Sie näherten sich von Westen her und stürzten aus der strahlend blauen Leere hinunter in die Wolken. Zuerst nur ein paar belanglose Wattebäusche, dann kamen die richtigen Wolken, Schicht für Schicht, so dicht und mit Wasser vollgesogen, dass das Flugzeug merklich Mühe hatte und sich hindurchkämpfen musste wie ein stumpfes Messer durch graues Wachstuch.
In Vietnam war es angeblich noch heißer und schwüler als in New Orleans. Das hatte Guidry mal irgendwo gehört. Er fand es herrlich, wieder in die Hitze und die Schwüle zurückzukehren. Die Wüste mit einer Luft, die zu dünn war, um ein normales Leben zu ermöglichen, hatte ihm beinahe den Rest gegeben. Er war froh, wieder in seiner natürlichen Umgebung zu sein.
Das Flugzeug sank immer tiefer, schließlich klappte das Fahrwerk aus. Sie ließen die Wolkendecke hinter sich, unter ihnen erstreckte sich ein üppiger tropischer Flickenteppich, die Wasserläufe und Sümpfe und Kanäle ein silbriges Stickmuster im matten Nachmittagslicht.
Guidry überlegte, irgendwo anzuhalten und rasch eine Kleinigkeit zu essen. Aber das Muffaletta-Sandwich von der Central Grocery oder das von Frank’s? Die Gumbo von Bozo’s in Mid-City oder die von Uglesich’s? Oder die von … Herr des Himmels, welche denn? Guidry würde sich niemals entscheiden können, die Entscheidung würde ihn komplett handlungsunfähig machen. Er fand seinen Wagen und fuhr schnurstracks zum The Famous Door auf der Bourbon Street.
Für Dixieland war es noch zu früh, aber vor ein paar Jahren hatte der Besitzer des Clubs eine Küche hineingequetscht und aus dem Hinterzimmer einen Verein für geladene Gäste gemacht, »The Spot«, wie er ihn getauft hatte. Nur für Gangster und Straßenkinder, vielen Dank auch. Mittwochs, wenn die Frau des Besitzers ihre legendären Braciole mit Tomatensauce machte, war der Laden gerammelt voll. Carlos, ein Esser vor dem Herrn in einer Stadt der Esser vor dem Herrn, hätte sich seine mittwöchlichen Braciole niemals entgehen lassen, selbst wenn das ganze French Quarter in Flammen gestanden hätte.
Er saß an seinem üblichen Tisch, rechts neben ihm Seraphine, links Frenchy Brouilette, der pausenlos quasselte und damit Carlos unterhielt, während er aß. Kein Leibwächter. Carlos hatte fast nie einen dabei, zumindest nicht hier in der Stadt. Warum auch? Wer es in New Orleans wagen sollte, einen Schuss auf Carlos abzugeben, würde noch vor ihm tot auf dem Boden liegen.
Frenchy entdeckte Guidry zuerst. Er fiel fast vom Stuhl. Seraphine, die gerade einen Zug von ihrer Zigarette genommen hatte, behielt den Rauch einen Moment lang in der Lunge und ließ ihn dann langsam durch die Nasenlöcher entweichen. Das war ihre Version des Fast-vom-Stuhl-Fallens. Sie trug ein zurückhaltendes kleines Strickkleid in einem hellen Grünton, tailliert und mit Faltenrock. Um die Schultern hatte sie eine weiße Strickjacke geschlungen, die Haare waren zu Locken gedreht und hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden, dazu ein farblich zum Kleid passendes Stirnband. Sie sah aus, als sei sie im Begriff, anno 1954 die Rassentrennung an einer Highschool in Alabama aufzuheben.
Carlos blickte kurz auf, aß jedoch weiter. »Frenchy«, sagte er.
»Was?«, fragte Frenchy. »Oh.«
Frenchy verdrückte sich, so schnell er konnte. Guidry setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl Carlos gegenüber.
»Willst du einen Teller?«, fragte Carlos.
»Nein, danke.« Guidry fand die Braciole im Spot nicht übel, aber die allgemeine Hysterie hatte er nie nachvollziehen können. Vielleicht schmeckten sie besser, wenn man Italiener war. »Ich nehme aber den Rest von Frenchys Wein, wenn du meinst, er hat nichts dagegen.«
»Nur zu«, sagte Carlos.
Seraphine sah Guidry an, ohne ihn wirklich anzusehen. Sie wirkte angespannter, als er sie je gesehen hatte. Sie fragte sich sicher, was er über sie erzählen würde, um seine eigene Haut zu retten.
Barone hatte behauptet, sie hätte ihm, Guidry, einen Tipp gegeben. Guidry hatte auf dem Flug von Las Vegas darüber nachgedacht. Er hatte sich nochmals das letzte Gespräch mit Seraphine in Erinnerung gerufen. Von der Telefonzelle an der Tankstelle auf der La Porte aus, noch in Houston, gleich nachdem er den Eldorado im Schifffahrtskanal entsorgt hatte.
Übernachtest du im Rice?
Dieser kleine Fehler hatte ihn stutzig gemacht. Warum fragt sie mich das? Sie weiß genau, dass ich heute im Rice übernachte.
Nur war es kein Fehler gewesen. Seraphine machte nie Fehler. Sie wusste, dass Guidrys argwöhnischer Verstand ein reicher Nährboden war. Sie hatte die Saat des Zweifels mit Absicht gesät. Und ihm damit das Leben gerettet. Vielleicht hatte sie ihm auch in Vegas das Leben gerettet, und es war ihm nicht einmal bewusst gewesen.
Carlos spießte auf und schaufelte und kaute. Die dicke Leinenserviette vor der Brust war nicht nur zur Zierde gedacht. »Du hättest eigentlich tot sein sollen, Frank«, bemerkte er.
»Als ob ich das nicht wüsste«, kommentierte Guidry.
»Du bist wie eine dieser Katzen. Mit den fünf Leben.«
»Neun.«
»Ich würd mich nicht drauf verlassen.«
Mittlerweile bemühten sich alle anderen im Lokal, nicht offen herüberzustarren. Selbst die Frau des Besitzers, die gerade in der Küche Knoblauch hackte, spähte verstohlen durch die Durchreiche. Guidry malte sich aus, dass man sich diese Geschichte – egal, wie sie endete – noch viele Jahre erzählen würde.
Er ist einfach reinspaziert.
Nicht möglich.
Hat sich genau gegenüber von Carlos an den Tisch gesetzt.
Unglaublich. Und du hast alles gesehen?
Ich war hautnah dabei.
Carlos wischte den Rest der Tomatensauce mit einem Kanten Baguette auf. Seraphine hatte noch immer kein Wort gesagt. Sie zündete sich eine neue Zigarette an; die Flamme des Streichholzes war vielleicht nicht ganz so ruhig, wie sie hätte sein können.
»Also, was willst du, Frank?«, fragte Carlos. »Warum bist du hier?«
Guidry griff die Flasche Rotwein und schenkte sich nach. »Ich will dir eine Vereinbarung vorschlagen.«
»Ach ja.«
»Du lässt mich in Ruhe, und ich lasse dich in Ruhe«, führte Guidry aus. »Wie du mir, so ich dir, Gleiches mit Gleichem.«
Carlos lächelte. Er lächelte nur, wenn er Lust hatte, jemanden umzubringen. »Du lässt mich in Ruhe? Du bist wirklich ein Komiker, Frank. Hatte ich ganz vergessen.«
»Du lässt mich in Ruhe, sonst gehe ich zu den Feds«, sagte Guidry. »Ich sage denen, was ich weiß, und alles, was Barone mir erzählt hat, bevor er krepiert ist. Mannomann, Barone hat Geschichten erzählt, da haben sich mir die Fußnägel hochgerollt. Die erzähle ich dem FBI und den Zeitungen und Earl Warren obendrein, wenn er mir zuhört. Ich wette, das wird er. Und nur damit zwischen uns endlich Klarheit besteht, Onkel, ich hätte dich niemals verpfiffen, wenn du nicht zuerst versucht hättest, mich kaltzumachen.«
Zum Glück war Carlos bereits mit dem Essen fertig, sonst hätte er sich daran verschluckt. Guidry konnte zusehen, wie sich die dunklen Ringe unter seinen Augen immer dunkler verfärbten. Gut. Guidry wollte ihn so wütend wie nur möglich. Er wollte Carlos so wütend, dass er alle anderen vergaß – außer Guidry.
Jetzt starrte Seraphine Guidry unverhohlen an. Ungläubig. Er drehte sich um und sah sie an.
»War das deine Idee, mein Schatz?«, fragte er sie. »Den guten alten Frank Guidry auf den Müllhaufen zu werfen? Na, dann auch zur Hölle mit dir. Denn wenn ich erst mal die frohe Botschaft verkündet habe, wirst du nicht den Rest deines Lebens im Leavenworth-Gefängnis oder in Guatemala verbringen wie unser Onkel hier. Du wirst baumeln, süße Seraphine.«
Kannst du dir das vorstellen?
Du warst da? Wirklich, vor Ort?
Ja, live mit dabei, Baby. Man konnte nicht hören, was sie gesagt haben, aber man konnte es spüren. Weißt du, was ich meine? Die Nerven von allen, in dem ganzen Laden, waren kurz vorm Zerreißen.
»Haben wir eine Vereinbarung?«, fragte Guidry.
Carlos riss sich die Serviette vom Kragen und warf einen prüfenden Blick darauf, ob er sie eventuell benutzen konnte, um Guidry gleich hier und jetzt zu erwürgen.
»Haben wir jetzt eine Vereinbarung oder nicht?«, wiederholte Guidry.
»Ja.« Carlos lächelte. Er stand auf, warf seine Serviette auf den Tisch und verließ das Lokal. Ein anderer hätte den raschen Blick vielleicht übersehen, den er Seraphine zuwarf, oder die kaum merkliche Bestätigung ihrerseits, ein leichtes Neigen des Kopfes. Aber Guidry hatte bereits darauf gewartet.
Sobald Carlos weg war, nahm Seraphine ihre Puderdose heraus und zog ihren Lippenstift nach. »Danke«, sagte sie.
»Ich hatte dir noch einen Gefallen geschuldet«, entgegnete Guidry. »Oder? Vielleicht mehr als einen.«
»Ich war mit der Entscheidung nicht einverstanden.«
»Aber du hast dich auch nicht für mich eingesetzt. Keine Sorge. Ich würde mich auch nicht für mich einsetzen.«
»Was hast du vor, Frank?«, fragte sie so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Und siehe da, konnte es sein? Ein feuchtes Glänzen am hellrosa Rand ihres unteren Augenlids, war das tatsächlich eine Träne, die sich da bildete? Vermutlich nicht, aber ein Mann durfte schließlich träumen.
»Du weißt genau, was ich vorhabe«, sagte er.
»Aber warum?«
»Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich bin Realist. Carlos wird mich schnappen. Beziehungsweise du wirst mich schnappen. Auf diese Weise mache ich es kurz und schmerzlos für dich, dafür wirst du es kurz und schmerzlos für mich machen.«
Das nahm sie ihm nicht ab. Aber sie konnte auch nicht ausloten, was sonst der Beweggrund für sein Verhalten sein konnte. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschäftsbeziehung, Freundschaft, Liebesbeziehung konnte sie ihn nicht ausloten. Er hatte sie mit unerwartetem Tiefgang überrascht – Das Rätsel der Verborgenen Welt.
Wenn er Seraphine verraten würde, dass er sich entschlossen hatte, sein Leben für das von Charlotte und den Mädchen zu geben, würde sie die Welt nicht mehr verstehen. Sie würde ihn anstarren wie einen Wildfremden.
»Du wirst es kurz und schmerzlos für mich machen«, wiederholte Guidry. »Ja? Das wollte ich noch mal hervorheben.«
»Du bist ein Narr.«
»Versprich’s mir«, bat Guidry. »Eine letzte gute Tat für einen alten Freund.«
»Du bist ein Narr«, sagte sie wieder.
»Wie lange brauchst du, um alles in die Wege zu leiten? Zwei Stunden?«
Er dachte schon, sie würde sich vielleicht weigern, die Frage zu beantworten. Aber dann ließ sie die Puderdose zuschnappen, steckte sie wieder in die Handtasche und sagte: »Ja.«
Guidry erhob sich. »Gut. Ich hätte Lust auf einen Spaziergang. Kennst du den Uferdamm hinter dem Zoo? Netter Ausblick auf den Fluss, ziemlich abgelegen, wunderbar geeignet, um in aller Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen. Von dem habe ich dir bestimmt schon ein Dutzend Mal erzählt. Und du hast geraten, dass ich dorthin gehen würde.«
Ihre Fassung, falls sie sie je wirklich verloren hatte, kehrte zurück. Sie beglich die Rechnung. »Auf Wiedersehen, mon cher«, sagte sie und ging, ohne sich noch einmal umzublicken.
Guidry folgte der Straßenbahnlinie nach Uptown und stellte den Wagen gegenüber der Loyola-Universität ab. Die Herz-Jesu-Statue vor dem Gebäude flehte ihn mit hocherhobenen Händen an und bat ihn … ja, was zu tun? Die Sache durchzuziehen? Schnellstens die Flucht zu ergreifen?
Bei einsetzender Dämmerung war der Park im Winter immer unheimlich. Kaum jemand unterwegs, die Eichen dick mit Lousiana-Moos behangen, Schatten, die plötzlich über den Weg hinweg aufeinander zustürzten, sich miteinander verwoben und verschmolzen. Guidry bedauerte, dass er nie eins von Charlottes Fotos gesehen hatte. Schon komisch: Sie würde ein Foto von seinem lang über den roten Ziegelbürgersteig in Flagstaff fallenden Schatten haben, aber keines, auf dem er selbst zu sehen war.
Der Zoo war für heute bereits geschlossen. Guidry überquerte den River Drive und erklomm den Uferdamm. Weit und breit keine Menschenseele. Er suchte sich ein bequem aussehendes Plätzchen auf dem Gras und breitete das hässliche Jackett mit dem Hahnentrittmuster aus, das er in New Mexico gekauft hatte.
Noch etwas, das er bedauerte: Er war nicht bei seiner Wohnung vorbeigefahren, um seine eigenen Sachen anzuziehen. Aber welchen Anzug? Wie bei der Gumbo wäre es unmöglich gewesen, eine Entscheidung zu treffen. Er hoffte nur, dass die Times-Picayune kein Foto von ihm in diesem Aufzug bringen würde. Sein Ruf würde sich nie davon erholen.
Er setzte sich auf das Jackett. Die Fahrt vom Quarter hatte zwanzig Minuten gedauert, der Weg durch den Park eine weitere halbe Stunde. Falls Seraphines Handlanger etwas Grips hatte, würde er die Walnut hochfahren, bis es nicht mehr weiterging, und sich den langen Fußmarsch ersparen.
Guidry hatte keine Angst vorm Sterben. Na ja, er hatte natürlich furchtbare Angst. Aber eigentlich mehr davor, dass es kein sauberer Tod sein würde. So viele von denen, die es sich mit Carlos verscherzt hatten, kamen auf diese Weise um. Was das anging, vertraute er jedoch Seraphine. Kurz und schmerzlos war fast genauso sehr in ihrem Interesse wie in seinem.
Der Blick auf den Fluss war wirklich nett. Das Wasser kräuselte sich sanft, die Lichter der Frachtkähne und Schlepper blinkten fröhlich.
Unmittelbar bevor man starb, sollte einem ja angeblich das eigene Leben vor den Augen vorüberziehen. Die Zeit verlangsamte sich und dehnte sich aus, und man konnte noch ein letztes Mal die angenehmen Erinnerungen Revue passieren lassen. Guidry hätte nichts dagegen. Oh, all die Rothaarigen, die Brünetten und Blondinen. Vielleicht durfte man aber nur leichtes Gepäck mit ins Jenseits nehmen, und die letzte Erinnerung, die man noch im Kopf hatte, wenn der ganze Laden dichtmachte, war die einzige, die man mit in die Ewigkeit nehmen durfte. Wenn man Glück hatte, wenn man wusste, was einem bevorstand, konnte man sich die Erinnerung aussuchen. Guidry bevorzugte diese Version.
Einige Minuten später hörte er Schritte hinter sich.
Er schloss die Augen und wartete.