Guidry zwang sich, die Höchstgeschwindigkeit einzuhalten. Er war die Ruhe selbst, wechselte nie die Spur und blinkte weit vor jedem Abbiegen. Er zwang sich auch, das rasende Gedankenkarussell in seinem Kopf anzuhalten. Lass dir Zeit. Versuche, dir einen Überblick über die gesamte Situation zu schaffen. Übersieh nichts.
Eds Haus lag weit ab vom Schuss. Gut. Keine neugierigen Nachbarn, niemand, der für einen kleinen Plausch oder eine Tasse Zucker vorbeikommen würde. Cindys Freunde würden keinesfalls die Polizei verständigen. Diese jungen Leute hatten schon einiges erlebt und wussten, wie die Dinge liefen. Falls sie sich noch nicht längst aus dem Staub gemacht hatten, würden sie es tun, sobald sie begriffen, wie tief in der Scheiße sie steckten.
Folglich hatte Guidry noch Zeit. Eds Haushälterin würde nicht vor morgen früh zum Dienst erscheinen und die Leichen vorfinden. Vielleicht hatte Ed aber auch gar keine Haushälterin. Vielleicht war es Leo, der die Böden wischte, die Toiletten schrubbte und das güldene Haar der Jugend aus den Abflüssen fischte. Und diese Schmach war der Grund, warum er Ed angegriffen und versucht hatte, sich den Hauptgewinn zu sichern.
Guidry nahm es nicht persönlich. Leo hatte seine Chance gesehen und sich auf sie gestürzt. Aber Guidry musste wissen, ob Leo vorher einen Preis für ihn ausgehandelt hatte. Er hoffte, dass Leo spontan auf den Abzug gedrückt hatte, denn falls nicht …
Hatte Leo mit jemandem über Guidry gesprochen? Hatte er ausgeplaudert, dass Guidry im Hacienda abgestiegen war? Als Geste des guten Willens, ein Beweis, dass Leo jederzeit auf die goldene Gans zugreifen konnte?
Nein. Das würde Leo nicht tun. Wenn er Guidrys Aufenthaltsort verraten hätte, hätte er sich selbst überflüssig gemacht. Leo hätte sich niemals um seinen eigenen Vorteil gebracht. Zumindest hoffte es Guidry.
Er sah auf den Tacho. Die Nadel war schon wieder nach oben gekrochen. Jetzt nur schön langsam. In zehn Minuten wäre er am Hacienda. Und in weiteren zwanzig hätte er dafür gesorgt, dass Charlotte und die Mädchen gepackt hatten. Er hätte sie im Auto und das Auto auf der Straße, und die Straße sänge unter den Reifen, und das alles, noch bevor das Blut auf dem Boden von Eds Bibliothek ganz ausgekühlt war.
Sie mussten raus aus Vegas. Aber nicht zu weit. Ein Motel in einem der kleinen, ausgedörrten Wüstenkäffer, die verstreut entlang des Highway 90 lagen wie abgeworfene Schlangenhäute, ein sicherer Ort, wo sie den heutigen Tag abwarten konnten.
Ein Tag war alles, was sie brauchten. Ed mochte tot sein, aber Colonel Butch Tolliver, der unverbesserliche Spieler, war quicklebendig. Sein Flugzeug würde nach wie vor morgen Abend um sieben vom Stützpunkt Nellis abfliegen, und zwar mit Guidry, Charlotte und den Mädchen an Bord.
Warum sollte es das auch nicht? Guidry ging davon aus, Butch war im Voraus bezahlt worden und wartete nicht darauf, dass Ed ihm grünes Licht gab. Sicher hatte Ed den Deal über einen Mittelsmann eingefädelt. Vermutlich wusste Colonel Butch gar nicht, wer ihm den plötzlichen Geldsegen beschert hatte.
Guidry warf einen raschen Blick auf den braunen Umschlag auf dem Beifahrersitz. Vor einer Stunde waren die Papiere in Ordnung gewesen. Mit ein wenig Glück würde das auch weiterhin der Fall sein.
Du schläfst heute Nacht hier. Ist sicherer für dich.
Eds letzte Worte. Guidry dachte jetzt zum ersten Mal über sie nach. Was sollten sie bedeuten? Vielleicht, dass Seraphine Guidrys Spur bis ins Hacienda gefolgt war. Vielleicht, dass Guidrys Zeit abgelaufen war, wenn er nicht sofort den Wagen anhielt und umdrehte.
Er drehte nicht um. Die Mädchen würden schon schlafen. Es war fast halb elf. Guidry würde sie ins Auto tragen müssen, eins auf jeder Hüfte, so wie er sie an jenem ersten Abend in Flagstaff getragen hatte. Er konnte noch immer die kompakte Wärme der beiden spüren, Rosemarys weiche Wange an seiner rauen, Joans Atem an seinem Hals. Er konnte noch immer Charlotte vor sich sehen, oben auf dem Treppenabsatz, wie sie zu ihm heruntergelächelt hatte.
Guidry erinnerte sich an das erste Mal, dass sie ihn angelächelt hatte. Und an das erste Mal, dass er sie zum Lachen gebracht hatte. Der Diner in Santa Maria, Pat Boone in der Jukebox, nicht lange, nachdem Guidry angefangen hatte, seinen hinterhältigen Plan in die Tat umzusetzen. Das Lachen hatte in ihren Augen begonnen, und in diesem ersten Aufflackern hatte er einen kurzen Blick auf sie erhascht, auf ihr ganzes Leben, auf ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, auf sie als kleines Mädchen und auf die alte Frau, die sie eines Tages sein würde.
»Das hier wird klappen«, hatte er zu dem Zeitpunkt gedacht, erinnerte er sich. Ich hoffe, es klappt.
Was für einen Vater würde er abgeben? Was für einen Ehemann? Einen miserablen, musste Guidry zugeben, seien wir ehrlich. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man ein Vater oder Ehemann war. Aber er hatte fest vor, alles zu geben, wirklich alles. Das war ein Preis, den zu zahlen er bereit war.
Und wer konnte es schon wissen? In zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren würde Guidry sich vielleicht an den Mann zurückerinnern, der er einmal gewesen war, an diesen geschniegelten Typ an der Carousel Bar im Hotel Monteleone in New Orleans, und ihn kaum wiedererkennen – nur irgendein alter Bekannter, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern konnte.
Das südliche Ende des Las Vegas Boulevard. Die Startbahn-Beleuchtung des McCarran-Flughafens lag unmittelbar vor ihm. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite thronte der Neon-Cowboy des Hacienda hoch oben auf seinem sich aufbäumenden Wildpferd und winkte zur Begrüßung, zum Abschied, zur Begrüßung, zum Abschied. Guidry parkte so weit weg von dem Schild wie möglich, in der dunkelsten, verlassensten Ecke des Parkplatzes.
Du schläfst heute Nacht hier. Ist sicherer für dich.
Guidry fiel auf, dass er sich getäuscht hatte. Das waren gar nicht Eds letzte Worte gewesen. Die waren nämlich: Leo! Aufwachen, Herrgott noch mal!
Die Mädchen hatten ihr Disney-Buch auf dem Rücksitz vergessen. Entdeckungsreisen im Reiche der Geschöpfe, die in der Dunkelheit lauerten und dort ihr Unwesen trieben. Das Rätsel der Verborgenen Welt.
Eds Pistole verstaute er im Handschuhfach und ging gleich nach oben zu Charlottes Zimmer. Leise klopfte er an die Tür. Wie zum Teufel sollte er ihr diesen spätabendlichen, vollkommen ungeplanten Aufbruch verkaufen?
Er klopfte ein weiteres Mal. Um seine Nerven zu beruhigen, suchte er im Kopf schon mal ihr neues Domizil in Saigon aus. Ein schmuckes cremefarbenes Haus mit hohen Bogenfenstern und schmiedeeisernen Balkonen in einer kleinen, mit schattenspendenden Palmen gesäumten Gasse mit Kopfsteinpflaster. Er hatte keine Ahnung, ob es in Saigon Kopfsteinpflaster gab, und sein Fantasiehaus hatte eine verdächtige Ähnlichkeit mit denen auf der Esplanade Avenue in New Orleans. Aber war Indochina nicht mal eine französische Kolonie gewesen? Also vielleicht doch.
Hinten raus einen Garten, in dem die Mädchen lesen, spielen und eine Decke für ein Picknick ausbreiten konnten, mit einem kleinen, vor sich hin plätschernden Brunnen und einer Bougainvillea, die sich in einer solchen Fülle über die Steinmauer ergoss wie Schaum über den Rand eines Bierkrugs.
Guidry drehte vorsichtig den Türknauf. Nicht verschlossen. Er drehte ihn nicht ganz herum. Solange er die Tür nicht öffnete und in das Zimmer trat, solange er das Licht nicht anmachte und mit eigenen Augen die leeren Betten, die nackten Kleiderbügel, die fehlenden Koffer sah, konnte er weiterhin so tun, als seien Charlotte und die Mädchen noch da.
Aber er wusste, dass sie weg waren. Natürlich waren sie das. Dieser letzte Kuss. Wiedersehen, Frank. In jenem Augenblick hatte Frank genau gewusst, was gerade passierte, aber er hatte sich geweigert, es zu glauben. Natürlich verabschiedete sich Charlotte gerade von ihm. Sie war zu clever, um weiter bei ihm zu bleiben und einem Mann wie ihm ein zweites Mal zu vertrauen. Genau das war einer der Gründe, warum er sich ursprünglich in sie verliebt hatte.
Aber vielleicht hatte Rosemary ja auch nicht schlafen können, und die drei hatten sich auf den Weg nach unten ins Café gemacht, um Kekse und warme Milch zu besorgen. Vielleicht waren sie in genau diesem Moment auf dem Rückweg in ihr Zimmer …
Ach, die Macht der Selbsttäuschung. Welch übermenschliche Kraft, welch tollkühne Taten.
Er öffnete die Zimmertür und schaltete das Licht an. Die Betten waren leer, die Kleiderbügel ebenfalls, die Koffer fehlten. Natürlich waren Charlotte und die Mädchen nicht mehr da. Natürlich.
Guidry dachte, er sei auf den Schmerz vorbereitet gewesen. Nein. Nicht mal im Entferntesten. Er hatte mit einem Schlag, einer Explosion, einem Zerren und Reißen gerechnet. Dann hätte er sich einigeln und abwarten können, bis das Unwetter vorüber war. Stattdessen war der Schmerz in seinem Inneren wie eine dunkle Flutwelle, die Stück für Stück höher stieg und der nichts Einhalt bieten konnte als das Ende von Guidrys irdischer Existenz.
Sein eigenes Zimmer betrat er gar nicht erst. Er konnte sich eine neue Zahnbürste kaufen. Falls Charlotte ihm eine Nachricht hinterlassen hatte, wollte er sie nicht lesen.
In der Hotellobby kam ein Page auf Guidry zu.
»Mr. Wainwright. Ich habe mich schon gefragt, wo Sie waren. Vor einer halben Stunde habe ich die Damen in ein Taxi zum Busbahnhof gesetzt. Sie hatten es ziemlich eilig. Sie sollten sich besser …«
Dann zählte der Page eins und eins zusammen. Auweia. Ihm wurde klar, dass Mr. Wainwright sitzen gelassen worden war.
»Oje, Mr. Wainwright. Ich dachte nur …«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Johnny, ich treffe mich dort mit den dreien.« Guidry schenkte dem armen Jungen ein beruhigendes Lächeln. »Alles in bester Ordnung.«
Guidry überquerte den Parkplatz. Schaffte es den ganzen Weg bis zu seinem Wagen mit einem Lächeln auf den Lippen, während die Flutwelle des Schmerzes immer höher stieg.
»Frank.«
Ein Mann trat aus der Dunkelheit, sein Gesicht war so bleich, dass es von innen zu leuchten schien. Ein Geist. Vielleicht hatte Cindy mit dem Leben nach dem Tod ja doch recht gehabt.
»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln, Kumpel«, sagte Guidry.
Der Geist hielt zehn Fuß vor ihm an und hob eine Pistole. Guidry verspürte nicht Furcht, sondern Erleichterung. Charlotte und die Mädchen waren in Sicherheit. Sie waren Guidry im allerletzten Moment entkommen. Jetzt würde nur er sterben, sonst niemand. Alles, was Guidry Gott und dem Universum vielleicht einmal vorgeworfen hatte, war in diesem Augenblick vergeben.
»Auto«, krächzte der Geist.
Guidry konnte ihn nicht verstehen. »Bitte?«
»Das Auto.«
»Sie wollen das Auto? Bitte, bedienen Sie sich.«
»Einsteigen. Sie fahren.«
Jetzt fiel bei Guidry der Groschen. Irgendwo draußen in der Wüste hatte jemand ein Loch für ihn ausgehoben, und jetzt wartete sein Grab auf ihn. Mit Verlaub, aber Guidry hatte nicht vor, seinem Mörder die Arbeit zu erleichtern.
»Vergessen Sie’s«, sagte Guidry. »Ich fahre nirgendwohin.«
Der Geist ging langsam um den Wagen zur Beifahrertür. Tief Luft holen, ein Schritt. Tief Luft holen, nächster Schritt. Zuerst dachte Guidry, der Mann hätte keine rechte Hand, aber nein, er hatte sie nur in sein zugeknöpftes Jackett geschoben. Der Geist war vornübergebeugt und presste sich die Hand auf den Bauch, als habe er Bauchschmerzen, aber mit der anderen zielte er weiter auf Guidry.
»Arbeiten Sie für Carlos?«, fragte Guidry.
»Was denken Sie?«
»Wer hat Sie umgebracht?«
»Was?«
»Sie sehen aus wie ein Gespenst.«
Dem Gespenst gelang es, die Beifahrertür zu öffnen. Mit einem Klicken sprang das Deckenlicht an und beleuchtete den Mann. Er sah schlimmer aus als jedes Gespenst. Guidry bezweifelte, dass er noch einen einzigen Tropfen Blut im Körper hatte.
»Sind Sie Paul Barone?«, fragte Guidry.
»Was denken Sie? Steigen Sie ein.«
In der Enge des Wagens könnte Guidry dem Mann die Waffe vielleicht entwinden. Oder er könnte irgendwie an Eds Pistole im Handschuhfach kommen. Was hätte das aber für einen Sinn?
»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt, ich fahre nirgendwohin.«
»New Orleans«, keuchte Barone.
»Wie?«
»Einsteigen. Sie fahren.«
»Sie wollen, dass ich Sie nach New Orleans fahre?«, fragte Guidry.
Barone redete wirres Zeug. Er versuchte ins Auto zu steigen, rutschte aber aus und fiel auf ein Knie. Als er versuchte, sich hochzuziehen, rutschte er wieder aus und ließ die Waffe fallen. Diesmal blieb er auf dem Knie hocken, den Kopf wie zum Gebet gesenkt.
Guidry ging um den Wagen herum und trat die Pistole weg. Er sah, dass die untere Hälfte von Barones Hemd sich mit Blut vollgesogen hatte, auch die Aufschläge seines Jacketts und die Hose bis runter zum Schritt waren damit durchfeuchtet.
Ihm fehlte tatsächlich eine Hand. Das war Guidrys erster Gedanke – nur ein blutiger Stumpf, den er um den Türgriff gehakt hatte. Aber dann erkannte er, dass der Stumpf eine in einen blutigen Verband gewickelte Hand war, aus dem oben Finger mit blutverschmierten Nägeln herausragten.
Barone sah nicht zu Guidry hoch. Sein Atem klang wie ein trockenes Blatt, das vom Wind getrieben über den Bürgersteig raschelte.
»Ich bringe sie um«, hauchte Barone.
Guidry hielt sich nochmals vor, in welche Gefahr er Charlotte und die Mädchen um ein Haar gebracht hätte. Unverzeihlich. Er war unverzeihlich.
»Zu spät«, sagte Guidry. »Sie haben Pech gehabt.«
»Sie hat Ihnen Bescheid gesagt«, antwortete Barone.
Guidry ging in die Hocke, um Barone besser verstehen zu können. Aber er hielt Abstand. Wenn das hier tatsächlich Barone war – oder jemand Vergleichbares –, könnte er durchaus noch ein letztes Ass im Ärmel haben.
»Was haben Sie gesagt?«, hakte er nach.
»Sie hat Ihnen in Houston den Tipp gegeben, und sie hat Ihnen hier den Tipp gegeben.«
»Wer?«
»Sie hat genau gewusst, was sie tat. Diese Schlampe. Und zwar die ganze Zeit.«
Guidry wurde klar, dass Barone Seraphine meinen musste. Der Kerl war vollkommen durchgeknallt. »Seraphine hat mir gegenüber kein Wörtchen gesagt. Weder hier noch in Houston.«
»Ich bringe sie um«, wiederholte Barone.
»Sie werden’s nicht mal vom diesem Parkplatz runter schaffen«, merkte Guidry an.
Das schien Barone zu wissen. Sein Kopf sank immer tiefer, und das Atemholen kostete ihn allergrößte Mühe. »Carlos wird Sie finden. Das tut er immer.«
»Möge er lange suchen«, sagte Guidry.
»Wenn er Sie nicht finden kann, wird er sich an ihre Spur heften. Er weiß jetzt, wie er Ihnen wehtun kann.«
Die letzten anderthalb Wochen hatte Seraphine versucht, Guidry umzubringen. Sein Mitgefühl hielt sich in Grenzen.
»Seraphine ist mir egal«, entgegnete Guidry. »Macht mir gar nichts.«
»Nicht sie«, krächzte Barone.
»Wer dann?«
Endlich drehte Barone den Kopf und sah Guidry an. Nach einer ordentlichen Bluttransfusion sähe er aus wie jeder Zweite von den Männern, mit denen Guidry im Pazifik-Krieg gewesen war. Oder wie jeder Zweite in New Orleans. Nur ein weiterer von Carlos’ Jungs. Guidry war ihm wahrscheinlich schon ein Dutzend Mal begegnet.
»Die Frau«, presste Barone hervor. »Und die Kinder. Carlos weiß jetzt, wie er Ihnen wehtun kann.«
Kurzzeitig weigerte sich seine Lunge, sich mit Sauerstoff zu füllen. Sein Herz weigerte sich zu schlagen. Er spürte, wie die gesamte Maschinerie in seinem Inneren zum Stillstand kam, die Keilriemen rissen und die Gänge kreischten.
Charlotte. Die Mädchen.
Barone war Guidry bis zum Hacienda gefolgt. Er hatte Charlotte und die Mädchen gesehen. Was bedeutete, dass auch Carlos Charlotte und die Mädchen gesehen hatte.
»Carlos kann mir nicht wehtun«, sagte Guidry.
»Sie wissen doch, er verliert nicht gern.« Keine Warnung, keine Drohung. Eine einfache Tatsache, so klar und offensichtlich für sie beide, dass sie eigentlich gar nicht hätte ausgesprochen werden müssen. »Helfen Sie mir hoch.«
»Die Frau bedeutet mir nichts.«
»Helfen Sie mir hoch«, flüsterte Barone. »Steigen Sie ein. Sie fahren. New Orleans.«
»Carlos wird sie niemals finden«, fuhr Guidry fort. »Er weiß nicht, wie sie heißt. Das wissen auch Sie nicht. Es wird ihnen nichts passieren.«
Barone antwortete nicht. Tot, endlich. Seine Hand löste sich, Finger für Finger, vom Türgriff, und er sank auf den Asphalt.
An diesem Abend übernachtete Guidry in Henderson, eine halbe Stunde südlich von Las Vegas, in einem an eine Bowlingbahn angeschlossenen Motel. Eine Wand von Guidrys Zimmer grenzte an die Bowlingbahn. Er lag im Bett und hörte das dumpfe Plonk, mit dem der Ball auf die Bahn auftraf, und zwei Sekunden darauf das grelle, an brechendes Porzellan erinnernde Klappern der umfallenden Kegel. Plonk! Krach! Immer und immer wieder.
Aber das Plonk und das Krach waren nicht, was ihn bis in die frühen Morgenstunden wach hielt. Was ihn wach hielt, war die Stille dazwischen, die gespannte Erwartung, das Warten auf den Eintritt des Unausweichlichen.
Plonk.
Charlotte und den Mädchen würde nichts passieren. Carlos konnte sie unmöglich aufspüren. Sicher, er würde jemanden ins Hacienda schicken, der herumschnüffeln sollte. Aber alle Hotelangestellten gingen davon aus, dass Charlottes Nachname Wainwright lautete.
Krach!
Plonk!
Der Page wusste, dass Charlotte ein Taxi zum Busbahnhof genommen hatte. Der Fahrkartenverkäufer im Busbahnhof würde sich vielleicht ebenfalls an Charlotte erinnern, die attraktive Dame mit den beiden wohlerzogenen kleinen Mädchen, die einen Fahrschein für den Spätbus nach Los Angeles gekauft hatte.
Krach!
Plonk!
Und wenn schon. Charlotte war die Nadel und Los Angeles der größte Heuhaufen an der gesamten Westküste. Obwohl es natürlich möglich war, dass jemand Charlotte sowohl am Busbahnhof in Las Vegas als auch am Busbahnhof in Downtown L. A. wiedererkennen würde, und dann …
Krach!
Dann kam der Schlaf. Und Träume. Ein Traum, seltsam, weil nichts sonderlich seltsam an ihm war. Guidry war wieder im Monteleone und redete mit dem guten alten Mackey Pagano. Dasselbe Gespräch, das sie bereits geführt hatten.
Ich steck in der Klemme, Frankie. Und zwar in ner richtig üblen.
Tut mir leid, Mack.
Der erste Traum ging allmählich in einen neuen über. Guidry war wieder ein Jugendlicher, fünfzehn Jahre. Wie alt genau, wusste er, weil er auf der durchhängenden Veranda des beschissenen kleinen Hauses in St. Amant stand und sich gerade von Annette verabschiedete. Sie war elf gewesen, als er nach New Orleans gegangen war. Zwei Monate darauf, an Heiligabend, hatte sich ihr Vater noch mehr besoffen als sonst, eine noch miesere Laune gehabt und sie mit dem Schürhaken zu Tode geprügelt. Normalerweise war der Schürhaken für Guidry reserviert gewesen, aber der war nicht mehr greifbar – er hatte sich in die große Stadt aus dem Staub gemacht und dadurch sein Leben gerettet.
Warum musst du gehen, Frick?
Tut mir leid, Frack. Ich lass dich nachkommen, sobald ich ein schickes, großes Haus habe.
Seit zweiundzwanzig Jahren war er jeden Tag zu diesem Augenblick zurückgekehrt. Was würde er geben, wenn er die Zeit zurückdrehen und ihn anders enden lassen könnte? Er hoffte, der Traum würde es ihm erlauben, aber es war nicht diese Art von Traum.
Mach’s gut, Frick.
Mach’s gut, Kleine.
Den nächsten Tag – Dienstag, der Tag seines Abflugs – brachte Guidry ohne allzu große Schwierigkeiten herum. Er schlief sich aus. Dann ging er nach nebenan in die Bowlingbahn auf einen Hamburger und ein paar Bier. Plonk. Krach! Er las die Morgenzeitung. Die Aufregung um das Attentat ging weiter: Findet die Wahrheit heraus! Carlos, in New Orleans, tobte sicher. Wegen der Warren-Kommission, wegen Guidry.
Um sechs Uhr abends setzte das Taxi ihn am Stützpunkt Nellis ab. Er reichte dem Corporal am Tor seinen Passierschein. Der Schein sah offiziell aus. Vielleicht war er es auch. Der Corporal griff zum Telefon. Er sprach etwas in den Hörer, das Guidry nicht verstehen konnte. Dann legte er auf und notierte sich etwas in seinem Logbuch. Die Notiz nahm gar kein Ende. Falls ein paar MPs irgendwo lauerten, um Guidry festzunehmen, jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt, um in Erscheinung zu treten.
Der Corporal hatte seinen Eintrag fertiggestellt und gab Guidry den Passierschein zurück. »Wissen Sie, wo Sie hinmüssen, Sir?«, fragte er.
»Colonel Tolliver nimmt mich heute Abend mit«, sagte Guidry. »Wissen Sie, wo ich ihn finde?«
»Versuchen Sie’s mal im Offizierscasino. Geradeaus, das letzte Gebäude auf der linken Seite.«
»Danke.«
Guidry steckte den Passierschein wieder ein. Sobald er durch dieses Tor gegangen war, sobald er in die Maschine gestiegen war und sie vom Rollfeld abgehoben hatte, wäre er ein freier Mann.
Würde Carlos Charlotte und die Mädchen verfolgen lassen? Würde er sie finden und umbringen? Oder noch Schlimmeres? Würde er sie für Guidrys Vergehen bezahlen lassen?
Guidry wusste es nicht. Und er würde es auch nie erfahren müssen. In Vietnam, viele tausend Meilen entfernt, würde er wieder ein freier Mann sein. Und könnte glauben, was immer er glauben wollte.
Der Corporal hatte Wichtigeres zu tun, als Guidry im Auge zu behalten, der einfach nur dastand. »Gibt es ein Problem, Sir?«
Guidry dachte über die Frage nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«