23

»Die Aufzüge sind abgestellt«, erklärte Turner, während Becker sich an den Türen zu schaffen machte. »Und wir können die Blockade nicht außer Kraft setzen.«

»Wir fahren nicht runter«, antwortete Becker, schob seine Finger in den schmalen Spalt zwischen den Türen und zog sie auseinander.

Der Aufzugsschacht verschwand oben und unten in der Dunkelheit, aber an der gegenüberliegenden Wand war eine Zugangsleiter für Wartungsarbeiten angebracht.

»Wer auch immer für das hier verantwortlich ist, wartet nur darauf, dass wir aus der Vordertür herausspazieren. Dann sind wir leichte Beute.«

»Sind Sie sicher?«, fragte der Militärpolizist.

»Genau das würde ich jedenfalls tun«, versicherte ihm Becker.

»Verdammt!«

»Dalton, ich nehme an, der Lockdown hat einen Notruf ausgelöst?«

Sie nickte. »Es sei denn, sie haben ihn deaktiviert. Diese Leute scheinen ziemlich gerissen zu sein.«

»Dann müssen wir das Risiko eingehen. Wir klettern auf das Dach, warten ab und hoffen auf Rettung.« Becker deutete auf die Wartungsleiter, die ein paar Fuß von den Aufzugtüren entfernt war. »Geh, ich gebe dir Deckung.«

Sie wollte antworten, schien es sich dann aber anders zu überlegen.

»Du kommst aber sofort hinterher!«, befahl sie, jetzt leiser.

Becker nickte. Er hatte nicht die Absicht, hier auch nur einen Moment länger als nötig herumzulungern.

»Nun geh schon«, drängte er sie.

Dalton trat einen Schritt zurück, hütete sich, in den dunklen Schacht hinunterzusehen, beugte sich weit vor, packte die Leiter und begann zu klettern.

»Sie sind die Nächste, Flores«, sagte Becker und zog die Frau an den Rand des Schachts.

»Oh Gott«, murmelte sie und blickte unwillkürlich in die Tiefe. Sie schluckte schwer und sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. »Ich bin nicht schwindelfrei.« Ein plötzliches Krachen und das Knirschen von zerbrechendem Glas von weiter unten im Korridor sagte Becker, dass die Fenster des Labors gerade nachgegeben hatten.

»Denken Sie nicht dran. Sie schaffen das, machen Sie einfach!« Flores bekreuzigte sich und griff nach der Leiter, verfehlte die erste Sprosse, erwischte aber die zweite, und die Arme ruckten schmerzhaft unter ihrem Gewicht. Sie riss sich zusammen und zog sich langsam Sprosse für Sprosse hoch.

Bei dem Geräusch von Schritten im Korridor riss Becker seinen Kopf herum und sah einen infizierten Mann, der geradewegs auf ihn zusprintete.

»Mist!«, knurrte Becker.

Er sah sich nach etwas um, womit er sich verteidigen konnte. An der Wand gegenüber stand eine Reihe von billigen Holzschränken, die für allgemeinen Bürobedarf statt für gefährliche Laborchemikalien verwendet wurden. Er packte die Tür des nächstgelegenen Schranks am Griff und riss sie mit einem kräftigen Ruck hoch. Die Scharniere brachen aus ihrem schwachen Spanplattengehäuse. Becker nahm vage das Klirren von splitterndem Glas zu seiner Linken wahr, als er seinen improvisierten Schild gegen seinen Feind schwang.

Der Aufprall des Infizierten auf die Schranktür fühlte sich an wie das Tackling eines professionellen Linebackers. Becker wurde fast von den Füßen gestoßen. Er hörte das Knurren des Mannes, als der versuchte, sich einen Weg durch diese unerwartete Barriere zu bahnen. Becker wusste, dass er ihn nicht lange würde aufhalten können.

Ein zweiter Mann stürmte direkt an Becker vorbei. Vielleicht hatte er ihn übersehen, weil die Tür seine Sicht blockierte, vielleicht hatte er aber auch nur ein anderes Opfer entdeckt, stellte Becker mit dämmerndem Entsetzen fest, als der Mann sich in den Aufzugsschacht stürzte und Flores an der Taille erwischte. Die Ärztin wollte gerade nach der nächsten Sprosse greifen, als sie von dem plötzlichen Gewicht des knurrenden, bösartigen Dings, das sie packte und biss, überrascht wurde.

Flores schrie erschrocken auf, verlor den Halt und verschwand in der Dunkelheit, während sich ihr Mörder an sie klammerte. Becker hörte ihren gellenden Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall von weit unten.

Zähneknirschend stemmte sich Becker mit den Füßen gegen seinen Widersacher und drehte die Schranktür leicht seitlich, sodass er seinen Gegner gegen die Wand drücken konnte. Er spürte den heftigen Aufprall, als der Mann aufprallte und zwischen Tür und Wand eingeklemmt wurde. Becker musste schnell handeln. Er stützte sich mit einem Fuß ab, schob den anderen hinter den Fuß des Mannes und brachte ihn mit einem Stoß aus dem Gleichgewicht. Der Mann landete krachend auf dem Boden, niedergehalten von Becker und der Tür. Aber das verstärkte nur seine wütenden Versuche, sich zu befreien.

Becker steckte in der Klemme. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen, solange er den Infizierten festhielt. Denn sobald er zu fliehen versuchte, würde der Mann auf ihn losgehen. Becker sah, wie ein weiteres infiziertes Opfer in den Korridor stürmte. Ein großer, muskulöser Hüne richtete seinen Blick auf Becker und sprang direkt auf ihn zu. Becker spannte sich an, in Erwartung seines Endes. Seine einzige Hoffnung war, dass wenigstens Dalton es auf das Dach schaffte. Die Welt brauchte Menschen wie sie, falls sich diese Seuche ausbreiten sollte.

Becker sah, wie ein Schatten über ihn fiel, als eine Gestalt zwischen ihn und seinen vermeintlichen Angreifer trat. Sie hielt etwas in der Hand, und er sah das Aufblitzen von Stahl, als sie zum Schlag ausholte. Der Infizierte taumelte und fiel, Blut spritzte aus einer klaffenden Wunde an seinem Hals.

Die Gestalt ließ sich nicht beirren, wirbelte zu Becker herum und holte erneut mit seiner Waffe aus. Becker schloss die Augen und duckte sich, spürte, wie etwas nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbeizischte. Er hörte das dumpfe Klatschen von Metall auf Fleisch, das Knirschen brechender Knochen. Sein Gegner unter der Schranktür erschlaffte plötzlich. Als Becker die Augen öffnete, sah er den abgetrennten Kopf des Mannes etwa einen halben Meter von seinem Körper entfernt in einer sich ausbreitenden Blutlache.

Becker blickte hoch. Turner stand über ihm und hielt eine schwere Feueraxt in den Händen. Von der Klinge tropfte Blut.

»Sind Sie okay?« Turner half Becker auf.

»Ging mir nie besser«, log Becker, dann blickte er auf die Axt. »Erinnern Sie mich daran, Sie lieber nicht zu verärgern.«

»Zu spät.«

Ein weiteres Krachen im Laborbereich sagte Becker, dass bald weitere folgen würden. Turner war nicht in der Lage, eine weitere Welle abzuwehren.

»Sie sollten besser nicht für Runde zwei hierbleiben.«

Turner schüttelte den Kopf. »Sie gehen. Ich bleibe.«

»Was?«

Turner schluckte und zog seinen Ärmel zurück, sodass eine böse aussehende Wunde an seinem rechten Arm zum Vorschein kam. Man musste kein Genie sein, um zu erraten, was passiert war.

»Das Boot kann ich wohl vergessen«, sagte er und lächelte schwach. »Raus hier, Becker. Ich halte sie auf.«

Becker machte einen Schritt auf ihn zu. »Jack, ich …«

»Verschwinden Sie einfach!«, forderte Turner und schubste ihn in Richtung Aufzugsschacht. »Finden Sie die Bastarde, die das hier angerichtet haben, und erledigen Sie sie. Verstanden?«

Becker nickte. Er würde sich nicht beirren lassen. Und für weitere Diskussionen war ohnehin keine Zeit, als der nächste Infizierte um die Ecke des Labors bog. Sein letzter Blick galt Turner, der sich seinen Feinden entgegenstellte, bevor Becker über den leeren Schacht sprang und sich mit der Hand an den Sprossen der Leiter festhielt. Er blickte nach oben und sah Dalton etwa zehn Fuß über sich.

»Wo ist Turner?«, fragte sie.

Becker schüttelte nur den Kopf. Und bevor sie weiter fragen konnte, deutete er den Schacht hinauf. »Los! Kletter weiter!«

Schnell erklommen sie die zwei Stockwerke bis zum obersten Punkt des Schachts, wo sich die Aufzugsmechanik befand. Ein paar dumpfe Schläge verrieten Becker, dass weitere Feinde versucht hatten, ihnen zu folgen, aber nur kopfüber in den Schacht gestürzt waren, in den sicheren Tod.

Becker zog sich auf den Metallsteg, der die große Trommelwinde umgab, und half Dalton neben sich hoch. Beide waren außer Atem und schweißgebadet vor Anstrengung, aber sie waren wenigstens noch am Leben.

Dalton sah ihn an. Selbst in der Düsternis des unbeleuchteten Fahrstuhlschachts bemerkte er ihre erschütterte Miene.

»Sie sind alle tot …«, sagte sie langsam, entsetzt über den Verlust. »Alle.«

Darüber wollte Becker im Moment nicht reden. Nicht bevor sie weit weg von diesem Ort und in Sicherheit waren.

»Wir leben noch, und das sollten wir nutzen«, erwiderte er und geleitete sie zu einem Lüftungsgitter, das nach draußen führte. Ein paar kräftige Tritte genügten, um es zu lösen. Sie kletterten auf den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.

Der Hubschrauber, der sie hierhergebracht hatte, war längst verschwunden, und das Dach war verlassen. Es gab keine Möglichkeit, von hier aus auf die Straße hinabzuklettern, und es wäre selbstmörderisch, sich wieder in das Gebäude zu wagen.

»Was jetzt?«, fragte Dalton.

Die Antwort auf ihre Frage war ein heftiger Schlag gegen die Zugangstür zum Treppenhaus, der den Stahl erbeben ließ.

»Ihr wollt mich wohl verarschen!«, murmelte Becker und sah sich nach etwas um, das er als Waffe benutzen konnte. Sie waren hier draußen völlig wehrlos.

Dalton sah sich ebenfalls um und entdeckte einen Hubschrauber, der langsam über der Stadt flog, vielleicht eine halbe Meile entfernt. Sogar hier auf dem Dach hörte sie das charakteristische Wummern der Rotorblätter und das Heulen des Turbinentriebwerks. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie schwören können, dass er langsam über diesem Gebäude kreiste, als wartete er auf etwas.

»Das glaube ich nicht«, sagte Dalton, als der Heli plötzlich abschwenkte und auf sie zusteuerte, als ob er landen wollte. »Das kann doch nicht schon unsere Rettung sein?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Becker, als der Hubschrauber auf das Gebäude zuflog. Er sah, dass die Maschine neutral dunkelgrau lackiert war, ohne irgendwelche Firmenlackierung oder auch nur ein Rufzeichen am Heck.

»Stell dich hinter mich!«

Dalton hätte fast aufgelacht. »Warum? Glaubst du wirklich, dass du mich vor so was schützen kannst?«

Der Heli näherte sich rasch. Die Nase hob sich kurz, als er die Geschwindigkeit drosselte, bevor er in der Mitte des Hubschrauberlandeplatzes aufsetzte. Sie mussten ihre Köpfe mit den Armen vor dem gewaltigen Abwind schützen. Die Seitentür wurde aufgeschoben, und Becker ließ seine Hände sinken, als ein paar Bewaffnete in schwarzem Körperpanzer auf den Landeplatz sprangen und mit ihren Waffen das Dach gegen Bedrohungen sicherten. Sie sagten nichts, womit Becker gerechnet hatte. Sie waren eine Schutztruppe, die das Gelände sichern sollte, bevor ihr Anführer es riskierte, sich zu zeigen. Tatsächlich dauerte es auch nicht lange, bis er auftauchte.

»Wie es scheint, können Sie eine Mitfahrgelegenheit gebrauchen«, stellte Sergej Golowko fest und betrachtete die beiden Überlebenden.

Becker hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, er wäre froh, Golowko in diesem Moment zu sehen, oder dass er den Absichten des Mannes vertraute. Aber er glaubte auch fest an das alte Sprichwort: Im Sturm tut es jeder Hafen .

Ein weiterer dumpfer Schlag gegen die Tür des Treppenhauses entschied die Angelegenheit. »Wir verschwinden jetzt, mit oder ohne Sie«, verkündete Golowko und wandte sich ab. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie an Bord des Hubschraubers, flankiert von zwei weiteren Bewaffneten. Golowko stieg neben ihnen ein, gefolgt von den übrigen Mitgliedern seines Sicherheitsteams. Dann hob der Hubschrauber ab, die Turbinen heulten auf, und die Rotoren peitschten die Luft.

Becker und Dalton erhielten jeweils ein Headset, damit sie sich in dem Lärm der Maschine unterhalten konnten. Aber bevor sie eine Frage stellen konnten, gab Golowko seinen Untergebenen einen knappen Befehl auf Russisch.

»Wir sind so weit. Tun Sie es.«

Einer der Sicherheitsleute nickte und öffnete einen Metallbehälter, der in der Mitte des Abteils an der Decke befestigt war. Er zog ein langes klobiges und olivgrün lackiertes Metallrohr mit einem einfachen Griff, Visier und Abzugsmechanismus an einem Ende heraus.

Becker hatte noch nie live erlebt, wie eine RPG -29 abgefeuert wurde. Er wusste nur, dass es sich um eine höchst wirksame Panzerabwehr- und Anti-Personen-Waffe handelte, die es schon seit fast dreißig Jahren gab. Sie hatte keine elektronische Zielvorrichtung, die gestört werden, und keine Ortungssysteme, die man ausschalten konnte. Man nahm einfach sein Ziel ins Visier und drückte ab. Der Kreiselstabilisator des Sprengkopfs erledigte den Rest.

Als Dalton sah, wie der Sicherheitsbeamte die Waffe aus der offenen Luke des Hubschraubers richtete, schrie sie auf und versuchte, ihn daran zu hindern. Aber einer seiner Kameraden hielt sie zurück.

»Nicht, das können Sie nicht tun!«, protestierte sie. »Unsere ganze Forschung ist …«

Er feuerte die Rakete ab, ohne sie zu beachten. Das Projektil schoss aus der Mündung des Abschussrohrs, bevor sein eigener Antrieb weniger als eine Sekunde später ansprang. Es raste auf das Gebäude zu und schlug in einem der Fenster im unteren Stockwerk ein.

Die RPG -29 konnte je nach Bedarf mit unterschiedlichen Ladungen ausgestattet werden, von panzerbrechenden Geschossen zur Bekämpfung feindlicher Kampffahrzeuge bis hin zu Splitterraketen, die Infanteristen töteten oder verstümmelten, und sogar mit Rauch- und Giftgassprengköpfen. In diesem Fall folgte auf einen grellen roten Blitz eine gewaltige Erschütterung, die sich bis in den Kern des Gebäudes fortpflanzte, bevor schließlich in einem schrecklichen Inferno alle Türen und Fenster nach außen explodierten.

Ein thermobarischer Sprengkopf , dachte Becker. Diese Kombination aus Napalm und hochexplosivem Sprengstoff saugte allen verfügbaren Sauerstoff an und erzeugte einen Feuersturm, der alles in seinem Explosionsradius zerstörte und verbrannte. Es gab nur wenige effektivere Wege, sämtliche lebenden Organismen innerhalb eines geschlossenen Gebäudes zu töten, als darin einen thermobarischen Sprengkopf hochgehen zu lassen. Was Golowko zweifellos wusste.

»Was zum Teufel, glauben Sie, machen Sie da?«, fuhr Dalton ihn wütend an.

»Ich tue meine Pflicht, Miss Dalton«, erwiderte der russische Agent, während er die Zerstörung unter sich betrachtete. Offenbar war er überzeugt, dass er seine Aufgabe erfüllt hatte. »Ich sorge dafür, dass das, was sich in diesem Gebäude befindet, nicht weiter ausbreitet.«

Dalton hielt einen Moment inne. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, über jeden Bescheid zu wissen, der in diese … Situation verwickelt ist.«

Seine Wortwahl war ihr nicht entgangen. »Und was für eine Situation ist das?«

»Eine Situation, die ernste Folgen für uns alle haben könnte, wenn sie nicht schnell geklärt wird.« Golowko drehte sich auf seinem Sitz um und betrachtete die beiden unfreiwilligen Passagiere. »Sie beide haben ein Händchen fürs Überleben, wie es scheint. Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben.«

»Genug mit diesem Mist!«, fauchte Dalton, die von den Emotionen dieser Nacht übermannt wurde. »Menschen sind wegen dieser ›Situation‹ gestorben. Gute Menschen. Ich will Antworten.«

Golowko nickte, unbeeindruckt von ihrer Feindseligkeit. »Sie werden sie bekommen. Sobald wir festgestellt haben, dass Sie nicht infiziert sind.«

Becker war sich bewusst, dass die Sicherheitskräfte ihre Waffen griffbereit hielten und sie zweifellos einsetzen würden, wenn es nötig wäre.

»Wo bringen Sie uns hin?« Nach Beckers Erfahrung war es unwahrscheinlich, dass eine Beförderung an einen unbekannten Ort in einem nicht gekennzeichneten Hubschrauber durch ausländische Geheimdienstmitarbeiter zu einem positiven Ergebnis führen würde.

Der Russe bedachte ihn mit einem Blick, der schwer zu deuten war, doch Becker hatte den Eindruck, dass Golowko seine Gedanken erraten hatte.

»Entspannen Sie sich, Mr. Becker. Wollten wir Ihren Tod, gäbe es einfachere Wege.«

Auch daran hegte Becker keinen Zweifel.