28. August 2019, Bagdad, Irak
Staub.
Staub und Sand.
Überall in diesem Land war es dasselbe. Staub, Sand, Hitze und grelles Sonnenlicht.
Cameron Becker fegte mit siebzig Meilen pro Stunde über die von Schlaglöchern übersäte Autobahn und beobachtete, wie ein kleiner Wirbelsturm aus Staub, ein Staubteufel, über den Asphalt tanzte, bevor er im Sog eines vorbeibrausenden Tanklasters verschwand.
Reihen von tristen, zweistöckigen Häusern säumten die Straße. Die Fenster waren mit Läden verschlossen, die Türen vergittert – kleine Außenposten der Menschheit, die um ihre Existenz kämpften. Sie versuchten, den Tag zu überstehen, um morgen den gleichen Kampf wiederaufzunehmen.
Die Außentemperatur betrug fast vierzig Grad, wovon er allerdings nichts merkte, da die Klimaanlage des Ford Explorer auf Hochtouren arbeitete. Er wollte sich auch nicht beschweren. Als Veteran der Invasion von 2003 hatte er lange genug in Löchern im Dreck gehockt, während ihm Schweiß und Sand in den Augen brannten, sodass er jetzt die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen wusste.
Zu seiner Linken erstreckte sich ein Freiluft-Markt von der Größe eines Fußballfeldes. An den winzigen Ständen wurde alles Mögliche verkauft – von DVD s über Teppiche, Lederhandtaschen, gefälschte Levi’s, Kinderspielzeug, Gemälde, Wasserflaschen, gestohlene Militärrationen und sogar Dartscheiben mit Bildern des gestürzten Saddam Hussein. Der Mann war seit mehr als einem Jahrzehnt tot, aber sein verhasstes Erbe lebte weiter.
Die Fahrt durch Städte wie Bagdad war für ihn wie eine Reise in die Vergangenheit. Anmutige Torbogen, geschlossene Fensterläden, Kuppeln und kunstvolle Brunnen standen Seite an Seite neben Büro- und Wohnblocks der 1970er-Jahre. Handymasten ragten neben alten Minaretttürmen in den blauen Himmel.
Hin und wieder kamen sie an den Überresten eines Gebäudes des früheren Regimes vorbei, das durch alliierte Bombenangriffe zerstört worden war. Ob das im ersten oder zweiten Golfkrieg geschehen war, war oft schwer zu sagen. Eines Tages würde sich eine neue Regierung daranmachen, die Gebäude wiederaufzubauen.
Eines Tages …
Der Verkehr bestand aus einer Mischung aus hochmodernen 4x4-Cruisern (ein sicheres Zeichen für eine ausländische Führungskraft), Luxuslimousinen und klapprigen alten Rostlauben, die durch notdürftiges Flickwerk und schiere Willenskraft zusammengehalten wurden. Ob alt oder neu, alle Fahrzeuge waren von einer braunen Staubschicht bedeckt, und alle ließen ihre Motoren kräftig aufheulen.
Es war keine gute Idee, in dieser Gegend langsam zu fahren, schon gar nicht, wenn man einen teuren Wagen fuhr. Die Gefahr von Entführungen und Terroranschlägen war allgegenwärtig, und Becker hatte nicht die Absicht, als Geisel in den Zehn-Uhr-Nachrichten zu enden.
Es wäre schon von Berufs wegen höchst peinlich.
»Sie sind ja nicht gerade sehr gesprächig«, bemerkte sein Passagier.
Becker warf einen Blick in den Rückspiegel und betrachtete den übergewichtigen, alternden Salonlöwen, der die Rückbank mit Beschlag belegte. Mit seinem schütteren, nach hinten gegeltem Haar, der dicken Brille, dem offenen Hemd, das seinen fetten Bauch kaum verbarg, und dem pummeligen Gesicht mit den Aknenarben aus der Jugendzeit bot er sicherlich keinen Anlass für lange, bewundernde Blicke. Sein Name war Luka Belikow, und er war ein russischer Geschäftsmann, den Becker für die nächsten Tage durch den Irak begleiten sollte. Er konnte nicht genau sagen, womit der Mann seinen Lebensunterhalt verdiente – irgendetwas mit chemischer Verfahrenstechnik erinnerte er vage. Aber die Bezahlung war gut und die Arbeit einfach, also beschwerte er sich nicht.
Er saß bequem in einem klimatisierten Auto und verdiente das Dreifache dessen, was er als Army Ranger verdient hatte.
»Ich werde dafür bezahlt, Sie zu beschützen«, antwortete Becker in einem professionell neutralen Tonfall. »Nicht, um mich mit Ihnen anzufreunden … Sir.«
Draußen rannte eine Gruppe von Kindern in schmutziger, zerlumpter Kleidung am Straßenrand entlang und sammelte den Müll ein, der von vorbeifahrenden Autofahrern weggeworfen wurde.
»Kommen Sie, Mann. Seien Sie locker, und amüsieren Sie sich ein bisschen.« Belikow trank einen Schluck Mineralwasser. Sein Kehlkopf hüpfte auf und ab. »Ich rede gerne. Reden ist gut.«
Na klar tust du das , dachte Becker gereizt.
»Sie sind beim Militär, ja?«
»War ich mal.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Jetzt nicht mehr.« Mehr hatte Becker zu diesem Thema nicht zu sagen.
»Jetzt sind Sie ein Söldner.«
Becker schnaubte amüsiert. Es gab viele Ex-Militärs, die ihren Beruf im privaten Sicherheitssektor ausübten, und noch mehr Möchtegernsöldner, die sich einen Namen machen wollten. Aber richtige Söldner, die durch die ganze Welt reisten und die Kriege anderer Leute ausfochten, waren eine seltene Spezies.
»Ich bin nur ein einfacher Sicherheitsberater.«
»Wie lange sind Sie schon im Irak?«
»Lange genug, um mich einigermaßen auszukennen.«
»Gefällt es Ihnen hier?« Belikow wollte oder konnte nicht erkennen, dass Becker an einer Plauderei nicht interessiert war.
»Mir gefällt der Gehaltsscheck.« Becker sah ihn wieder im Rückspiegel an. »Mit dem Rest arrangiere ich mich.«
Zu seiner Überraschung warf Belikow den Kopf zurück und lachte, als hätte er gerade den lustigsten Witz seines Lebens gehört. »Das ist schon besser! Entspannen Sie sich, Cameron! Wir gehen schließlich nicht auf eine Beerdigung.«
Das ist schade , dachte Becker. Sein Geduldsfaden wurde merklich dünner.
»Machen Sie Musik an, Mann!«, befahl Belikow.
Becker verdrehte die Augen, was seine Sonnenbrille zum Glück verbarg, und schaltete das Radio ein. Aus den Lautsprechern drang so etwas wie das arabische Äquivalent von Justin Bieber.
Belikow grinste. Ihm gefiel es offensichtlich, und bald nickte er im Takt der Musik.
Becker wurde bald von wichtigeren Dingen abgelenkt. Sein Funkgerät knisterte, und eine Stimme durchdrang das Rauschen. »Chef, hier spricht Escort.« Die weibliche Stimme hatte einen deutlichen New Yorker Akzent. »Sieht aus, als hätten wir ein Verkehrschaos voraus. Ein Lastwagen hat seine Ladung über den ganzen Highway verteilt. Es herrscht das blanke Chaos.«
Escort war sein Begleitfahrzeug, das etwa fünfzig Meter hinter ihm fuhr. Darin saßen Shawn Griffin und Naomi Westbrook, zwei Freiberufler wie er, mit denen sich Becker angefreundet hatte. Beide waren zuverlässige Leute und verfügten über genügend Feuerkraft, um sie aus allen Schwierigkeiten herauszuballern, die sich ihnen in den Weg stellten.
Becker runzelte die Stirn und spähte durch die Motorabgase und den aufgewirbelten Staub nach vorn. Tatsächlich begann sich der Verkehr zu stauen. Etwa eine Meile vor ihm sah er eine Menge Bremslichter.
Er drehte die Musik leiser und drückte auf den Sendeknopf. »Verstanden. Chef hat Sichtkontakt. Bereithalten.«
Er überlegte kurz. Es widerstrebte ihm, die Hauptstraße zu verlassen, aber wenn er länger als ein oder zwei Minuten stehen bleiben musste, würde er noch viel größere Probleme bekommen.
»Wir wechseln auf Ausweichroute A«, ordnete er an. Sie hatten mehrere Ausweichrouten für eine solche Möglichkeit geplant. »Ich nehme die nächste Ausfahrt.«
Das Luxushotel, in dem Belikow abgestiegen war, lag mitten in der Green Zone im Zentrum von Bagdad, nur ein paar Kilometer von seinem Standort entfernt. Schon bald würden sie hinter den zahlreichen Sicherheitsperimetern der Zone sein, und Becker konnte sich ein wenig entspannen.
Belikows Telefon klingelte. Er hatte es nach wenigen Augenblicken am Ohr.
»Wodjin!«, rief er und vertiefte sich sofort in ein Gespräch. Er klappte den Laptop, der neben ihm auf dem Sitz lag, auf und schaltete ihn ein. Wenigstens hielt dieses Gespräch ihn für eine Weile Becker vom Hals.
»Chef, Escort hier«, knisterte es in seinem Ohrhörer.
»Rede, Escort.«
»Wir sind zurückgefallen«, entschuldigte sich die Frau. »Irgendein Arschloch hat uns geschnitten. Fahr lieber langsamer, bis wir wieder aufgeschlossen haben.«
Als er in den Rückspiegel schaute, sah er den schwarzen Explorer seiner Mitarbeiter etwa hundert Meter hinter sich. Er hing an der Stoßstange eines alten Toyota Hilux, der aussah, als hätte er gerade die Welt umrundet.
»Verstanden, Escort. Und sag deinem Fahrer, er soll keine Abkürzungen nehmen wie beim letzten Mal«, setzte er trocken hinzu.
Bei dem fraglichen Fahrer handelte es sich um einen Ex-Marine namens Shawn Griffin, der sich in den letzten zehn Jahren auf dem Markt für private, militärische Sicherheitsunternehmen, PMC , herumgetrieben hatte. Griffin war zwar ein professioneller Agent mit jahrelanger Einsatzerfahrung, aber seine Fahrweise grenzte an Selbstmord. Während einer Escort-Mission vor einigen Monaten war er bei dem Versuch, verlorene Zeit gutzumachen, zwischen zwei geparkten Transportern hindurchgefahren. Leider stellte er zu spät fest, dass die Lücke nicht ganz so breit war, wie er angenommen hatte. Das Ergebnis war ein geschrottetes Transportfahrzeug und zwei sehr verärgerte Lieferwagenfahrer.
Becker hörte die gemurmelte Erwiderung im Hintergrund. »Sag dem Arschloch, er soll sich ins Knie ficken.«
Westbrook räusperte sich. »Verstanden, Chef. Er sagt, er weiß die Aufmunterung zu schätzen.«
»Du weißt, dass ich das von eurem Anteil abziehe, oder?«
»Ich verstehe dich nicht mehr. Die Verbindung ist sehr schlecht.«
Becker grinste und genoss das vertraute Geplänkel.
Sie befanden sich jetzt mitten in einem heruntergekommenen Wohnbereich. Überall standen Mietskasernen, die mit alten Satellitenschüsseln geschmückt waren wie Weihnachtsbäume. An einigen Stellen klafften große Lücken, wo die USAF aus Versehen einige Gebäude plattgemacht hatte.
Ein paar alte Männer in abgewetzten Anzügen saßen vor einem nahe gelegenen Café und beobachteten sie, als sie vorbeifuhren. Ihre faltigen alten Gesichter verrieten nichts. »Übrigens, Escort, ich brauche euch morgen früh für die Aufklärung der Patrouillenroute. Unser Fahrgast hat die Zielinformationen.«
»Geht nicht, Chef«, antwortete Westbrook. »Ich habe mit Hastings getauscht.«
Becker runzelte die Stirn. »Gibt es einen Grund?«
»Ich hoffe, du machst Scherze.« In ihrem Tonfall schwang jetzt ein gefährlicher Unterton mit.
»Sollte ich?«
Pause.
»Morgen ist mein Geburtstag.«
»Blödsinn. Der ist nächsten Monat.«
»Ich kenne doch wohl meinen eigenen Geburtstag«, schimpfte sie. »Ich habe es dir schon zweimal gesagt. Du hast gesagt, ich könnte den Tag freinehmen.«
»Das klingt nicht nach etwas, das ich sagen würde.« Die Ampel an der Kreuzung vor ihnen war rot. Becker ging vom Gas, als sie näher kamen.
»Es gibt Leute, die sich tatsächlich für ihre Teamkollegen interessieren.«
»Ach ja? Wann ist denn mein Geburtstag?«
»Am 15. März.«
»Verdammt!«, fluchte Becker leise.
Beckers Explorer kam an der Ampel zum Stehen. Er ließ den Gang eingelegt, bereit, sofort Gas zu geben. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung hatten ein paar Soldaten der irakischen Armee eine mit Sandsäcken versehene Maschinengewehrstellung mit Blick auf die Kreuzung besetzt.
In der Nachmittagssonne sahen sie gelangweilt und lustlos aus, rauchten und beobachteten gleichgültig den vorbeifahrenden Verkehr. Ihre Gesichter waren mit Sturmhauben verdeckt, eine übliche Vorsichtsmaßnahme gegen Vergeltungsschläge.
Links von ihm war ein verbeulter weißer Ashok Leyland-Lkw zum Stehen gekommen, dessen Ladefläche mit Säcken voller Zement und anderen Baumaterialien vollgestopft war. Plötzlich beschlich Becker das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Da er seit Langem gelernt hatte, seinen Instinkten zu vertrauen, blickte er sich um und suchte seinen Beobachter. Tatsächlich fiel sein Blick auf eine junge Frau, die an der belebten Kreuzung stand. Groß und schlank, mit rotem Haar und blasser Haut, schien sie ihn geradewegs anzustarren, ohne auf den Verkehr und die Passanten zu achten.
Becker runzelte die Stirn hinter seiner Sonnenbrille, neugierig und ein wenig entnervt von ihrem eindringlichen, stierenden Blick. Warum beobachtete sie ihn?
Ein wütendes Hupen lenkte Beckers Aufmerksamkeit ab, und er warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, wie der Fahrer hinter ihm ihn mit einer Geste aufforderte weiterzufahren. Die Ampel war auf Grün gesprungen, ohne dass er es bemerkt hatte.
Becker drehte sich zu der Frau um und fragte sich, ob sie ihn immer noch mit demselben unheimlichen Blick beobachtete, dann blinzelte er überrascht. Sie war verschwunden.
Das Gehupe hinter ihnen erregte sogar Belikows Aufmerksamkeit. Er beugte sich auf seinem Sitz vor. »Alles in Ordnung, mein Freund? Worauf starren Sie denn so?«
»Nichts«, antwortete Becker und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge.«
Das war nichts, sagte er sich. Hitze, Müdigkeit und Überarbeitung spielten ihm einen Streich und ließen ihn Dinge sehen, die nicht wirklich da waren.
Becker riss sich zusammen, konzentrierte sich und gab Gas. Er wollte unbedingt weiterfahren und Belikow in seinem Hotel absetzen. Vielleicht bekam er dann ein paar Stunden Auszeit vor seinem nächsten Auftrag.
»Escort, du solltest besser …«
Ihm wurde das Wort abgeschnitten, als ein zehn Tonnen schwerer Sattelzug in seinen Explorer krachte. Das Fahrgestell verbog sich, und die Scheiben barsten. Das große Fahrzeug wurde wie ein Spielzeug über die Straße geschleudert. Becker hatte keine Zeit zu reagieren, als die Airbags auslösten und das Auto sich überschlug. Er wurde von Glasscherben und anderen umherfliegenden Trümmern überschüttet.
Hinten hörte er Belikow vor Angst schreien, aber er konnte nichts mehr für den Mann tun. Ihm blieb nur, sich festzuhalten und darauf zu warten, dass das Autowrack zum Stillstand kam, während die Welt um ihn herum tobte und sich zu überschlagen schien.
Becker wurde durch das schwache Geräusch von Stimmen alarmiert. Irgendetwas passierte hier, das wusste er. Etwas Wichtiges.
Mühsam öffnete er die Augen und sah sich um. Die Welt stand auf dem Kopf. Hinter der zerborstenen Windschutzscheibe sah er die Kreuzung, an der sie erwischt worden waren, die verfallenen Gebäude auf beiden Seiten, die raue, mit Schlaglöchern übersäte Straße darüber. Und unter ihm erstreckte sich der endlose blaue Himmel mit der glühenden Sonne, die durch einen Dunst aus Rauch auf ihn herabstrahlte. Der Wind peitschte trockenen Sand durch die zersplitterten Fenster, der wie Nadeln in sein Gesicht und seine Augen stach.
Das Fahrzeug musste auf dem Dach zum Liegen gekommen sein. Becker war immer noch in seinem Sitz angeschnallt und lag auf dem Rücken. Wie verdammt dumm das aussehen muss , schoss es ihm durch den Kopf.
Er tastete nach dem Schloss des Sicherheitsgurts, wappnete sich gegen den Aufprall und öffnete es. Er fiel mit dem Kopf voran auf das Dach des Explorers und verzog sich beim Aufprall den Hals. Er ignorierte seine geprellten Muskeln und die Schnittwunden, so gut er konnte, und kroch durch das zerbrochene Fenster hinaus. Draußen schüttelte er den Kopf in dem Versuch, seine getrübte Sicht zu klären und die plötzliche Welle von Übelkeit zu bekämpfen.
Er musste nach seinem Mitfahrer sehen.
»Luka, alles in Ordnung?« Er kauerte sich neben die Heckscheibe. »Reden Sie mit mir.«
Überall lagen zerbrochene Gegenstände und Wrackteile, die beim Überrollen des Fahrzeugs durch das Innere geschleudert worden waren.
Belikows Laptop befand sich neben einem der Fenster, der Bildschirm war schwarz und hatte Risse. Der Mann selbst lag ausgestreckt auf dem Wagenhimmel, das Gesicht blutverschmiert. Becker konnte nicht erkennen, ob er noch lebte, denn er gab keinen Laut von sich.
Er dachte an den Lastwagen, der sie gerammt hatte. Das war auf keinen Fall ein Unfall. Er zog die Smith & Wesson Automatik, die er immer bei sich trug, aus dem Schulterhalfter. Im Kofferraum waren noch schwerere Waffen verstaut, aber er hatte keine Zeit, sie zu holen.
»Escort, hier spricht Chef.« Er sprach leise und eindringlich in sein Funkgerät, während er seine Umgebung nach Feinden absuchte. Die meisten Zivilisten, die den Ärger witterten, hatten sich bereits zerstreut. »Wir haben einen Code fünf. Ich wiederhole, Code fünf. Wir brauchen so schnell wie möglich Verstärkung.«
Es kam keine Antwort, nicht einmal ein Rauschen. »Escort, hörst du mich?«
Er blickte auf den Sender. Das Gehäuse war zerbrochen, der digitale Bildschirm schwarz. Es musste beim Aufprall zerstört worden sein.
»Scheiße.«
Das Geräusch gedämpfter, erregter Stimmen in der Nähe weckte seine Aufmerksamkeit. Er hob den Kopf über das Fahrzeug hinweg. Drei Männer in irakischer Militärkleidung näherten sich dem Autowrack. Sie hielten ihre Waffen schussbereit.
Gott sei Dank! Die Soldaten am Kontrollpunkt hatten den Zusammenprall mitgekriegt und kamen jetzt, um nachzusehen, was passiert war.
»Wir brauchen Hilfe!«, rief er. »Wir haben einen Verletzten …«
Der Soldat an der Spitze hob seine Waffe, und Becker ließ sich instinktiv fallen, als der Mann mit seiner Automatik einen Feuerstoß abgab. Wellen kinetischer Energie ließen den Rahmen des Explorers erzittern, als die Kugeln das Metallgehäuse durchschlugen.
»Feuer einstellen!«, rief Becker über die Schüsse hinweg. »Freunde, verdammt noch mal! Freunde!«
Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Seine Angreifer waren nicht vor den irakischen Soldaten geflohen, sondern sie waren die irakischen Soldaten. Oder zumindest Männer, die irakische Uniformen trugen.
Becker ließ sich auf den Bauch fallen und spähte durch die zerbrochenen Fenster auf den Boden hinter dem Wrack, wo er zwei Paar gestiefelte Füße entdeckte, die sich schnell näherten. Er holte tief Luft, hob die Automatik und feuerte drei Schüsse auf das nächstgelegene Ziel ab. Die Kniescheibe eines Mannes löste sich in einem roten Nebelfetzen auf, dann ertönte ein Schrei und ein dumpfer Aufprall, als der Kerl zu Boden ging.
Becker jagte ihm eine Kugel in den Kopf, um die Sache zu beenden.
Einer erledigt. Zwei fehlten noch.
Becker schwenkte die Waffe nach rechts und suchte ein anderes Ziel. Die Schüsse hatte jetzt aufgehört, eine bedrohliche Stille senkte sich über die Szene. Eine Stille, die durch das dumpfe Aufschlagen von etwas auf dem Asphalt in der Nähe unterbrochen wurde.
Er drehte sich nicht um, um es zu sehen, denn er ahnte bereits, was es war. Becker kniff die Augen zu, hielt sich die Hände über die Ohren und öffnete den Mund, als die Blendgranate mit einem Lichtblitz und einem kakofonischen Knall detonierte, der wie eine Welle über ihn hinwegging. Becker öffnete die Augen und schüttelte den Kopf, seine Ohren klingelten. Hätte er nicht so schnell reagiert, wäre er von der Granatenexplosion geblendet und betäubt worden. Leichte Beute für die Angreifer.
Tatsächlich sah Becker den langen Lauf eines Sturmgewehrs am Rande des Explorers auftauchen.
Es gibt Momente, in denen man innehält und nachdenkt, Momente, in denen man wegläuft, und Momente, in denen man einfach den Kopf senkt und angreift. Dies hier war so ein Moment.
Becker war unbewaffnet, da er seine Pistole hatte fallen lassen müssen, um sich die Ohren zuzuhalten. Es blieb keine Zeit, danach zu suchen: Vorrangig ging es darum, dem Soldaten das Gewehr wegzunehmen und es vorzugsweise unmittelbar danach gegen seinen Exbesitzer anzuwenden.
Zum Glück war Becker für beide Aufgaben gut ausgebildet. Er sammelte die letzten Funken an Kraft und Aggression und stürzte sich auf seinen Gegner.
Was auch immer er sonst sein mochte, der Kerl war auf Zack. Er sah Becker kommen, erkannte die Situation und begriff sofort zwei Dinge: Erstens, Becker hatte es auf seine Waffe abgesehen, und zweitens, er würde sie nicht schnell genug einsetzen können. Statt zu versuchen, das klobige Sturmgewehr gegen ein Ziel zu schwingen, das bereits in der Nähe war, ließ er es fallen und wirbelte herum, um Beckers Angriff von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Becker stürzte sich auf ihn wie ein Linebacker, der einen Ball abfängt, in der vollen Erwartung, seinen Gegner von den Füßen zu fegen. Becker war ein großer Mann und wusste sein Gewicht zu seinem Vorteil zu nutzen. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen absorbierte sein Ziel die volle Wucht des Aufpralls wie ein Baumstamm. Im nächsten Moment packten Becker zwei massige, kräftige Arme an der Taille, rissen ihn vom Boden hoch und schleuderten ihn gegen die Seite des umgedrehten Explorers.
Becker landete fast betäubt im Dreck. Brennender Schmerz zuckte durch seinen Leib. Benommen sah er hoch, als ein zweiter Maskierter in irakischer Uniform ins Blickfeld trat. Er hielt seine Waffe in der Hand, und sein Blick zuckte von Becker zu dem Berg von einem Mann, der ihn gerade wie ein Spielzeug durch die Luft geschleudert hatte.
»Ich hab den hier!«, bellte der Mann mit der Maske auf Englisch. »Holt Iwanow. Los!«
Der andere Agent zog sich sofort auf die andere Seite des Fahrzeugs zurück, aber der kurze Schlagabtausch hatte für eine kurzzeitige Ablenkung gesorgt. Was Becker ausnutzen konnte. Ohne zu zögern, schnappte er sich das Sturmgewehr, das sein Gegner während der kurzen Konfrontation fallen gelassen hatte.
Kaum hatte er die Waffe vom Boden gehoben, krachte brutal ein gestiefelter Fuß darauf und presste sie wie ein Schraubstock auf die staubige Straße. Der zweite Stiefel landete in Beckers ungeschützter Körpermitte. Der Tritt raubte ihm den Atem, er krümmte sich und schnappte angestrengt nach Luft.
Ein großer Arm schlang sich um Beckers Hals und hob ihn fast vom Boden hoch, als er ihn zu dem Mann heranzog. Die kalten grauen Augen seines Gegners blickten ihn durch den Schlitz der Maske an.
»Du versuchst immer noch, den Helden zu spielen, Becker, was?«, knurrte der Mann. »Aber diesmal wird das nichts.«
Becker gefror das Blut in den Adern. Dieser Mann kannte seinen Namen.
In der Nähe wurde die Hecktür des Explorers mit einem Ächzen protestierenden Metalls aufgestemmt. Benommen und verletzt konnte Becker nur zusehen, wie sein Kunde, der russische Geschäftsmann, stöhnend und blinzelnd ins grelle Sonnenlicht gezogen wurde.
Er war am Leben. Zumindest im Moment noch.
»Es ist wirklich eine Schande, dass ich dich jetzt umlegen muss«, zischte sein Angreifer, dessen Augen vor Hass sprühten. »Es würde sich fast lohnen, dich am Leben zu lassen, nur damit du siehst, was noch kommt.« Die erschreckende Implikation dieser Worte beeindruckte Becker einen Moment, aber er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Er sah, wie der Maskierte mit dem Kopf ausholte, und wappnete sich gegen den Aufprall. Im nächsten Moment rammte ihm der Mann mit voller Wucht seine Stirn ins Gesicht und ließ ihn dann wie einen Sack Kohle zu Boden fallen.
»Aber, he, ich kann damit leben.« Der große Mann griff nach dem Sturmgewehr, das Becker versucht hatte, ihm abzunehmen. Becker konnte ihn nicht aufhalten. Die Welt verschwamm, und seltsame Lichter blitzten vor seinen Augen auf. Becker würde sterben, das wusste er.
In diesem Moment zerriss das Knattern von Maschinengewehrfeuer die Luft. Es war eine AK 47, abgefeuert aus kurzer Distanz. Becker hatte die verdammten Dinger oft genug gehört, um ihr charakteristisches Bellen zu kennen.
»Kontakt! Kontakt!«, schrie einer der Maskierten.
Zu den Schüssen aus der Kalaschnikow gesellte sich einige Sekunden später weiteres Feuer, etwas entfernt und heller und schärfer. Eine MP 5-Maschinenpistole. Diese Waffen führten seine Kollegen im Begleitfahrzeug mit.
»Rückzug!«
Sein potenzieller Killer zögerte kurz, entschied dann aber, dass es sich nicht lohnte, sein eigenes Leben zu riskieren, und verschwand aus seinem Blickfeld. Sekunden später schlug eine Wagentür zu, ein Motor heulte auf, und ein Fahrzeug raste davon, Staub und Glasscherben aufwirbelnd.
»Becker!«, hörte er Westbrooks Stimme. »Becker! Bist du okay?«
»Hier drüben!«, antwortete er schwach und bemühte sich aufzustehen.
Sie sprintete um das Autowrack herum und kam vor ihm zum Stehen.
Naomi Westbrook ging auf die vierzig zu. Sie war bis vor etwa sechs Jahren Sanitäterin bei der US -Armee gewesen. Eine Schrapnell-Granate an irgendeinem Straßenrand in Afghanistan hatte ihr Aussehen zerstört und die rechte Seite ihres Gesichts mit kleinen Narben übersät. Doch anstatt ihre Verletzungen zu verstecken, hatte sie sich das Haar auf dieser Gesichtsseite rasiert und den Rest nach hinten gekämmt, sodass alle Welt die Narben sehen konnte.
»Du siehst beschissen aus«, sagte sie und musterte ihn. »Kannst du laufen?«
»Hilf mir hoch, dann finden wir es raus.«
Becker ergriff ihre ausgestreckte Hand und rappelte sich mühsam auf die Füße, dann verschwamm alles vor seinen Augen. Er taumelte und lehnte sich Halt suchend an das Autowrack.
Verschwommen sah er, wie sich die Einheimischen versammelten, um das Spektakel zu verfolgen. Niemand kam auf die Idee zu helfen. Sie wollten nichts damit zu tun haben. In der Nähe stand der Lastwagen, der ihn angefahren hatte, immer noch auf der Kreuzung, Kotflügel und Motorraum durch den Aufprall zerbeult. Wenig überraschend war der Fahrer verschwunden, ebenso wie der Rest der Angreifer.
Beckers eigenem Explorer war es nicht besser ergangen. Das Fahrgestell war verbeult und verzogen, eine Seite wie von einer Riesenfaust eingedrückt. Die gebrochenen Achsen ragten wie zertrümmerte Rippenknochen in die Höhe.
»Sie waren hinter Belikow her«, erklärte Becker. »Wir müssen sie finden.«
»Du gehst nirgendwohin, bis wir dich durchgecheckt haben«, widersprach Westbrook und drehte Beckers Gesicht zu sich, um ihn zu untersuchen. »Konzentrier dich auf mich. Wie viele Finger halte ich hoch?«
»Verpiss dich!«, knurrte er und schlug schwach ihre Hand weg. »Ich brauche keinen Arzt. Ich brauche eine Waffe und ein Funkgerät. In dieser Reihenfolge.«
»Becker!«
Er drehte sich um und blinzelte ein paarmal, bis sich sein Blick auf Griffin fokussierte. Der Mann rannte auf sie zu.
»Was zum Teufel ist hier denn los?«, fragte er. »Hat uns die irakische Armee den Krieg erklärt?«
Shawn Griffin war neunundvierzig Jahre alt, stämmig und zäh wie altes Leder und wahrscheinlich auf spektakuläre Weise der hässlichste Mann, dem Becker je begegnet war. Sein Gesicht war eine Ansammlung grob gehauener Züge, die auf einem riesigen, unförmigen Felsbrocken von Kopf klebten. Griffin war seit über einem Jahrzehnt freiberuflich tätig, und das sah man ihm an. Sein kräftiger Körper war über und über von Narben gezeichnet, die er bei verschiedenen Einsätzen rund um den Globus erlitten hatte. Er scherzte gerne damit, dass er auf jedem Kontinent der Erde angeschossen worden war.
»Sie haben irakische Uniformen als Tarnung benutzt«, gab Becker zurück und hielt sich eine Hand an den Kopf, um die Blutung zu stoppen. Er blickte zu dem Mann hinüber, den er niedergeschossen hatte. Die Leiche lag immer noch an der Stelle, wo er gefallen war, eine Lache aus dunklem Blut breitete sich von den Überresten seines Kopfes aus.
»Hast du die Marke ihres Fahrzeugs?«
Griffin nickte. »Es war eine Art Schützenpanzer, vielleicht ein polnischer Dzik. Die Kennzeichen konnte ich nicht erkennen.«
Beckers Telefon war irgendwo im Wrack des Explorers verloren gegangen, und er hatte keine Zeit, danach zu suchen.
»Ich brauche ein Handy.«
Westbrook fischte ihres heraus und warf es ihm zu. Er nickte ihr dankbar zu und wählte eine Nummer aus ihrer Kontaktliste. Es klingelte zweimal, bevor abgenommen wurde.
»Diaz.«
»Corbin, ich bin’s, Becker. Wir sind angegriffen worden. Wir haben Belikow verloren.«
Corbin Diaz saß in einem Hotelzimmer in der Green Zone und diente dem Team als technische Unterstützung. Er koordinierte ihre Bewegungen und die Kommunikation. Er war mit einem Computer weit gefährlicher als mit einer Waffe und ein sehr nützlicher Mann im Team.
»Scheiße! Geht es dir gut?«
»Ich werd’s überleben, aber Belikow ganz sicher nicht, wenn wir ihn nicht schnellstens finden. Ist sein Ortungsgerät noch aktiv?«
Wie üblich hatte Becker innerhalb weniger Minuten nach dem Treffen mit Belikow ein persönliches Ortungsgerät in dessen Jacke geschmuggelt. Die kleine elektronische Wanze war nicht größer als eine AAA -Batterie und konnte seinen GPS -Standort bis auf wenige Meter genau an jeden Ort der Erde übertragen.
»Moment mal …«
Becker hörte das Klicken der Computertasten im Hintergrund.
»Er fährt mit hoher Geschwindigkeit nach Osten, etwa eine Meile von dir entfernt. Ihr solltet besser aufsitzen, wenn ihr ihn einholen wollt.«
»Verstanden, wir sind dabei.«
Becker klappte das Telefon zu und machte sich auf den Weg zu Westbrooks geparktem Explorer. Er bemühte sich, die Schmerzen in seinem geprellten Körper zu ignorieren.
»Von wegen!«, protestierte Westbrook, die hastig hinter ihm herlief. »Becker, wir sind eine Eskorte, kein Zugriffsteam. Wir sind für so etwas nicht ausgerüstet. Das soll das Militär erledigen.«
»Bis dahin könnte Belikow längst tot sein«, antwortete Becker, ohne sich umzudrehen. Belikow mochte ein lästiges Arschloch sein, aber er hatte gutes Geld bezahlt, um beschützt zu werden, und bis jetzt hatte Becker versagt.
»Na und? Willst du für dieses Arschloch sterben?«, fragte sie gleichgültig. »Er ist es nicht wert.«
Becker wirbelte herum und sah sie an. »Die Bastarde, die das getan haben, kennen meinen Namen, verdammt noch mal! Ich werde sie verfolgen. Entweder du hilfst mir, oder du gehst mir aus dem Weg.«
Die Frau starrte ihn einen Moment lang an und kaute auf ihrer Unterlippe. Er konnte nicht sagen, ob sie gleich kapitulieren oder ihm eine Ohrfeige verpassen würde.
»Gut«, entschied sie schließlich. »Aber ich fahre.«