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Sonnenlicht kroch langsam über Guidry hinweg, und der Traum, den er gerade träumte, ruckelte und wurde unscharf wie ein Film, der aus den Transportrollen eines Kinoprojektors gesprungen war. Fünf Sekunden später konnte er sich kaum noch an Einzelheiten des Traumes erinnern. Eine Brücke. Ein Haus mitten auf der Brücke, wo gar keins hingehörte. Guidry hatte an einem Fenster dieses Hauses gestanden, vielleicht auch auf einem Balkon, und angestrengt hinunter ins Wasser geblickt und versucht, eine Stelle zu finden, an der es sich kräuselte.

Er ließ sich aus dem Bett plumpsen. Sein Kopf fühlte sich so geschwollen und empfindlich an wie ein verrottender Kürbis. Aspirin. Zwei Glas Wasser. Jetzt fühlte er sich mehr oder weniger in der Lage, seine Hose überzustreifen und den Flur in Angriff zu nehmen. Art Pepper. Guidrys bevorzugte Katermedizin. Vorsichtig ließ er Smack Up aus der Plattenhülle aus Karton gleiten und legte die Scheibe auf den Plattenspieler. »How Can You Lose?« war der beste Song auf dem Album. Jetzt ging es ihm schon viel besser.

Es war zwei Uhr nachmittags – oder das Morgengrauen, wie es die Anwohner des French Quarter nannten. Guidry machte eine Kanne siedend heißen Kaffee und füllte zwei Becher; in seinen gab er einen ordentlichen Schuss Macallan. Scotch war noch eine Medizin gegen Kater, die er sehr schätzte. Er nahm einen großen Schluck und hörte Peppers Saxofon zu, das sich elegant der Melodie annäherte und wieder zurücktänzelte wie ein sich durch den Verkehr schlängelnder Hund.

Die Rothaarige war immer noch vollkommen weggetreten; die Decke auf ihrer Seite des Bettes hatte sie zur Seite gestrampelt, ein Arm war hoch neben dem Kopf ausgestreckt. Aber Moment. Jetzt war sie eine Brünette, keine Rothaarige mehr. Die Lippen waren auch voller, und sie hatte keine Sommersprossen. Wie war das denn passiert? Er konnte sich keinen Reim darauf machen – träumte er vielleicht noch? –, bis ihm einfiel, dass heute Freitag war und nicht Donnerstag und die Rothaarige vorgestern Abend gewesen war.

Schade. Aus der Geschichte hätte er noch wochenlang Kapital schlagen können – dass er so gut in der Kiste war, dass er einem Mädchen doch glatt die Sommersprossen weggevögelt hatte.

Jane? Jennifer? Guidry hatte den Namen der Brünetten vergessen. Sie arbeitete jedenfalls für TWA. Aber vielleicht war das auch die Rothaarige davor gewesen. Julia?

»Raus aus den Federn, Zuckerpuppe«, sagte er stattdessen.

Sie drehte sich um und lächelte ihn verschlafen an; ihr Lippenstift blätterte langsam ab. »Wie spät ist es?«

Er reichte ihr einen Becher. »Zeit, die Fliege zu machen.«

In der Dusche seifte er sich ein und plante seinen Tag. Zuerst Seraphine, mal hören, was sie für ihn hatte. Danach wollte er sich den Deal vornehmen, den Sam Saias Junge ihm neulich Abend im Carousel vorgeschlagen hatte. Konnte man sich auf den Kerl verlassen? Alles, was Guidry über ihn gehört hatte, sprach dafür, aber es war besser, sich umzuhören und auf Nummer sicher zu gehen, bevor er zusagte.

Was noch? In der Bar gegenüber vom Gericht vorbeischauen, ein paar Runden spendieren und sich den neuesten Klatsch anhören. Abendessen mit Al LaBruzzo. Gott steh uns bei. LaBruzzo hatte es sich in den Kopf gesetzt, einen Go-go-Schuppen zu kaufen. Guidry würde behutsam mit ihm umgehen müssen – er war Sams Bruder, und Sam war Carlos’ Fahrer. Bis sie mit dem Essen fertig waren, musste Guidry Al überzeugt haben, dass er Guidrys Geld doch nicht wollte, und zwar unter gar keinen Umständen, noch nicht mal, wenn Guidry ihn auf Knien darum bitten sollte.

Guidry rasierte sich, schnitt sich die Nägel und durchforstete seinen Kleiderschrank. Er wählte einen großkarierten braunen Anzug im europäischen Stil mit schmalem fallendem Revers. Cremefarbenes Hemd, grüne Krawatte. Grüne Krawatte? Nein. In weniger als einer Woche war Thanksgiving, und er wollte sich optisch schon mal auf das Fest einstimmen. Er tauschte die grüne Krawatte gegen eine in einem an einen Sonnenuntergang im Herbst erinnernden pudrigen Dunkelorange.

Als er zurück ins Wohnzimmer kam, sah er, dass die Brünette immer noch da war. Jetzt hatte sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht – Herr des Himmels, sie war ja noch nicht mal angezogen – und sah fern.

Er ging zum Fenster und fand ihren Rock und die Bluse auf dem Boden, wo sie letzte Nacht gelandet waren; der BH hing am Barwagen. Er warf ihr die Sachen zu.

»Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Ich zähle bis fünf.«

»Er ist tot.« Sie sah Guidry noch nicht mal an. »Ich kann’s nicht fassen.«

Guidry stellte fest, dass sie weinte. »Wer?«

»Sie haben ihn erschossen«, antwortete sie.

»Wen erschossen?«

Er sah zum Fernseher. Auf dem Schirm saß ein Nachrichtensprecher an einem Schreibtisch und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er sah in sich zusammengesunken und benommen aus, als habe ihm gerade jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

»Die Wagenkolonne hatte gerade das Texas School Book Depository im Zentrum von Dallas passiert«, verkündete der Nachrichtensprecher. »Senator Ralph Yarborough berichtete unserem Reporter, dass er sich drei Wagen hinter dem des Präsidenten befand, als er deutlich die drei Gewehrschüsse hörte.«

Der Präsident wovon, war Guidrys erster Gedanke. Der Präsident irgendeiner Ölfirma? Irgendeiner Bananenrepublik, von der kein Mensch je gehört hatte? Er konnte nicht nachvollziehen, warum die Brünette derart aus der Fassung geraten war.

Dann fiel der Groschen. Er ließ sich neben sie auf das Sofa sinken und sah zu, wie der Nachrichtensprecher etwas von einem Blatt Papier ablas. Ein Scharfschütze hatte die Schüsse aus dem fünften Stock eines Gebäudes an der Dealey Plaza abgegeben. Kennedy, der sich auf dem Rücksitz eines offenen Lincoln Continental befunden hatte, war getroffen worden. Man hatte ihn ins Parkland Hospital gebracht. Dort hatte ihm ein katholischer Priester die Sterbesakramente gespendet. Um 1:30 Uhr am Nachmittag, also vor eineinhalb Stunden, war der Präsident von den Ärzten für tot erklärt worden.

Der Scharfschütze befand sich laut Nachrichtensprecher in Gewahrsam. Irgendein Idiot, der im Schulbuchdepot arbeitete.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte die Brünette wieder. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er tot ist.«

Einen kurzen Moment lang war Guidry unfähig, sich zu rühren. Konnte nicht atmen. Die Brünette griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie dachte, er könnte es ebenfalls nicht fassen, dass eine Kugel John F. Kennedy, genannt Jack, den Schädel gesprengt hatte.

»Zieh dich an.« Guidry stand auf und zog sie auf die Füße. »Zieh dich an und verschwinde.«

Sie starrte ihn nur an, also stopfte er ihren Arm in den Ärmel ihrer Bluse. Dann eben ohne BH. Er hätte sie auch nackt vor die Tür gesetzt, hätte er nicht befürchtet, sie könnte eine Szene machen oder sich bei den Bullen ausheulen.

Jetzt den anderen Arm, der sich ganz schlaff und gummiartig anfühlte. Mittlerweile schluchzte sie. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, ganz ruhig. Guidry hatte hier in der Stadt einen bestimmten Ruf: der Typ, den nichts aus der Fassung bringen konnte, egal, was passierte. Also reiß dich jetzt zusammen, Junge.

»He, Kleine.« Er streichelte ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Tut mir leid. Ich kann’s auch nicht glauben. Ich kann auch nicht glauben, dass er tot ist.«

»Ich weiß«, schluchzte sie. »Ich weiß.«

Gar nichts wusste sie. Der Sprecher im Fernsehen erläuterte gerade, dass Dealey Plaza in Dallas im Dreieck zwischen Houston, Elm und Commerce Street lag. Guidry wusste verdammt noch mal ganz genau, wo das war. Erst vor einer Woche war er nämlich dort gewesen und hatte einen himmelblauen 59er Cadillac Eldorado zwei Blocks entfernt in einem Parkhaus auf der Commerce Street abgestellt.

Normalerweise bat Seraphine ihn nicht um diese Art von Arbeit. Das war sozusagen unter der Würde seiner hochrangigen Position. Aber da Guidry ohnehin gerade in der Stadt war, um einen plötzlich nervös gewordenen Deputy Chief, den Carlos unbedingt auf der Schmierliste behalten musste, fürstlich zu bewirten und zu beruhigen … warum denn nicht? Na klar, gar kein Problem, alle für einen und einer für alle.

Ach, da fällt mir ein, mon cher, es gibt eine kleine Sache, die du für mich erledigen könntest, wenn du in Dallas bist …

O Scheiße, o Scheiße. Ein zweiter Fluchtwagen war Standardverfahren bei vielen von Carlos’ Attentaten auf hochkarätige Zielpersonen. Wenn der Killer den Auftrag erledigt hatte, würde er sich schnurstracks zu dem irgendwo ganz in der Nähe versteckten Wagen begeben und könnte sich mit einem Auto aus dem Staub machen, das garantiert nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnte.

Als Guidry den himmelblauen Eldorado zwei Blocks entfernt von der Dealey Plaza abgestellt hatte, hatte er für irgendein armes Schwein schon das Schlimmste befürchtet – einen gefeuerten Buchmacher, dessen Zahlen nicht gestimmt hatten, oder auch den nervösen Deputy Chief, falls Guidrys Beruhigungsversuch fehlgeschlagen war.

Aber der Präsident der Vereinigten Staaten …

»Geh nach Hause«, sagte er zu der Brünetten. »In Ordnung? Mach dich frisch und dann lass uns … Worauf hast du Lust? Keiner von uns beiden sollte momentan allein sein.«

»Nein«, stimmte sie ihm zu. »Ich will … keine Ahnung. Wir könnten einfach …«

»Geh nach Hause, mach dich frisch, und dann essen wir irgendwo schön zu Mittag«, setzte er erneut an. »Einverstanden? Wo wohnst du? In einer Stunde hole ich dich ab. Nach dem Mittagessen suchen wir uns eine Kirche und zünden eine Kerze für ihn an.«

Guidry nickte ihr in einer Tour aufmunternd zu, bis sie zurücknickte. Dann half er ihr, sich den Rock anzuziehen, und hielt nach ihren Schuhen Ausschau.

Vielleicht war es nur Zufall, sagte er sich, dass er das Fluchtauto zwei Blocks von der Dealey Plaza entfernt abgestellt hatte. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass Carlos die beiden Kennedy-Brüder hasste wie niemand sonst auf Gottes Erdboden. Jack und Robert, genannt Bobby, hatten Carlos nämlich vor den Senat gezerrt und ihm vor den Augen ganz Amerikas ans Bein gepinkelt. Ein paar Jahre darauf hatten sie versucht, ihn nach Guatemala abzuschieben.

Vielleicht hatte Carlos ja vergeben und vergessen. Klar. Und vielleicht hatte auch irgend so ein Idiot, der beruflich Kisten mit Büchern durch ein Lagerhaus schleppte, einen solchen Treffer landen können – aus dem fünften Stock, auf ein sich bewegendes Ziel, bei Wind und durch Bäume, die im Weg standen.

Guidry bugsierte die Brünette vorsichtig in den Aufzug, dann wieder heraus, durch die Lobby seines Gebäudes und auf den Rücksitz eines Taxis. Er musste vor dem Gesicht des Taxifahrers mit den Fingern schnippen, der sich über sein Radio gebeugt die Nachrichten anhörte und sie überhaupt nicht bemerkt hatte.

»Ab nach Hause und hübsch machen.« Guidry gab ihr einen Kuss auf die Wange. »In einer Stunde hole ich dich ab.«

Im Quarter standen erwachsene Männer auf dem Bürgersteig und flennten. Frauen irrten die Straße herunter, als seien sie plötzlich mit Blindheit geschlagen. Ein Lucky-Dog-Hotdog-Verkäufer ließ den Schuhputzjungen bei seinem Radio mithören. Wann in der Geschichte der Menschheit war so etwas je vorgekommen? Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. Die Parder werden bei den Böcken liegen.

Guidry hatte noch fünfzehn Minuten Zeit, also schlüpfte er rasch durch die Tür des Gaspar’s. Tagsüber war er noch nie hier drin gewesen. Bei voller Beleuchtung war es ein ziemlich trostloser Schuppen. Man konnte die Flecken auf dem Fußboden sehen, die Flecken an der Decke und dass der Samtvorhang mit Isolierband geflickt war.

An der Bar hatte sich ein Grüppchen Leute zusammengefunden, die wie Guidry vom blauen Flackern des Fernsehers hineingelockt worden waren. Der Sprecher – ein anderer als vorhin, aber genauso durcheinander – verlas eine Erklärung von Johnson. Jetzt offenbar Präsident Johnson.

»Ich weiß, dass die Welt die Trauer von Mrs. Kennedy und ihrer Familie teilt«, verkündete Johnson. »Ich werde mein Bestes geben. Das ist alles, was ich tun kann. Ich bitte um Ihre Hilfe – und um die Gottes.«

Der Barmann verteilte Whiskey – aufs Haus. Die Dame neben Guidry, so eine richtige kleine Witwe aus dem Garden District, steinalt und zerbrechlich wie eine Schneeflocke, nahm sich ein Glas und leerte es in einem Zug.

Im Fernsehen wurde jetzt das Polizeirevier von Dallas gezeigt. Bullen in Anzügen und weißen Cowboyhüten, Reporter, Gaffer, ein riesiges Gedränge und Geschiebe. Und mittendrin stand der Idiot und wurde hin und her geschubst. Ein mickriger Typ, Gesicht wie eine Ratte, ein Auge zugeschwollen. Lee Harvey Oswald hieß er, so der Sprecher. Er sah benommen und verwirrt aus, wie ein kleiner Junge, der mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt worden war und hoffte, das Ganze war vielleicht nur ein schlechter Traum.

Als die Bullen Oswald in ein Zimmer stießen, schrie ein Reporter eine Frage, die Guidry nicht richtig verstehen konnte. Ein anderer Reporter kam ins Bild und sprach in die Kamera.

»Er behauptet, nichts gegen irgendjemanden zu haben und keine Gewalttat verübt zu haben«, berichtete der Reporter.

Die Garden-District-Witwe kippte einen zweiten Whiskey. Sie sah so wütend aus, als ob sie gleich platzte. »Wie konnte das nur passieren?«, murmelte sie immer wieder vor sich hin. »Wie konnte das nur passieren?«

Guidry konnte es natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber er hatte eine wohlbegründete Vermutung. Ein professioneller Scharfschütze, jemand Externes, den Carlos für diesen Auftrag hinzugezogen hatte. Vom fünften Stock des Texas School Book Depository aus oder einen Stock tiefer, um die Sache Oswald in die Schuhe schieben zu können, oder vielleicht von irgendwo auf der anderen Seite der Plaza, hoch oben und weit weg von den Menschenmassen. Nachdem der echte Scharfschütze sein Ziel getroffen hatte, hatte er sein Gewehr wieder verpackt und war die Commerce Street hinuntergeschlendert, zu dem himmelblauen Eldorado, der bereits auf ihn wartete.

Guidry verließ das Gaspar’s und lief Richtung Jackson Square. Auf den Stufen vor der Kathedrale spendete ein Priester seinen Schäfchen Trost. Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit. Der übliche Dumpfsinn.

Guidry ging viel zu schnell. Ruhig bleiben, Junge.

Falls die Bullen den Scharfschützen schnappen sollten und mit dem Eldorado in Verbindung brachten, würde der sie direkt zu Guidry führen. Guidry hatte sich den Wagen von einem Supermarktparkplatz in einem Schwarzenviertel von Dallas besorgt. Praktischerweise war er unverschlossen gewesen, Schlüssel hinter der Sonnenblende. Guidry hatte keine Fingerabdrücke im Wagen hinterlassen – er war schließlich nicht blöd und hatte seine Autofahrerhandschuhe getragen –, aber jemand könnte sich an ihn erinnern. Ein himmelblauer Cadillac Eldorado mit einem Weißen am Steuer, in einem Schwarzenviertel. Ganz sicher würde sich jemand an ihn erinnern.

Denn dies war nicht einfach ein weiterer Mord, der keinen kümmerte, irgendein kleines Licht bei der Mafia, das tot in einer Gasse lag, die Detectives und der Staatsanwalt längst bei Carlos auf der Gehaltsliste. Das hier war der Präsident der Vereinigten Staaten. Bobby Kennedy und das FBI würden nicht eher Ruhe geben, bis sie jeden verdammten Stein umgedreht hatten.

Der Wind vertrieb einen klebrigen Nieselregen, und die Sonne lugte durch die Wolken. Seraphine stand neben dem Standbild von Old Hickory. Das steigende Pferd. Andrew Jackson, der seinen Hut wie ein Schwert gen Himmel reckte. Der Schatten des Standbilds fiel genau mittig über Seraphine und unterteilte sie der Länge nach in eine helle und eine dunkle Hälfte. Sie sah lächelnd zu Guidry hoch, das eine Auge strahlte klar und schelmisch, das andere dunkelgrün und ausdruckslos wie ein Stein.

Am liebsten hätte er sie gepackt, an den Sockel des Standbilds gedrückt und verlangt zu wissen, wieso sie ihn mitten in diese Sache hineingezogen hatte, in das Verbrechen des Jahrhunderts. Stattdessen lächelte er wohlweislich nur zurück. Bei Seraphine musste man vorsichtig vorgehen, ansonsten war man bald weg vom Fenster.

»Hallo, kleiner Junge«, begrüßte sie ihn. »Der Wald ist finster, und die Wölfe heulen. Nimm meine Hand, und ich helfe dir, nach Hause zu finden.«

»Ich riskier’s lieber mit den Wölfen, danke«, antwortete Guidry.

Sie machte einen Schmollmund. Denkst du etwa so über mich? Aber dann musste sie lachen. Natürlich dachte er so über sie. Guidry wäre dumm, wenn er es nicht täte.

»Ich liebe den Herbst«, sagte sie. »Du nicht auch? Die Luft ist so frisch und klar. Dieser melancholische Geruch. Der Herbst verrät uns die Wahrheit über die Welt.«

Hübsch würde man Seraphine nicht nennen. Eher königlich. Mit einer hohen, breiten Stirn und einer dramatisch geschwungenen Nase, die dunklen Haare onduliert und seitlich gescheitelt. Eine Hautfarbe, die nur einen Ton dunkler war als Guidrys eigene. Überall außer in New Orleans hätte sie vielleicht als weiß durchgehen können.

Sie kleidete sich so sittsam wie eine Grundschullehrerin. Heute trug sie ein Twinset aus Mohair und einen Bleistiftrock, dazu makellos weiße Handschuhe. Ihr ganz privater Scherz vielleicht. Auf jeden Fall schien sie sich die ganze Zeit über einen zu amüsieren.

»Schluss jetzt mit dem Blödsinn«, sagte Guidry. Mit dem richtigen Lächeln konnte er so etwas zu ihr sagen. Sogar zu Carlos.

Sie lächelte und rauchte ihre Zigarette. Eins der vollkommen abgemagerten Kutschpferde auf der Decatur Street wieherte schrill und trostlos, fast ein Schrei. Ein Laut, den man am liebsten sofort wieder vergessen würde, sobald man ihn gehört hatte.

»Dann hast du also die Nachrichten über den Präsidenten gesehen«, sagte sie.

»Du kannst dir meine Beunruhigung vorstellen.«

»Keine Sorge, mon cher. Komm, ich spendiere dir einen Drink.«

»Nur einen?«

»Komm.«

Das Napoleon House machte erst in einer Stunde auf. Der Barmann ließ sie rein, schenkte ihnen die Drinks ein und verschwand.

»Verdammt noch mal, Seraphine«, stöhnte Guidry.

»Ich verstehe deine Besorgnis.«

»Ich hoffe, du kommst mich im Gefängnis besuchen …«

»Mach dir keine Sorgen.«

»Sag’s noch mal, dann glaube ich’s vielleicht.«

Mit einer lässigen Bewegung ihrer behandschuhten Hand schnippte sie die Asche von ihrer Zigarette.

»Mein Vater hat früher hier gearbeitet«, sagte sie. »Wusstest du das? Hat die Böden gefegt und die Toiletten geputzt. Als kleines Mädchen hat er mich manchmal mitgenommen. Siehst du die da?«

Die Wände des Napoleon House waren schon seit einem Jahrhundert nicht mehr neu verputzt worden, und jedes einzelne der alten Ölporträts hing ein kleines bisschen schief. Grausame, überhebliche Gesichter, die wütend aus der Dunkelheit herabstarrten.

»Als ich klein war, war ich fest davon überzeugt, dass die Leute auf den Gemälden mich beobachteten. Und nur darauf warteten, dass ich blinzele, damit sie sich auf mich stürzen konnten.«

»Vielleicht haben sie das ja auch«, entgegnete Guidry. »Vielleicht haben sie für J. Edgar Hoover gearbeitet.«

»Ich sag’s noch mal, weil wir so alte Freunde sind. Mach dir keine Sorgen. Die Behörden haben doch ihren Mann, oder?«

»Nur die Bullen in Dallas, und die glauben auch nur, dass sie ihn haben.«

Guidry wusste, dass das FBI niemals, nicht für eine Sekunde, kaufen würde, dass Oswald der Täter war. Mal ehrlich. Die würden anfangen zu bohren, und er würde anfangen auszupacken. Nein. Streichen wir das. Die Feds waren längst dabei, Nachforschungen anzustellen, und Oswald war längst dabei, auszupacken.

»Er wird uns keine Probleme bereiten«, versicherte ihm Seraphine.

Oswald. Sein kleines Rattengesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Guidry dachte, er hätte ihn vielleicht irgendwann schon mal hier in der Stadt gesehen. »Du kannst jetzt also auch die Zukunft voraussagen?«, antwortete er.

»Zumindest seine.«

»Wo ist der Eldorado?«, fragte Guidry. Seraphine konnte versuchen, ihn zu beruhigen, so viel sie wollte, aber er wäre erst sicher vor dem FBI, wenn das Auto für immer von der Bildfläche verschwunden war. Der Eldorado war das einzige Beweisstück, das ihn mit dem Attentat in Verbindung brachte.

»Auf dem Weg nach Houston«, antwortete sie. »Und zwar jetzt, in diesem Moment.«

»Wenn euer Knabe mit den Adleraugen von den Bullen angehalten wird …«

»Das wird er nicht.« Ihr Lächeln wirkte diesmal etwas weniger unbeschwert. Der Eldorado war natürlich auch das einzige Beweisstück, das Carlos mit dem Attentat in Verbindung brachte.

»Und wenn der Wagen erst mal in Houston ist?«, hakte Guidry nach.

»Wird ihn jemand Vertrauenswürdiges auf den Grund des Meeres befördern.«

Guidry griff über die Bar nach der Flasche Scotch. Er fühlte sich besser, zumindest ein bisschen. »Stimmt das?«, fragte er. »Dass dein Vater hier gearbeitet hat?«

Sie zuckte die Achseln. Die Geste bedeutete: Ja, natürlich. Oder aber: Nein, mach dich nicht lächerlich.

»Wer lädt den Wagen in Houston ab?«, fuhr Guidry fort. »Euer Mann, der ihn runterfährt?«

»Nein. Der wird anderweitig gebraucht.«

»Also, wer dann?« Guidry, von seiner hohen Warte in der Organisation aus, nur einen oder zwei Äste unterhalb von Seraphine, kannte die meisten von Carlos’ Leuten. Manche waren zuverlässiger als andere. »Wer immer ihn verschwinden lässt: Ihr solltet euch verdammt sicher sein, dass ihr euch auf denjenigen verlassen könnt.«

»Aber natürlich. Onkel Carlos hat vollstes Vertrauen in diesen Mann. Er hat uns noch nie enttäuscht.«

Wer denn? Guidry wollte gerade erneut ansetzen. Stattdessen drehte er sich um und starrte sie an. »Ich? Nein. Ich rühr die verdammte Karre nicht an.«

»Ach nein?«

»Ich rühr die verdammte Karre nicht an, Seraphine.« Diesmal erinnerte sich Guidry daran, zu lächeln. »Weder jetzt noch sonst irgendwann.«

Wieder das Achselzucken. »Aber mon cher. Wem könnten wir in dieser Angelegenheit mehr vertrauen als dir? Und wem kannst du mehr vertrauen?«

Erst jetzt hatte Guidry den schwierigen Aufstieg zum Gipfel gemeistert und begriff, schnaufend vor Anstrengung, in was für eine Lage Seraphine ihn da bugsiert hatte. Das war von Anfang an ihr Plan gewesen, erkannte er: Guidry vor dem Attentat den Flucht-Eldorado abstellen zu lassen, damit er so richtig motiviert wäre – diesmal hing er nämlich selbst mit drin –, den Wagen danach verschwinden zu lassen.

»Verflucht noch mal«, stöhnte er. Aber die Geschicklichkeit und Eleganz des ganzen Manövers waren schon bewundernswert. Wer musste noch die Zukunft voraussagen, wenn er sie selbst bestimmen konnte?

Draußen auf der Straße reichte Seraphine ihm ein Flugticket.

»Dein Flug nach Houston geht morgen«, teilte sie ihm mit. »Leider wirst du deine Samstagmorgen-Zeichentrickfilme verpassen. Das Auto wird in Downtown auf dich warten, auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz gegenüber vom Rice Hotel.«

»Und dann?«

»Am Ship Channel, dem Schifffahrtskanal, gibt es einen stillgelegten Tankterminal. Nimm die La Porte Road nach Osten. Nach der Humble-Oil-Raffinerie geht’s immer weiter geradeaus. Nach ungefähr einer Meile kommt eine unbeschilderte Straße.«

Was, wenn die Feds den Eldorado bereits gefunden hatten? Sie würden ihn natürlich observieren lassen. Sie würden warten, bis irgendein armer Idiot vorbeikäme, um ihn abzuholen.

»Am Abend bist du da völlig ungestört«, fuhr Seraphine fort. »Der Schifffahrtskanal ist vierzig Fuß tief. Geh danach die La Porte eine halbe Meile rauf. Da gibt es eine Tankstelle mit Telefon. Von da aus kannst du ein Taxi anrufen. Und mich.«

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ihr teurer Duft war immer noch derselbe wie früher: frischer Jasmin und etwas, das wie die gerösteten Gewürze am Boden einer Gusseisenpfanne roch. Sie und Guidry waren einmal ein Liebespaar gewesen, aber nur so kurz und vor so langer Zeit, dass er sich nur gelegentlich daran erinnerte und kaum etwas dabei fühlte. Er bezweifelte, dass Seraphine sich überhaupt noch erinnerte.

»Du und Carlos, ihr wisst wirklich, welche Knöpfe ihr drücken müsst, oder?«, merkte Guidry an.

»Begreifst du’s jetzt, mon cher? Mach dir keine Sorgen.«

Auf dem Rückweg durch das Quarter verflüchtigte sich Seraphines Duft allmählich, und Guidry konnte wieder klar denken. Es stimmte, dass Seraphine und Carlos genau wussten, welche Knöpfe sie drücken mussten. Aber was, wenn Guidry selbst einer dieser Knöpfe war? Was, wenn er sich den Kopf über die Feds zerbrach, wenn die wirkliche Gefahr – Carlos, Seraphine – sich lächelnd unmittelbar hinter ihm befand?

Den Eldorado verschwinden lassen.

Und dann den Mann verschwinden lassen, der den Eldorado hatte verschwinden lassen. Den Mann, der über Dallas Bescheid wusste.

Der Priester auf den Stufen vor St. Louis war immer noch in vollem Schwange. Er war noch ganz jung, kaum aus dem Priesterseminar, etwas dicklich und mit Apfelbäckchen. Er hatte seine Hände vor dem Gesicht gefaltet, als würde er gleich auf die Würfel pusten, in der Hoffnung auf einen guten Wurf.

»Wenn wir durch Wasser gehen, wird der Herr bei uns sein«, versicherte der Priester gerade seiner Gemeinde. »Wenn wir ins Feuer gehen, werden wir nicht brennen.«

Das war allerdings nicht die Erfahrung, die Guidry gemacht hatte. Er hörte dem Priester noch einen kurzen Moment zu, dann drehte er sich um und ging weiter.