Luka Belikow wurde gewaltsam auf einen Stuhl gedrückt und keuchte, als man ihm die Kapuze vom Kopf riss. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er in Bagdad auf den Rücksitz eines anderen Fahrzeugs verfrachtet worden war und dann die folgenden Stunden in einem Hubschrauber verbracht hatte. Und er konnte jetzt in einem anderen Land sein.
Blinzelnd sah er sich um und erwartete, sich in einer schmuddeligen unterirdischen Gefängniszelle wiederzufinden, in der grausame Foltergeräte an den Wänden hingen. Die Realität hätte nicht anders sein können. Statt in einem dunklen, furchterregenden Verhörraum saß er in einem sauberen, aufgeräumten und hell erleuchteten Labor. In Kühlvitrinen an einer Wand standen reihenweise Chemikalien, biologische Materialien und flüchtige Substanzen. Modernste Computer, Elektronenmikroskope, Gaschronometer, Zentrifugen und Massenspektrometer standen auf makellos sauberen Arbeitsflächen. Sogar die Luft wurde künstlich gereinigt und gefiltert und hatte den kühlen, trockenen Geschmack, an den Belikow einst so gewöhnt gewesen war.
In einem anderen Leben. Als er noch ein anderer Mann gewesen war. Belikows Entführer bewegte sich vor ihm, die Schuhe klackten leise auf den Bodenfliesen. Der Mann hatte die Militärkleidung abgelegt und trug jetzt einen teuren dunkelgrauen Geschäftsanzug, der offenbar auf seine große Statur maßgeschneidert worden war. Neben ihm stand eine Frau, etwa im gleichen Alter, ebenfalls in teurer Zivilkleidung. Rabenschwarzes Haar, blasse Haut, slawische Züge. Unter anderen Umständen hätte man die Frau vielleicht als attraktiv bezeichnen können, aber die Art und Weise, wie sie Belikow ansah, die völlige Verachtung in ihren Augen, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Das waren die Augen einer Killerin.
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie im Moment ziemlich verwirrt sind«, ergriff der Hüne das Wort. »Sie fragen sich wahrscheinlich, wie wir Sie gefunden haben und woher wir Ihren richtigen Namen kennen.« Die Frau lächelte. Sie witterte seine Angst. Und das machte ihr Spaß.
»Es war nicht leicht, das gebe ich zu. Fünfundzwanzig Jahre lang haben Sie es geschafft, von der Bildfläche zu verschwinden. Hätten Sie ein ruhigeres Leben geführt, wäre es vielleicht auch so geblieben.«
»Es war die Gier, die Sie verraten hat«, bemerkte die Frau mit einer Mischung aus Triumph und Abscheu. »Wie so viele von Ihrer Sorte. Ihr wollt immer alle mehr.«
»Wenn es um Geld geht …«, begann Belikow.
Der Mann lachte belustigt. »Luka, bitte. Sehen Sie sich doch mal um. Glauben Sie wirklich, wir wären knapp bei Kasse?«
Belikow nahm seine Umgebung erneut in Augenschein. Allein die Ausrüstung in diesem Labor war Hunderttausende, vielleicht Millionen von Dollar wert.
»Sie sind hier, weil Sie etwas für uns tun können«, fuhr der Mann fort und deutete mit ausgestrecktem Arm auf ihre Umgebung. »All das hier ist für Sie. Es ist alles da, was Sie benötigen könnten.«
»Wofür?«
Belikow beobachtete, wie sein Entführer sich einem verschlossenen Schrank in der Nähe näherte und einen Code in das elektronische Tastenfeld eintippte. Ein leises Summen ertönte, als sich die Magnetschlösser, die den Schrank verschlossen, entriegelten. Der Mann öffnete den Schrank und holte vorsichtig einen Aktenkoffer aus Metall heraus, den er mit der gleichen Sorgfalt behandelte, mit der ein Mann einen Blindgänger behandeln würde, der jederzeit explodieren konnte.
Belikow spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er die Beulen, Kratzer und Brandspuren an dem Gehäuse betrachtete. Der Koffer hatte offenbar schon eine Menge einstecken müssen, doch er war heil und stabil geblieben wie gefordert. Solche Koffer waren so konstruiert, dass sie praktisch jede Belastung aushielten, weil die Aussicht, ihr Inhalt könnte auslaufen, undenkbar war.
»Woher haben Sie den?«, fragte er keuchend.
Der Mann legte den Koffer auf den gegenüberliegenden Schreibtisch, löste die Verschlüsse und hob den Deckel langsam, fast ehrfürchtig an. Unter dieser undurchdringlichen Schale befanden sich sechs Glasampullen mit einer roten Flüssigkeit, die jeweils in einer Schaumstoffmulde eingebettet waren, um selbst die kleinste Erschütterung zu vermeiden. Alle sechs Ampullen waren Gott sei Dank noch unversehrt.
»Sie sind hier, um zu beenden, was Sie vor dreißig Jahren begonnen haben«, informierte der Mann ihn. »Es wird Ihre größte Leistung sein, Luka. Etwas, an das man sich für immer erinnern wird.«
»Sie haben keine Ahnung, womit Sie es da zu tun haben!«, schrie Belikow und sprang von seinem Stuhl auf. »Das da hätte längst vernichtet werden sollen …!«
Mit beängstigender Geschwindigkeit überwand die Frau die kurze Distanz zwischen ihnen und versetzte Belikow einen Tritt in die Kniekehle, der ihn zu Boden schleuderte. Dann schrie er auf, als sich ein Arm um seine Kehle legte und eine Klinge gegen die Haut direkt unter seinem linken Auge drückte.
»Sie vergessen sich, Doktor«, flüsterte sie und drückte die Spitze der Klinge so weit hinein, dass sie die Haut durchbohrte und Blut austrat. »Vielleicht sollte ich Ihnen Manieren beibringen?«
Belikow zitterte. Der Mann sah es und genoss Belikows Angst offensichtlich ebenso sehr wie die Frau. Einen schrecklichen, ekelerregenden Moment fragte sich Belikow, ob er sie mit dem Messer hantieren lassen würde.
»Wir wollen nichts überstürzen. Es gibt viel zu tun, und wir brauchen Sie einsatzfähig, Luka«, entschied der Mann. »Wir werden Ihnen nichts tun, es sei denn, Sie zwingen uns dazu.«
Die Klinge verschwand, und der feste Griff um seinen Hals löste sich. Belikow atmete aus, aber sein Herz hämmerte immer noch wie verrückt. Seine Entführer blickten auf ihn herab und wussten, dass sie ihn genau da hatten, wo sie ihn haben wollten. Sie wussten, dass er es nicht wagen würde, sich ihnen noch einmal zu widersetzen.
»Die Welt wird sich für immer verändern«, verkündete der Hüne. »Und Sie werden dazu beitragen, dass dies geschieht.«