Der Anruf kam um neun. Barone war darauf vorbereitet. Seraphine wollte, dass er sich mit ihr bei Kolb’s zum Abendessen traf, aber er sollte pünktlich sein.
Das Miststück. »Wann bin ich jemals zu spät gekommen?«, fragte Barone.
»Ich will dich nur ein bisschen aufziehen, mon cher«, antwortete Seraphine.
»Jetzt sag. Wann bin ich je zu spät gekommen?«
Kolb’s war ein deutsches Restaurant auf der St. Charles Avenue, gleich um die Ecke von der Canal Street. Dunkle Holzvertäfelung an den Wänden, Bierkrüge und Schnitzelteller mit eingelegter Roter Bete. Carlos war zwar Italiener, aber er liebte deutsches Essen. Er liebte jegliche Art von Essen. Barone kannte niemanden in New Orleans, der so viel verdrücken konnte wie Carlos.
»Setz dich«, sagte Carlos. »Willst du was essen?«
Das Restaurant war nahezu leer, alle waren zu Hause und sahen sich die großen Neuigkeiten im Fernsehen an. »Nein«, antwortete Barone.
»Iss doch was«, forderte Carlos ihn auf.
An der Decke des Kolb’s befand sich ein System von mehreren Ventilatoren, die über quietschende und knarrende Lederriemen miteinander verbunden waren. Eine kleine Holzfigur in Lederhosen drehte eine Kurbel, die die Riemen und Ventilatoren in Bewegung hielt.
»Er heißt Ludwig«, merkte Seraphine an. »Unermüdlich und zuverlässig, genau wie du.«
Sie lächelte Barone an. Sie erweckte gern den Eindruck, sie könne deine Gedanken lesen und jeden deiner Schritte voraussagen. Vielleicht stimmte das ja auch.
»Das war ein Kompliment, mon cher«, lachte sie. »Schau nicht so miesepetrig.«
»Probier mal einen Happen hiervon«, sagte Carlos.
»Nein.«
»Komm schon. Oder magst du kein deutsches Essen? Lass doch die Vergangenheit ruhen.«
»Ich habe nur keinen Hunger.« Barone hatte nichts gegen die Deutschen. Der Krieg war lange vorbei.
Seraphine aß ebenfalls nichts. Sie zündete sich eine Zigarette an und legte dann die Streichholzschachtel vor sich auf den Tisch. Sie schob sie hin und her und begutachtete sie aus verschiedenen Perspektiven.
»Es ist Zeit für deinen Einsatz«, sagte sie zu Barone. Als ob er zu dumm war, von selbst darauf zu kommen. »Die Angelegenheit, die wir besprochen haben.«
»Houston?«
»Ja.«
»Was ist mit Mackey Pagano? Dafür habe ich nicht auch noch Zeit.«
»Keine Sorge«, entgegnete Seraphine. »Die Sache ist bereits erledigt.«
»Habe ich gesagt, ich mache mir Sorgen?«, fragte Barone genervt.
»Deine Verabredung in Houston ist morgen Abend«, fuhr sie fort. »Wie besprochen. Du musst allerdings erst zu Armand. Noch heute Abend.«
Carlos war immer noch beim Essen, sagte kein Wort und überließ alles Seraphine. Die meisten nahmen an, dass Carlos sie – das gut gekleidete schwarze Mädchen, das sich so gewählt ausdrücken konnte – immer in seiner Nähe hatte, damit sie ihm einen blies und seinen Schriftverkehr bearbeitete. Barone wusste es allerdings besser. Für jegliches Problem, mit dem Carlos zu ihr kam, hatte Seraphine eine Lösung.
»In Ordnung«, sagte Barone.
Sein Impala stand in der Dumaine, einen Block von der Bourbon. Freitagabend, und kaum eine Handvoll Leute unterwegs. Unten an der Ecke spielte ein alter Schwarzer für ein paar Touristen »Round Midnight« auf dem Altsaxofon. Barone gesellte sich dazu, um zuzuhören. So viel Zeit hatte er.
Der alte Mann konnte spielen. Er traf genau das Dis und hielt es, der Ton stieg auf und breitete sich langsam und stetig aus wie Wasser, das über eine Uferböschung tritt.
Der Typ neben Barone stieß leicht gegen ihn. Barone spürte, wie eine Hand seine Tasche streifte. Er griff nach unten und bekam die Hand zu fassen. Sie gehörte zu einem mickrigen Scheißkerl mit vernarbten Wangen. Einstichstellen zogen sich über die gesamte helle Unterseite seines Armes.
»Was soll das werden, Kumpel?«, fragte der Junkie und tat unschuldig. »Wenn du Händchen halten willst, such dir ne …«
Barone bog ihm die Hand nach hinten. Das menschliche Handgelenk war sehr zerbrechlich, ein Vogelnest aus dünnen Knochen und Sehnen. Er sah zu, wie sich der Gesichtsausdruck des Junkies veränderte.
»Oh«, machte der Junkie nur.
»Psst«, sagte Barone. »Lass den Mann sein Lied zu Ende spielen.«
Barone konnte sich nicht erinnern, wann er »Round Midnight« zum ersten Mal gehört hatte. Vermutlich war es die Klavierversion. Mittlerweile kannte er fünfzig, vielleicht hundert verschiedene Versionen. Klavier, Saxofon, Gitarre, selbst ein oder zweimal Posaune. Aber bei dem alten Schwarzen heute Abend klang der Song brandneu.
Die Musik hörte auf. Die Beine des Junkies gaben leicht unter ihm nach, und Barone ließ ihn los. Der Mann stolperte davon, ohne sich umzublicken, über seine Hand gebeugt, als sei sie eine Kerze, die er um keinen Preis ausgehen lassen wollte.
Barone ließ einen Dollarschein in den offenen Saxofonkoffer fallen. Der alte Mann mochte fünfzig sein, vielleicht auch achtzig. Das Weiße in seinen Augen war so gelblich wie eine alte weiße Billardkugel, und auch seine Arme waren mit Einstichstellen übersät. Vielleicht waren er und der Junkie Partner, und der eine lockte die Leute an, damit der andere sie ausrauben konnte. Höchstwahrscheinlich sogar.
Der alte Mann sah auf den Dollarschein runter, dann sah er wieder hoch. Er rückte das Mundstück seines Altsaxofons zurecht. Barone hatte er nichts zu sagen.
Und Barone hatte ihm nichts zu sagen. Er ging zu seinem Impala und ließ sich hinter das Lenkrad gleiten.
Die West Bank des Mississippi, genau gegenüber von New Orleans auf der anderen Seite des Flusses, war ein schmuddliger Streifen Land mit Schrottplätzen, Karosseriewerkstätten und windschiefen Mietshäusern aus Holz, das langsam vor sich hinfaulte. The Wank, oder auch der Misthaufen, wie die Leute es nannten. Barone konnte nachvollziehen, warum. Der Gestank war unglaublich. Ein paar Raffinerien brannten Tag und Nacht, und der verbrannte Mief hing einem noch ewig in den Klamotten und auf der Haut. Schiffe luden ihren Abfall drüben auf der New-Orleans-Seite ab, und hier wurde er angespült. Auch tote Fische, die, die selbst die Möwen nicht anrührten.
Er bog von der Hauptstraße ab und lenkte den Impala eine schmale unbefestigte Straße mit Schotter aus Austernschalen hinunter, die parallel zu den Eisenbahnschienen verlief. Die Reifen knirschten, das Licht der Scheinwerfer hüpfte über unzählige Reihen von kaputten Windschutzscheiben und eingedrückte Kühlergrills. Über einen zehn Fuß hohen Stapel Chromstoßstangen.
Es war schon nach Mitternacht, aber im Büro brannte noch Licht. Barone wusste, dass das der Fall sein würde. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.
Armands Büro war nur ein Schuppen: vier Wände und ein Wellblechdach. Im vorderen Zimmer standen ein Schreibtisch, ein Sofa mit abgesägter Armlehne, damit es hineinpasste, und ein Campingkocher, den Armand zum Kaffeekochen verwendete. Das Hinterzimmer befand sich hinter einer Tür, die aussah wie jede andere Tür. Massiver Stahl. Wer versuchte, die einzutreten, humpelte für den Rest seines Lebens.
Armand strahlte Barone an. Er freute sich, Barone zu sehen. Warum auch nicht? Barone kaufte immer die teuerste Ware und feilschte nie sonderlich um den Preis.
»Was gibt’s Neues, Baby?«, begrüßte ihn Armand. »Wo hast du gesteckt? Wie lange ist das her, seit du mich das letzte Mal besucht hast? Drei Monate?«
»Zwei«, antwortete Barone.
»Möchtest du einen Drink? Sieh dich mal an. Schön schlank. Nicht so wie ich, Baby. Mann, ich muss nur einen Teller Reis mit Bohnen ansehen, und schon werd ich fett.« Er griff seinen Bauch mit beiden Händen und wackelte ihn für Barone hin und her. »Hast du das gesehen? Wo wohnst du eigentlich momentan? Immer noch drüben bei der Burgundy Street?«
»Nein.«
»Was hältst du von dieser ganzen Sache da oben in Dallas? Jammerschade, was? Wenn du mich fragst, stecken die Russen dahinter. Wart’s mal ab. Die Russen.«
»Ich hab nen neuen Auftrag«, sagte Barone.
Armand musste lachen. »Gleich zur Sache. Jedes Mal.«
»Ich brauche heute Abend noch was.«
»Was schwebt dir denn vor?«
»Erzähl mir, was du vorrätig hast.«
Armand holte seinen Schlüsselring raus. »Na ja, Snubbys, die kurzläufigen Revolver, du kannst dir aussuchen, was du haben willst, fünfzig oder hundert Millimeter. Garantiert sauber. Oder wenn du lieber was mit ein bisschen mehr gris-gris willst, ich hab noch eine Winchester mit abgesägtem Lauf.«
»Was soll die Winchester kosten?«, fragte Barone.
»Hat mich fünf Dollar mehr gekostet als die letzte.«
Das bezweifelte Barone. »Sauber?«
»Garantiert.«
»Von mir kriegst du aber keine fünf Dollar mehr.«
»Oh, Baby, du ruinierst mich noch.«
»Lass mal sehen«, sagte Barone.
Armand schloss die Tür zum Hinterzimmer auf. Es war nur halb so groß wie das vordere Zimmer, gerade genug Platz für ein paar Kisten und einen Überseekoffer. Er ging in die Hocke, um den Koffer aufzuschließen. Vor lauter Anstrengung stöhnte er.
»Wie geht’s LaBruzzo und den anderen?«, fragte Armand. »Weißt du, wen ich neulich zufällig getroffen habe? Diesen großen, hässlichen Schwachkopf aus Curly’s Gym. Du erinnerst dich doch, überall Muskeln. Ich weiß genau, du erinnerst dich. Rat mal, für wen er jetzt arbeitet. Jetzt kommt’s: Er …«
Armand sah zu ihm rüber und entdeckte den Revolver in Barones Hand. Ein .357 Blackhawk.
Es dauerte einen Moment, bis er die Waffe registriert hatte. Dann entglitten ihm die Züge, als rutsche ihm eine Maske vom Gesicht. Er stand wieder auf.
»Den hab ich dir verkauft«, krächzte Armand. »Stimmt doch, oder? Hab noch einen Karton Colt-Patronen draufgelegt.«
»Ist ein paar Jahre her«, entgegnete Barone.
Um diese Uhrzeit waren keine Autos unterwegs, und das nächste Grundstück war ein gutes Stück vom Schuppen entfernt. Aber Barone ging nie ein Risiko ein, zumindest nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Er beschloss zu warten, bis das nächste Frachtschiff vorbeikam und mit dem Schiffshorn tutete.
»Jetzt hör mir genau zu, Baby«, sagte Armand eindringlich. »Du hast den Falschen. Beziehungsweise Carlos. Ich hab keinen Schimmer, worum’s überhaupt geht.«
Eine Hand hing an seiner Seite, mit der anderen rieb er sich den Bauch, langsam und immer im Kreis. Barone war ganz ruhig. Armand trug nie eine Waffe. Und die im Koffer waren niemals geladen.
»Bitte«, flehte Armand. »Ich hab nichts an niemand verkauft. Was auch immer da oben in Dallas passiert ist, ich hab nicht die geringste Ahnung. Dasselbe würd ich auch schwören, wenn Jesus persönlich jetzt hier vor mir stünde.«
Also wusste Armand doch, worum es ging. Das überraschte Barone nicht.
»Bitte, Baby, du weißt, ich kann den Mund halten. Hab ich immer so gemacht und werd’s auch weiterhin tun. Lass mich mit Carlos reden. Lass mich ihm erklären, dass ich nichts damit zu tun habe.«
»Erinnerst du dich noch an die große Weihnachtsfeier im Mandina’s?«, fragte Barone. »Ein, zwei Jahre nach dem Krieg.«
»Ja, sicher«, antwortete Armand. Er konnte sich nicht erklären, warum Barone auf einmal nach einer Weihnachtsfeier fragte, die so lange her war. Und auch nicht, warum er ihn noch nicht erschossen hatte. Langsam glaubte er, er hätte vielleicht eine Chance. »Klar. Klar erinnere ich mich an die.«
Winter ’46 oder ’47. Barone hatte gerade angefangen, für Carlos zu arbeiten. Damals wohnte er in einer Wohnung ohne Heizung und Warmwasser ganz in der Nähe des Roosevelt Hotels.
»Auf der Feier gab’s einen Klavierspieler«, fuhr Barone fort. Er fragte sich, ob er auf dieser Weihnachtsfeier das erste Mal »Round Midnight« gehört hatte. »Einen Klavierspieler mit nem Zylinder.«
»Und einen Weihnachtsbaum«, fügte Armand hastig hinzu. Nickte und grinste und wagte endlich zu hoffen, was für eine Erleichterung. »Ganz genau. Einen richtig großen Weihnachtsbaum mit nem Engel obendrauf.«
Barone musste an den alten Schwarzen denken, der vorhin »Round Midnight« auf seinem Altsaxofon gespielt hatte und wie schnell seine Finger über die Klappen geflogen waren. Manche Leute hatten eine wirkliche Begabung.
Schließlich tutete ein Frachtschiff, so tief und laut, dass Barones Backenzähne vibrierten. Er drückte den Abzug.
Auf dem Rückweg zur Brücke entdeckte Barone eine Viertelmeile östlich von Armands Schrottplatz ein Auto, das ihm auf der anderen Spur entgegenkam. Ein alter Hudson Commodore mit einer wie der Schild einer Baseballkappe geformten Sonnenblende.
Am Steuer saß eine Frau. Barones Scheinwerfer beleuchteten ihr Gesicht, als sie aneinander vorbeifuhren. Und ihre Scheinwerfer beleuchteten Barones.
Er stieg auf die Bremse und schwang den Wagen herum. Als er unmittelbar hinter dem Commodore war, blinkte er die Frau mit den Scheinwerfern an. Der Commodore fuhr rechts ran. Barone hielt hinter ihm. Auf dem Weg zum Fenster auf der Fahrerseite ließ er sein Springmesser aufschnappen und stieß es rasch in den Hinterreifen.
»Junge, Junge, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt.« Die Frau hatte Lockenwickler im Haar. Wer war sie? Was hatte sie um diese Uhrzeit hier draußen zu suchen? Barone fand, eigentlich spielten diese Fragen gar keine Rolle. »Ich dachte schon, Sie wären die verdammten Bullen.«
»Nein«, entgegnete er.
An ihrem Vorderzahn fehlte ein Stück. Sie hatte ein freundliches Lächeln. »Die Bullen sind nämlich das Letzte, was ich momentan gebrauchen kann.«
»Sie haben einen Platten«, sagte Barone.
»Mist. Das kann ich fast genauso wenig brauchen.«
»Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«
Sie stieg aus dem Wagen und kam zu ihm nach hinten. Sie trug einen alten Hausmantel in einer schmutzig grauen Farbe. Als sie die Luft aus dem Hinterreifen zischen hörte, fing sie an zu lachen.
»Na, das hat mir gerade noch gefehlt.« Wieder lachte sie. Sie hatte ein nettes Lachen, wie das lustige Klimpern von Münzen in der Hosentasche. »Nach dem Tag, den ich heute hatte, ist das wirklich die Krönung.«
»Machen Sie den Kofferraum auf«, sagte Barone. »Ich wechsle ihn für Sie.«
»Mein Held«, lachte sie.
Er überprüfte, ob die Straße leer war, dann schlitzte er ihr die Kehle auf, wobei er sie ein wenig von sich weg hielt, damit sie nicht auf seinen Anzug blutete. Schon sehr bald wurde sie schlaff, wie ein Seidenkleid, das vom Bügel glitt. Barone musste sie nur noch in den Kofferraum ihres Wagens sinken lassen, ein Kinderspiel.