EPILOG

Es ist so, sie liebt ihr Leben. Selbst an Tagen wie diesem, wenn ihr Sohn sich weigert, ihre Existenz zur Kenntnis zu nehmen (Rosemary erlaubt ihm einfach nicht, Spring Break mit Dad und Sporty Spice in Hana zu verbringen; Rosemary weigert sich, den richtigen Namen von Dads Freundin zu benutzen; Rosemary hört einfach nicht auf, so ein Hater zu sein, Mom, echt). Selbst an Tagen wie diesem, wenn ihre Tochter auf der Fahrt zur Schule verkündet, dass die Uni ein riesiger Schwindel ist, ein Schneeballsystem, ein Sowieso-Sowieso der Spätphase des Kapitalismus (Schätzchen, du gehst auf die Uni, selbst wenn ich dich eigenhändig hinschleifen muss). Selbst an Tagen wie diesem, wenn jeder Drehbuchschreiber, mit dem sie sich getroffen hat, ihr zwei vollkommen gegensätzliche Charaktere präsentierte, die sich zusammentun, um einen Mord aufzuklären, einen Raubüberfall durchzuziehen oder eine Kita zu eröffnen.

Rosemary liebt ihr Leben! Sie hat zwei gesunde, intelligente, freundliche, bisweilen wunderbare, stets herausfordernde und nie langweilige Kinder. Sie ist die Vizepräsidentin der Produktionsabteilung eines großen Filmstudios (wie viele Frauen in Hollywood können das von sich behaupten?). Sie hat echte Freunde, die Sorte, die einem helfen würden, eine Leiche zu zerstückeln und in Ätzkalk zu werfen, ohne Fragen zu stellen. Sie ist sechsundvierzig, sieht aber aus wie Mitte/Ende dreißig, dank einer genetisch bedingt guten Haut und einer lebenslangen Abneigung gegen Strände und Zigaretten. In ihrer Branche ist Mitte/Ende dreißig immer noch uralt, aber egal. Letztes Jahr hat sie an einem Halbmarathon teilgenommen. Ihr Ex ist ein guter Vater und eigentlich ganz nett.

Sie ist ein Klischee. In sehr vieler Hinsicht, ja. Aber wer ist das nicht? Zumindest hat sich Rosemary ein Klischee ausgesucht, mit dem sie sich wohlfühlt.

»Du musst ihn ja nicht heiraten«, sagt Joan. »Das ist ein erstes Date. Geh was mit ihm trinken. Schau ihn dir einfach mal an. Er ist genau dein Typ.«

Joan muss wohl gerade durch den Canyon fahren. Ihre Stimme ist auf einmal weg oder klingt ganz verzerrt. Rosemary versteht aber, was sie sagen will. Joan hat sich während des Medizinstudiums verliebt und ist seitdem mit ihrer Freundin zusammen, also fast ihr halbes Leben. Sie befürchtet, dass Rosemary nie den Partner findet, der für sie bestimmt ist, dass sie alt wird und einsam stirbt.

»Rate mal, wer seine eigene Produktionsfirma aufzieht und will, dass ich sie leite?«, fragt Rosemary.

»Keine Ahnung«, sagt Joan.

»Der Typ ist ein absoluter Megastar.«

»Immer noch keine Ahnung.«

Rosemary findet es toll, wie hartnäckig Joan sich noch immer weigert, alles, was mit Hollywood zu tun hat, wahrzunehmen. Joan ist in L. A. aufgewachsen, sie lebt in L. A., ihre Schwester arbeitet für ein Filmstudio, ihre Mutter war fünfundzwanzig Jahre lang in der Öffentlichkeitsabteilung diverser Studios tätig. Und trotzdem besteht die reale Chance, dass, falls Nicole Kidman in ihr Untersuchungszimmer spaziert käme, Joan sagen würde: »Oh, netter Akzent, sind Sie aus Australien?«

»Ich liebe meinen derzeitigen Job«, fährt Rosemary fort. »Aber eine Veränderung wäre schon interessant. In Hollywood kriegst du allerdings nur ne zweite Chance, wenn du unter vierzig bist. Ich bin zu alt, um auf die Nase zu fallen.«

»Dann bleib doch in deinem alten Job.«

»Oder du könntest sagen: ›Nein, Rosemary, natürlich bist du nicht zu alt. Natürlich wirst du nicht auf die Nase fallen.‹«

»Ich bin gleich da. Du auch?«

»Joan.«

»Was.«

»Glaubst du, wir wären befreundet, wenn wir keine Schwestern wären?«

»Nein.«

Das ist noch etwas, das Rosemary an Joan liebt. Sie ist nicht der Typ, der um den heißen Brei herumredet. Das ist sie selbst wohl auch nicht, denkt Rosemary.

Auf dem Friedhof gehen sie Arm in Arm den Weg entlang, genau wie sie es als Kinder auf dem Rückweg von der Schule immer gemacht hatten. Rosemary hat Margeriten und Rittersporn mitgebracht, Joan Gladiolen. Rosemary hat auch den Abriss einer Eintrittskarte zu ihrem letzten Film dabei, einer romantischen Komödie, die mehr eingespielt hat als erwartet. Sie steckt ihn zwischen den Rittersporn. Ihre Mutter hat sich jeden einzelnen von Rosemarys Filmen angesehen. Am Ende, im Krankenhaus, hat sie jedes Drehbuch gelesen. Und jedes Mal hat sie Rosemary ihre schriftlichen Anmerkungen mitgegeben, aber hallo.

Joan legt ein kleines Foto eines afroamerikanischen Mädchens ans Grab, sieben oder acht Jahre alt. Jedes Mal, wenn ihre Mutter Joan besuchte, fragte sie: »Wem hast du heute das Leben gerettet, meine Süße?« Wenn Joan tatsächlich mal ein Leben gerettet hatte, wollte ihre Mutter immer alle Einzelheiten hören.

»Weißt du, was Mom mir mal erzählt hat?«, fragt Rosemary. Sie wirft Joan einen Blick zu. Joan weint, lautlos und ohne das Gesicht zu verziehen. Eine ihrer vielen Begabungen. »Hat sie dir vermutlich auch erzählt.«

»Was.«

»Dass sie Fotografin werden wollte, als sie jung war. Ne richtige Fotografin, meine ich. Wie, keine Ahnung, Annie Leibovitz.«

»Weiß ich doch«, sagt Joan.

»Ich hab doch gerade gesagt, dass du’s wahrscheinlich weißt.«

»Bei uns stehen noch kistenweise Fotos rum. Irgendwann müssen wir die mal durchgehen.«

»Bei jeder Veranstaltung der Filmindustrie, zu der ich gehe, kommt jemand auf mich zu und sagt: ›Oh, ich habe bei Warner mit Ihrer Mutter zusammengearbeitet.‹ ›Oh, ich habe bei Paramount mit Ihrer Mutter zusammengearbeitet.‹ ›Sie war immer die Intelligenteste.‹ ›Sie wusste immer ganz genau, was sie wollte.‹«

Eine Träne rollt Joan die Wange herunter und bleibt an ihrem Mundwinkel hängen. Rosemary holt ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Handtasche. Sie nimmt ein paar für sich selbst heraus, bevor sie das Päckchen Joan reicht. Rosemary weint nie auf der Arbeit oder zu Hause. Nur wenn sie hier ist, mit Joan.

»Kannst du glauben, dass es sie schon seit vier Jahren nicht mehr gibt?«, fragt Rosemary.

Joan denkt nach.

»War ne rhetorische Frage, Joan.«

Joan putzt sich die Nase. »Neulich hab ich von Lucky geträumt.«

Ihr alter Hund, ihr treuer Begleiter während der gesamten Grundschul- und Junior-Highschool-Zeit.

»Erinnerst du dich … Ich weiß gar nicht, ob ich mich richtig erinnere«, sagt Joan. »Wir waren in irgendeinem Motel, und Mom musste Lucky reinschmuggeln oder so, weil keine Hunde erlaubt waren?«

Rosemarys eigene Erinnerung an diese Zeit in ihrem Leben ist sehr vage. Die Fahrt von Oklahoma nach Kalifornien ist größtenteils verschwommen. Joan geht es genauso, sie haben schon darüber gesprochen. Rosemary erinnert sich an den Grand Canyon und das Hotel in Las Vegas. Joan erinnert sich an eine Bootsfahrt über einen See und einen Mann, der ihnen Kartentricks vorgeführt hat. Sie erinnert sich auch daran – zumindest behauptet sie das –, die Vogelscheuche aus dem Zauberer von Oz kennengelernt zu haben. Aber sicher doch, Joan.

An den Unfall, der dazu geführt hatte, dass sie in New Mexico festsaßen, erinnert sich keine der beiden. Rosemary erinnert sich an den barmherzigen Samariter, der sie in seinem Auto nach Las Vegas mitgenommen hat. Wie hieß er noch mal? Und was zur Hölle dachte sich eigentlich ihre Mutter dabei, einfach bei irgendeinem wildfremden Typen im Auto nach Kalifornien mitzufahren? Es waren wohl vertrauensseligere Zeiten, denkt sich Rosemary. Hollywood hatte noch nicht Dutzende von Thrillern produziert, in denen sich zwei ganz unterschiedliche Serienmörder zusammentun, um hilflose Anhalter umzubringen.

Rosemary ist drauf und dran zu sagen, der barmherzige Samariter hieß Pat Boone, aber sie weiß, dass das natürlich nicht stimmen kann. Aber er hatte ein freundliches Lächeln, da ist sie sich ziemlich sicher.

»Weißt du, woran ich mich noch ganz genau erinnere?«, fragte Rosemary. »An diesen einen Tag.«

Joan putzt sich die Nase und lächelt. »Ja.«

Es ist Rosemarys erste richtige Erinnerung aus Kalifornien, die vollständigste und ausführlichste. Sie hatten erst seit ein oder zwei Monaten bei Tante Marguerite gewohnt, in dem kleinen Bungalow auf dem Idaho Boulevard, fünf Blocks vom Meer entfernt. Ihr Vater und ihr Onkel, der ältere Bruder ihres Vaters, waren sie aus Oklahoma besuchen gekommen. Ihr Vater war mit Rosemary und Joan zum Pier gegangen, und sie waren Karussell gefahren.

Als sie wieder nach Hause gekommen waren, hatten ihre Mom und ihr Onkel noch immer im Wohnzimmer gesessen. Ihre Mom auf dem Sofa, ihr Onkel auf dem Sessel mit dem dunkelrot und cremeweiß gestreiften Satinbezug. Rosemary und Joan hatten vom Flur aus durch den Türbogen hineingespäht. Ihr Vater war noch draußen. Vielleicht parkte er das Auto.

»Charlie, ich warne dich zum letzten Mal.« Das Gesicht ihres Onkels hatte die Farbe des Sessels angenommen, dunkelrot und cremeweiß gleichzeitig. »Ich besorge Dooley den besten Rechtsanwalt, der für Geld zu haben ist. Die zwei besten Rechtsanwälte. Wenn du und die Mädchen nicht augenblicklich mit uns zurückkommt, verspreche ich dir, kannst du dich auf den größten Rechtsstreit deines Lebens gefasst machen.«

Ihre Mom. Ach, ihre Mom. Ruhig und gefasst, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Sie hätte sich auch gerade mit einer Freundin darüber unterhalten können, welche Lidschattenfarbe ihr am besten stand.

»Also schön«, entgegnete ihre Mom. »Dann sollte ich wohl besser vorbereitet sein.«

Langsam wird es neblig. Der trübe Juni in Santa Monica. Jetzt putzt sich Rosemary ebenfalls die Nase.

»Sie war eine Naturgewalt«, sagt Rosemary.

»Kommt mir nicht so vor, als ob sie schon seit vier Jahren tot ist«, sagt Joan. »Gleichzeitig kommt’s mir vor wie eine Ewigkeit.«

»Ja.«

»Ich will sie nicht vergessen.«

»Sei nicht albern, Joan«, sagt Rosemary.

»Na gut.«