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Von all den Dingen, die Becker in diesem Moment von Kincaid erwartet hatte, gehörte dies nicht dazu.

»Was soll das heißen? Warum?«

Kincaid ignorierte ihn und wandte sich an den Wachmann. »Würden Sie bitte seine Zelle aufschließen? Dieser Gefangene wird in meine Obhut entlassen.«

Der große Mann runzelte die Stirn. »Sir, ich kann diesen Mann nicht einfach freilassen. Ich brauche eine Genehmigung von …«

»… Ihrem kommandierenden Offizier«, beendete Kincaid für ihn. Er griff in seine Tasche und reichte ihm ein ausgedrucktes und unterschriebenes Dokument. »Ist das ausreichend?«

Der Wachmann las den schriftlichen Entlassungsbefehl mindestens zweimal durch, nach der Zeit zu urteilen, die er dafür brauchte, und nickte schließlich, wenn auch widerwillig. »Natürlich, Sir.«

In Sekundenschnelle hatte er seinen Schlüsselbund herausgefischt und die Zellentür aufgeschlossen. Becker trat einen Schritt zurück, als sie sich öffnete, und hatte immer noch Schwierigkeiten, diese bizarre Abfolge von Ereignissen zu verarbeiten.

»Sie können gehen«, sagte der Wachmann missmutig, dem die Situation offensichtlich nicht gefiel.

»Verdammt, Mann, dabei habe ich gerade angefangen, mich hier wohlzufühlen«, erwiderte Becker lächelnd.

»Die Zeit drängt, Becker!«, fuhr Kincaid ihn an. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und marschierte durch den Zellenblock in Richtung Ausgang.

Becker ließ sich nicht zweimal bitten. Er trat dankbar aus der Zelle und folgte dem älteren Mann mit Dalton an seiner Seite.

»Ist das der Moment, in dem Sie mich vor das Erschießungskommando führen?«, erkundigte er sich und musste sich anstrengen, um mit Kincaids langen Schritten mitzuhalten.

»Nein, das ist der Moment, in dem Sie den Mund halten und mir folgen«, gab Kincaid über die Schulter zurück.

Dalton war ebenso perplex. »Anton, was ist hier los? Was hat das alles zu bedeuten?«

»Es hat funktioniert.« Kincaid fuhr zu Becker herum. »Ich will nicht so tun, als würde ich Ihren halb garen Plan gutheißen, aber irgendwie, durch irgendeine Laune des Schicksals … haben Sie vielleicht eine Spur für uns aufgetan.«

Becker merkte, wie sehr es den Mann schmerzte, das zuzugeben, aber das war ihm gleichgültig. Sein Herz setzte bei dieser Nachricht einen Schlag aus, und an Daltons vernehmlichem Einatmen war zu erkennen, dass es ihr ähnlich ging.

»Was für eine Spur?«

Kincaid schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Folgen Sie mir!« Er hielt inne, bevor er hinzufügte: »Und versuchen Sie in der Zwischenzeit, nichts zu vermasseln!«

Die Atmosphäre in der Einsatzzentrale hatte sich im Vergleich zum letzten Mal, als Becker hier gewesen war, stark verändert. Jetzt herrschte eine unverkennbar positive Aufregung in dem Büro. Etwas hatte sich verändert. Etwas Wichtiges.

Sie wurden in den Konferenzraum geführt, in dem sie sich zuvor unterhalten hatten und der inzwischen eiligst für eine Videokonferenz eingerichtet worden war, zumindest dem Flachbildschirm am Ende des langen Tisches nach zu urteilen. Mehrere Mitarbeiter verschiedener Behörden waren ebenfalls anwesend, die alle mit ihren Handys und Laptops beschäftigt waren, obwohl sie ihre Aktivitäten kurz unterbrachen, als Dalton und Becker den Raum betraten.

»Weitermachen!«, befahl Kincaid scharf und sachlich, während er sich setzte. »Die Zeit ist knapp, also fangen wir an. Sind wir online?«

Eine der Militärtechnikerinnen, die die Videoverbindung verwaltete, blickte von ihrem Computer auf. »Die Verbindung steht, Sir. Er spricht über einen zivilen Uplink, also kann ich nicht allzu viel …«

»Ersparen Sie mir die Details«, unterbrach Kincaid sie ungeduldig. »Fahren Sie einfach den Link hoch.«

Sie errötete und blickte auf ihren Computer. »Ja, Sir.«

»Können Sie mir sagen, worum es hier geht?«, fragte Becker.

Kincaid sah ihn an. »Er hat ausdrücklich verlangt, mit Ihnen zu sprechen, Becker. Wie ich schon sagte, versuchen Sie, die Sache nicht zu vermasseln. Ich muss Sie ja wohl nicht daran erinnern, was von diesem Gespräch abhängt.«

Becker hatte keine Gelegenheit, noch weitere Fragen zu stellen. Er beobachtete, wie der Bildschirm kurz flackerte und schließlich ein leicht körniges, verpixeltes Bild zeigte, das eindeutig über eine minderwertige Internetverbindung übertragen wurde. Aber das spielte keine Rolle; was zählte, war das Gesicht, das ihn vom Bildschirm anstarrte.

Er war sich nicht sicher, wen oder was er zu sehen erwartet hatte, einen zwielichtigen Regierungsagenten vielleicht, der eine geheime Spur gefunden hatte, oder einen hartgesottenen Special-Forces-Operator, der über etwas gestolpert war, das er nie hätte sehen sollen, oder vielleicht sogar einen engagierten Forscher, dessen Streifzüge etwas zutage gefördert hatten, das für die aktuelle Krise relevant war. Aber all das war es nicht.

Das Gesicht auf dem Bildschirm war sehr alt, vielleicht schon an die achtzig Jahre, die Haut war gefurcht und gezeichnet von einem langen Leben mit wenig Luxus. Die lange, ausgeprägte Nase, der breite und volle Mund, der kräftige Kiefer und die dunklen, mandelförmigen Augen erinnerten Becker an amerikanische Ureinwohner. Der Eindruck wurde durch das lange, einst schwarze, jetzt aber deutlich ergraute Haar des Mannes verstärkt, das zu einem Zopf zurückgebunden und in einem einfachen Mittelscheitel gekämmt war.

»Sie sind dran, Sir«, sagte der Techniker und nickte Kincaid zu.

Er verschwendete keine Zeit. »Sir, mein Name ist Anton Kincaid, ich bin Vertreter der Weltgesundheitsorganisation. Wir untersuchen derzeit die Anschläge in London und Washington …«

»Ich habe die Nachrichten im Fernsehen gesehen«, unterbrach ihn der Mann. Er sprach langsam und präzise und mit einem stark ausgeprägten Akzent. Seine dunklen Augen blickten Becker an, scharfsinnig und klar trotz seines fortgeschrittenen Alters. »Und ich sah, wie Sie um Hilfe baten. Becker war Ihr Name, richtig?«

»Das stimmt, Sir«, antwortete Becker und widerstand dem Drang, sich in seinem Stuhl zu straffen. Der Mann besaß eine natürliche Autorität.

Belustigung huschte über sein Gesicht. »Sie brauchen mich nicht ›Sir‹ zu nennen, junger Mann. Mein Name ist Okischew.«

»Okischew«, wiederholte Becker. Es war schon eine Weile her, dass ihn jemand mit »junger Mann« angesprochen hatte.

»Ich bin … Stammesältester, ich glaube, das ist der Begriff, den Sie verwenden. Mein Volk lebt im Chanty-Mansi Okrug, in der Region Tjumen.«

Einer der Militärangehörigen, vermutlich ein Experte für Russland, meldete sich zu Wort. »Es ist eine halb autonome Region im südlichen Ural. Wie die Stammesreservate, die wir zu Hause eingerichtet haben.«

»Man sagte mir, Sie wollten persönlich mit mir sprechen«, drängte Becker, der unbedingt in Erfahrung bringen wollte, womit ihnen dieser Mann helfen konnte. »Was wissen Sie über das Djatlow-Virus? Haben Sie an dem sowjetischen Biowaffenprogramm mitgearbeitet?«

Okischew lächelte bedauernd. »Nein. Ich hatte in meinem Leben noch nie etwas mit der russischen Regierung zu tun, und ich hatte sehr gehofft, dass es so bleiben würde.« Sein Lächeln verblasste, als er sich kurz sammelte, bevor er fortfuhr: »Aber ich kenne den Namen, den Sie bei Ihrem Gespräch genannt haben. Djatlow. Diesen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört.«

Becker beugte sich vor. »Reden Sie weiter.«