1. September 2019, Flughafen Oğuzeli, Türkei
Kaum war die Treppe des Gulfstream-500-Executive-Jets ausgefahren, als Anton Kincaid sie auch schon zu der wartenden Gruppe von WHO - und türkischen Regierungsbeamten hinunterstürmte. Von seiner üblichen gelehrten Professionalität war ihm nichts mehr anzumerken.
Er hatte die Nachricht von dem Angriff auf die medizinische Einrichtung gerade erhalten, als sich sein Flugzeug im Landeanflug auf den Flughafen befand, und seitdem hatte er nicht viel mehr in Erfahrung bringen können. Der Leiter der kleinen Delegation war ein Mann namens Paul Dupont, ein ergrauter und etwas zerzaust aussehender Franzose, mit dem Kincaid im Lauf der Jahre häufig zusammengearbeitet hatte. Ein guter Mann, dessen zerstreut wirkendes Äußeres einen scharfen und analytischen Verstand verbarg. Er hatte sich in Krisensituationen als besonders nützlich erwiesen.
Und das hier war zweifellos eine Krise.
Dupont reichte Kincaid die Hand, als dieser sich ihm näherte. »Anton, es ist gut, Sie …«
»Was wissen wir bis jetzt?«, unterbrach ihn Kincaid und ignorierte die ausgestreckte Hand.
Dupont runzelte kurz die Stirn, trat dann aber schnell an die Seite des Direktors und begleitete ihn zu einem wartenden Geländewagen, der in einiger Entfernung parkte. Kincaid war viel zu lange von den Ereignissen abgekoppelt gewesen und wollte vor Ort sein. Dabei würde sich ihm nichts und niemand in den Weg stellen.
»Wir erhalten immer noch Berichte«, fuhr Dupont fort, »aber nach dem, was wir bisher gehört haben, wurde die gesamte Einrichtung zerstört.«
»Details, Paul!«, bellte Kincaid und zog einige besorgte Blicke der Umstehenden auf sich. Der ruhige und nachdenkliche Direktor regte sich nur selten auf, aber wenn, bot er einen einschüchternden Anblick. »Wie ist das passiert?«
»Wir wissen, dass sie vor etwa dreißig Minuten durch die Sicherheitsschleuse gegangen sind. Etwa zur gleichen Zeit haben wir den Kontakt zu ihnen verloren. Die gesamte Kommunikation ist abgebrochen.«
Kincaid blickte ihn von der Seite an. »Wurde sie absichtlich unterbrochen?«
»Das glauben wir. Kurze Zeit später wurde eine starke Explosion gemeldet. Die örtliche Feuerwehr ist zwar vor Ort, aber es sieht so aus, als ob die ganze Anlage ein Totalschaden wäre.«
»Die Anlage ist mir egal!«, schnauzte Kincaid. »Was ist mit den Überlebenden? Hat es jemand geschafft rauszukommen?«
Dupont ahnte den Grund für seine Besorgnis. Lori Dalton war ein Protegé Kincaids und hatte etliche Jahre unter ihm gearbeitet. Man munkelte, Kincaid behandelte sie fast wie eine Tochter. Die Aussicht, sie heute Abend verloren zu haben, war für ihn wahrscheinlich schwer zu verkraften.
»Wir sind uns nicht sicher, aber …«
Kincaids normalerweise kühler und nachdenklicher Blick wurde bissig und durchdringend. »Aber …?«
»Nach Zeugenaussagen ist kurz vor der Explosion ein Hubschrauber auf dem Dach gelandet. Es wäre möglich, dass er Überlebende aufnahm und sie evakuierte.«
Kincaid verlangsamte abrupt sein Tempo. »Ein Helikopter?«, wiederholte er. »Einer von unseren?«
»Das glauben wir nicht. Wir stehen deswegen mit der türkischen Flugsicherung in Kontakt, aber die haben für diese Zeit keine Flugpläne in dem Gebiet. Es muss sich um einen nicht registrierten Helikopter gehandelt haben.«
»Hubschrauber machen sich nicht einfach unsichtbar.« Kincaid riss die Tür des Geländewagens auf und sprang mit einer Energie hinein, die in deutlichem Gegensatz zu seinem Alter stand. »Ich will wissen, wohin der Hubschrauber geflogen ist, wer an Bord war und wem er gehörte.«
»Wir werden ihn finden, mein Freund.« Dupont setzte sich neben ihn und legte seinem Kollegen beruhigend die Hand auf die Schulter. »Lori ist so zäh und einfallsreich wie kein anderer. Wenn es jemand lebend aus dem Gebäude schafft, dann sie.«
Er bemerkte ein Flackern in Kincaids Augen hinter seiner Brille. Einen Moment des Nachdenkens, der Traurigkeit, vielleicht der Schuld. Die Gewissensbisse eines Mannes, dessen Entscheidungen vielleicht Leben gekostet haben.
»Bringen Sie mich dorthin!«, befahl er und zwang seinen Verstand, sich wieder zu fokussieren. »Ich will es selbst sehen.«