fand ihre Handtasche, trat auf den Gang und zog Franks Zimmertür hinter sich zu. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, würde all das hier sie einholen. Egal, mit welcher schwarzen Magie Charlotte die Panik, die Angst und den Terror von sich ferngehalten hatte – bald schon würde sie sich mit einem Donnerschlag in Luft auflösen, und die darauffolgende Flutwelle würde Charlotte mit sich davonreißen, und sie wäre für Stunden verloren, wenn nicht für Tage, nicht in der Lage, sich an ihren eigenen Namen zu erinnern, geschweige denn, wie man einen Fuß vor den anderen setzte.

Bald, aber noch nicht sofort.