1. Februar 1959, Ural-Gebirge
Okischew bewegte sich schnell durch die schneebedeckten Kiefern und suchte einen Weg bergab, wich dabei instinktiv Wurzeln und anderen Hindernissen aus, die unter dem frisch gefallenen Schnee lauerten. Er nahm Anlauf und sprang über einen umgestürzten Baum, der Monate zuvor von einem Sturm umgerissen worden war. Geschickt landete er auf der anderen Seite. Seine Beine brannten von der ständigen Anstrengung, und die kühle Bergluft stach ihm in der Kehle, als er tief einatmete. Der Bogen und der Köcher mit den Pfeilen schlugen ihm bei jedem Schritt an die Schulter, doch er behielt sein schnelles Tempo bei, begierig darauf, weiter hinunterzukommen.
Ein Schneesturm stand bevor, ein schlimmer Schneesturm. Er kannte diese Berge genau und wusste nur zu gut, wie schnell sich das Wetter gegen unvorsichtige Reisende wenden konnte. Was als heller, klarer Tag begonnen hatte, ideal für die Jagd, hatte sich allmählich verdunkelt, als dichte Wolken aufzogen, und die Temperatur war gefallen, als der Wind auffrischte. Er hätte früher umkehren sollen, das wusste er, aber er hatte ein Reh durch die dichten Wälder um den Talschluss verfolgt und die Jagd nicht aufgeben wollen. Er war vierzehn Jahre alt, immer noch fasziniert von dem Nervenkitzel, allein zu jagen, und begierig darauf, sein Können zu beweisen.
Doch heute schien es ihm bestimmt zu sein, mit leeren Händen zurückzukehren. Er stellte sich schon vor, wie seine Mutter wütend über seine Abwesenheit schimpfte, während sein Vater im Stillen über das immer schlechter werdende Wetter grübelte und hoffte, dass er sich nicht auf die Suche nach seinem tollkühnen Sohn machen musste.
Vor ihm lichteten sich die Bäume. Er ging weiter, begierig darauf, der bedrückenden Düsternis des Waldes zu entkommen. Als er auf das offene Gelände und den Grat zwischen zwei Bergen kam, warf er instinktiv einen Blick hinauf zum Gipfel des Cholat Sjachl.
Allein der Name jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Cholat Sjachl – der Tote Berg. Ein Ort, den die alten Leute seines Dorfes mit großer Vorsicht und Vorahnungen betrachteten und von dem sie nur in gedämpften Tönen sprachen. Es war ein verfluchter Ort, an dem sich böse Geister aufhielten. Ein Ort, der jedem, der ihn betrat, Unglück und Elend brachte. Ein Ort, der am besten ungestört blieb.
Okischew war sich nicht sicher, wie viel von dem Gerede über Geister und Omen er wirklich glaubte – es schien, dass die jüngere Generation der Mansi immer weniger an den Ängsten und dem Aberglauben ihrer Vorfahren festhielt. Aber er wusste, dass der Cholat Sjachl, aus welchem Grund auch immer, ein Ort war, den man meiden sollte.
Keine Jagdgesellschaft wagte sich auf seine felsigen, unzugänglichen Hänge, und kein wagemutiger Entdecker schien geneigt, den fernen schneebedeckten Gipfel zu erreichen. Manchmal sprachen Okischew und die anderen Jugendlichen in ihrem Dorf davon und schmiedeten wilde Pläne, sich dorthin zu schleichen und sich mutig den versteckten Gefahren in den düsteren, windgepeitschten Pässen zu stellen. Es war jedoch nur Gerede und nichts weiter. Keiner von ihnen würde jemals tatsächlich dorthin gehen. Heute blickte Okischew in Richtung dieser dunklen, bedrohlichen Festung aus Felsgestein, wie er es immer tat, als wollte er eine unausgesprochene Furcht beschwichtigen, dass sie sich irgendwie verändert haben könnte. Als wäre sie ein lebendiges Wesen, das ihn holen könnte.
Aber das tat er nicht. Der Berg war so wie immer. Groß, dunkel und imposant, sein Gipfel in tief hängende Gewitterwolken gehüllt. Aber dennoch, heute war er irgendwie anders. Und dieses Irgendwie ließ Okischews Herz rasen.
Eine kleine Gruppe dunkler Flecken, die aus dieser Entfernung wie eine Reihe von Ameisen aussahen, kämpfte sich durch den windverwehten Pass. Durch das wirbelnde Schneegestöber hindurch konnte Okischew vielleicht zehn Personen ausmachen. Eine Wandergruppe, ihrem Aussehen nach. Sie stapften auf seine Position zu, zusammengekauert gegen das raue Wetter, das ihnen zusetzte. Und sie kamen aus der Richtung des Cholat Sjachl.
Waren sie bereits dort oben gewesen? Oder hatten sie vor, ihn zu besteigen, sobald das Wetter nachließ? Woher kamen sie? Was wollten sie hier?
Okischews Stamm lebte in einer so isolierten Region, dass er kaum Kontakt zur Außenwelt hatte. In dieser abgelegenen Wildnis gab es nur wenig von Wert, sodass die sowjetische Regierung die Region und ihre Bewohner größtenteils in Ruhe ließ.
Aber heute nicht. Okischew zögerte einen Moment, hin- und hergerissen, ob er sich ihnen nähern oder sie links liegen und sich auf den Weg ins Tal machen sollte.
Die Entscheidung schien wie von selbst zu fallen. Ehe er sich’s versah, bewegte sich Okischew auf sie zu, wobei er sich instinktiv an die spärliche Deckung hielt, die der lichter werdende Baumbestand bot, bis die Gruppe allmählich in Sichtweite kam.
Es waren eindeutig Fremde, das stellte er fest, als er sich näherte. Ihre Kleidung und Ausrüstung waren ihm unbekannt, und die Gesprächsfetzen, die er hörte, waren auf Russisch. Ihm fiel auch auf, dass einer aus der Gruppe weit hinter den anderen zurückblieb und nur langsam und unsicher ging, als sei er krank oder verletzt.
Okischew spürte, wie ein Knoten aus Angst sich in seinem Magen zusammenzog. Hatte der Zustand dieses Mannes etwas mit Cholat Sjachl zu tun? Waren sie dort oben auf eine unbekannte Macht gestoßen, vor der sie nun flohen?
Okischew beschloss, sich zu erkennen zu geben, und tauchte etwa zwanzig Meter vor der Gruppe aus der Deckung auf. Der Anführer entdeckte ihn sofort und stieß einen Warnruf an die anderen aus.
»Es ist alles in Ordnung. Haben Sie keine Angst«, sagte Okischew und kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu. »Mein Name ist Okischew. Wer sind Sie?«
Der Mann sprach mit ihm, aber Okischew hatte nie Russisch gelernt. Nur ein paar der Männer im Dorf sprachen es, um mit Regierungsbeamten zu verhandeln, die gelegentlich hier auftauchten. Und nur wenige der jungen Leute hatten Interesse, es zu lernen.
Okischew deutete auf den Berg hinter ihnen. »Warum seid ihr hier? Seid ihr auf diesen Berg gegangen? Dort oben ist es nicht sicher.«
Der Mann redete wieder und wirkte sowohl unruhig als auch etwas feindselig. Okischew versuchte verzweifelt, sich verständlich zu machen. Seine Ankunft schien sich jedoch auf die gesamte Gruppe auszuwirken, und mehrere von ihnen scharten sich um ihn. Darunter befand sich auch der Mann, in dem er den Anführer vermutete, da die anderen ihn mit Respekt zu behandeln schienen.
Sie unterhielten sich kurz und drängend, bevor ein älterer Mann vortrat.
»Was willst du?«, fragte er in gebrochenem, primitivem Mansi.
Erleichterung durchflutete ihn, als er merkte, dass er jetzt endlich verstanden wurde.
Erneut deutete Okischew auf den wolkenverhangenen Gipfel. »Dies ist ein gefährlicher Ort. Es ist ein verfluchter Berg. Ihr solltet nicht hier sein.«
Als der Mann seine Worte übersetzte, tauschte die Gruppe zweifelnde und auch beunruhigte Blicke aus. Sie sahen aus, als ob sie etwas wüssten, was er nicht wusste.
»Wie heißt du?«, fragte der Anführer der Gruppe. Der ältere Mann übersetzte.
»Okischew.«
»Okischew. Mein Name ist Igor. Igor Djatlow«, erklärte er. »Wir sind nur eine Wanderexpedition, wir wollen hier keinen Ärger.«
»Dann solltest du gehen. Menschen sollten nicht auf diesen Berg gehen. Hast du ihn bestiegen?«
»Wir haben uns im Schnee verirrt. Wir dachten, wir seien auf der anderen Seite des Passes. Wir sind umgekehrt, als wir unseren Fehler bemerkten.« Djatlow schien nachzudenken. »Sind dort in letzter Zeit irgendwelche Stammesangehörige von dir verschwunden? Irgendwelche Frauen?«
Okischew runzelte die Stirn. »Nein. Warum? Was habt ihr gesehen?«
»Wir haben die Leiche einer Frau gefunden, als einer aus unserer Gruppe dort oben in eine Höhle gestürzt ist. Sie trug Kleidung wie eure Stammesangehörigen.«
Okischew dachte darüber nach. Soweit ihm bekannt war, war noch nie jemand aus seinem Dorf verschwunden. »Meine Leute gehen nicht dorthin.«
Bevor Djatlow ihn weiter befragen konnte, gab es einen Aufruhr im hinteren Teil der Gruppe. Als Okischew sich umschaute, sah er, dass der krank aussehende Mann zusammengebrochen war und seine Kameraden sich um ihn scharten und ihren Anführer um Hilfe riefen.
Djatlow ließ Okischew stehen und wandte sich ab, um sich um den kranken Mann zu kümmern, wobei er seinem Übersetzer einige eilige Anweisungen zurief.
»Du solltest jetzt gehen!«, sagte der Mann.
»Warte! Was habt ihr da oben gesehen?«, drängte Okischew. »Was ist mit dem Mann los?«
Zu seiner Überraschung hakte der Übersetzer den Eispickel von seinem Gürtel und beäugte ihn scharf, als er einen Schritt nach vorne machte.
»Ich sage es nicht noch einmal. Verschwinde jetzt.«
Okischew mochte noch jung sein, aber er wusste, wann sich ein Kampf anbahnte. Und bei zehn gegen einen hatte er keine Chance zu gewinnen. Widerwillig zog er sich zurück und rief ihnen im Gehen eine letzte Warnung zu, obwohl er spürte, dass sie auf taube Ohren stoßen würde. Das Letzte, was er von der Gruppe sah, war ein Haufen besorgter Freunde, die sich um einen gefallenen Kameraden versammelt hatten, während der ältere Mann immer noch seine Axt in der Faust hielt und ihn wachsam beobachtete.
Schließlich wandte sich Okischew ab, um den Weg zu seinem Dorf zurück fortzusetzen. Er wusste, dass er sich beeilen musste, wenn er es schaffen wollte, bevor der Sturm mit voller Wucht zuschlug. Hinter ihm blieb die Gruppe immer weiter zurück, bis sie schließlich im Schneesturm verschwand.
»Das war das Letzte, was ich von ihnen gesehen habe«, beendete Okischew traurig seinen Bericht. »Das nächste Mal hörte ich ein paar Wochen später davon, als russische Militärs in unser Dorf kamen und sich nach der verirrten Wandergruppe erkundigten.«
»Was haben Sie ihnen gesagt?«, fragte Becker.
»Nichts«, gab der alte Mann zu. »Meine Familie hat mich zur Verschwiegenheit verpflichtet und mir gesagt, dass die Russen jeden Vorwand nutzen würden, um unsere Leute für das Geschehene verantwortlich zu machen. Damals war das durchaus üblich.«
Becker sagte nichts dazu, obwohl er vermutete, dass die Eltern von Okischew recht daran getan hatten, ihren jugendlichen Sohn aus der nach den Vorfällen eingeleiteten staatlichen Untersuchung herauszuhalten. Ein nomadisches Stammesvolk, das am Rande der Gesellschaft lebte, wäre ein geeigneter Sündenbock für die Katastrophe gewesen und hätte ideal dazu beitragen können, die offenen Fragen rund um das wachsende Geheimnis zu vertuschen.
»Also hielt ich den Mund und tat mein Bestes, um zu vergessen, was mit diesen armen Menschen geschehen war. Über sechzig Jahre lang habe ich niemandem erzählt, was ich an diesem Tag gesehen habe. Bis heute.«
Becker konnte sich nur vorstellen, wie es sich anfühlen musste, ein solches Geheimnis so lange für sich zu behalten. Mehr noch, er glaubte einen Unterton von Schuld in der Stimme des Mannes zu hören, als ob er sein Schweigen als eine Art Sünde ansah, die es zu sühnen galt. Okischew hatte das Gesicht eines Mannes, der oft mitten in der Nacht aufgewacht war, weil sein Gewissen ihn geweckt hatte.
»Ich bin froh, dass Sie sich jetzt gemeldet haben«, sagte Becker.
Der alte Mann nickte.
»Diese Frau, die Djatlow erwähnt hat …« Dalton sah ihn aufmerksam an. »Was wissen Sie über sie?«
Okischew schüttelte langsam den Kopf. »Sehr wenig, fürchte ich. Wenn sie auf dem Berg verschwunden ist, gehörte sie gewiss nicht zu unserem Stamm.«
»Vielleicht ein anderer Bergwanderer?«
»Dazu kann ich nichts sagen, ohne mehr zu wissen, aber Djatlow behauptete, sie habe Kleidung wie mein Volk getragen. Ich kann mir vorstellen, dass unsere Stämme für ihn alle gleich aussahen.«
»Hat sonst noch jemand nach ihr gesucht?«, hakte Becker nach.
»Keiner meiner Leute ist danach noch in die Nähe des Berges gegangen«, erklärte Okischew. »Das ganze Gebiet war lange Zeit gesperrt, und als alles vorbei war, hatten wir keine Lust mehr zurückzugehen. Vielleicht haben die Russen ihre Leiche gefunden, aber wer kann das schon mit Sicherheit sagen?«
Dalton schürzte die Lippen und dachte über alles nach, was sie gehört hatte. An ihrem nachdenklichen Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass Okischews Erzählung etwas in ihr ausgelöst hatte.
»Was denken Sie, Lori?« Kincaid beugte sich vor und sprach leise.
»Wir wissen nach dem, was Golowko uns erzählt hat, dass die Djatlow-Expedition den ersten bekannten Kontakt mit dem Virus hatte. Basierend auf Okischews Aussage klingt es fast, als ob mindestens ein Mitglied der Gruppe bereits unter ihm litt, als sie auf ihn trafen.« Sie blickte auf den Bildschirm der Telekonferenz. »Das wäre dann … wann gewesen? Früher Abend?«
Der alte Mann nickte. »Ja, ich erinnere mich, dass das Licht schon schwächer wurde, als ich sie traf.«
»Basierend auf der Virusreplikationsrate, die Golowko uns gegeben hat, müssten sie dem Virus noch am selben Tag ausgesetzt gewesen sein. Vorausgesetzt, sie hatten Kontakt mit dem ursprünglichen, reinen Stamm.«
Kincaid nickte nachdenklich. »Okay, das passt.«
»Und wohin ist die Gruppe an diesem Tag gegangen?«, fragte sie rhetorisch. »An einen Ort, den nur wenige Menschen, wenn überhaupt, in jüngster Zeit erforscht haben.«
»Cholat Sjachl.« Kincaid war von dem Gehörten sichtlich fasziniert.
»Der Tote Berg«, wiederholte Dalton. »Deshalb ist man dem Virus noch nie begegnet. Niemand ist jemals dorthin gegangen.«
»Lori, das ist verrückt. Der eisige Gipfel eines Berges ist so ziemlich die unwirtlichste Umgebung für ein Virus. Sie brauchen Wirte, in denen sie wachsen und sich vermehren können, sie brauchen Nährstoffe und …«
»Ich weiß«, antwortete Dalton schnell. »Ich sage nicht, dass das Virus dort seinen Ursprung hat. Ich sage nur, dass es dorthin gebracht wurde.«
»Die vermisste Frau, die Djatlow gefunden hat«, griff Becker ihren Gedankengang auf.
Dalton nickte nachdrücklich. »Ich kann nicht sagen, wie oder warum es passiert ist, aber ich glaube, sie war die Ursache. Ich glaube, sie ist unser Patientin Null. Als Djatlows Gruppe sie fand und jemand von ihnen die Leiche berührte, übertrug sich das Virus. Golowko sagte, dass es sich mit genügend Zeit an Staubteilchen anlagern kann. Jemand musste den Staub nur aufwirbeln und einatmen.«
»Sie meinen, sie war auch ein Opfer?« Kincaid dachte laut.
Dalton schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie war viel mehr als das.« Sie blickte zu dem Offizier, der ihnen vorhin die Informationen über Russland geliefert hatte. »Was können Sie uns über diesen Berg sagen?«
Der junge Mann runzelte bei dieser seltsamen Frage die Stirn, bevor er sich seinem Laptop zuwandte und etwas eintippte.
Wieder kam die Suchmaschine zum Einsatz. »Der Cholat Sjachl gehört zu einer Reihe von Gipfeln im nördlichen Ural-Gebirge. Entstanden ist er durch die Gletscherbewegung während der letzten Eiszeit. Die durchschnittliche Temperatur zu dieser Jahreszeit liegt bei …«
»Vergessen Sie die Wetterberichte«, unterbrach sie ihn. »Wie groß ist er?«
»Ähm, knapp eintausendeinhundert Meter bis zum Gipfel. Nicht besonders hoch für Berge in dieser Region, aber …«
»… aber man muss einen guten Tag wandern, um den Gipfel zu erreichen«, spekulierte Dalton.
Er dachte einen Moment lang nach. »Ja, ich denke schon.«
Kincaid runzelte die Stirn. »Ich kann Ihnen immer noch nicht folgen, Lori.«
Dalton drehte sich zu ihm um, ihr Gesicht leuchtete vor wachsender Aufregung. »Anton, wir haben gesehen, was ein reiner Stamm dieses Virus mit seinen Opfern anstellt und wie schnell die Auswirkungen eintreten. Glauben Sie wirklich, dass jemand, der an dem Djatlow-Virus erkrankt ist, es bis auf den Gipfel eines viertausend Fuß hohen Berges schaffen würde?«
Kincaid wurde plötzlich lebhaft, als er begriff. »Sie meinen also, diese Frau könnte …?«
»… immun gewesen sein«, beendete Dalton den Satz. »Das ist genau das, was ich denke. Ich denke, sie war Überträgerin, kein Opfer.« Kincaid öffnete den Mund, um zu antworten, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Es schien, als hätte es ihm wirklich die Sprache verschlagen.
»Wenn ich recht habe, könnte diese Frau den Schlüssel dazu in sich tragen, diesen Ausbruch für immer zu stoppen. Eine angeborene Immunität, die wir aus ihrer Leiche gewinnen und innerhalb weniger Tage in ein Heilmittel umwandeln könnten.«
Stille legte sich über den Raum. Niemand sprach, niemand rührte auch nur einen Muskel. Es war eine seltsame, beunruhigende Stille, während sie alle über die Konsequenzen dessen nachdachten, was sie gerade gesagt hatte.
»Lori …« Kincaid nahm seine Brille ab und legte sie auf den Tisch. »Sie sind Wissenschaftlerin. Betrachten Sie die Sache wissenschaftlich. Ich meine, die Wahrscheinlichkeit, einen Träger mit natürlicher Immunität gegen so etwas zu finden …«
»Es passt zu dem, was wir wissen.«
Kincaid seufzte und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn Sie recht haben und diese Frau auf irgendeine Art immun gegen das Virus sein sollte, wie kommen Sie darauf, dass sie noch dort ist? Die Sowjets hätten ihre Leiche schon vor Jahrzehnten bergen können.«
»Haben sie aber nicht«, widersprach Dalton entschieden.
Er hob eine Braue. »Noch eine Intuition?«
»Nein, Logik«, konterte sie. »Golowko hat uns gesagt, dass selbst ihre Forschungsteams nie in der Lage gewesen wären, ein Gegenmittel zu finden. Weil sie das Einzige nicht hatten, was sie dazu gebraucht hätten. Sie hatten sie nicht.«
»Wie ist das möglich? Wie konnten all diese Suchtrupps sie übersehen?«, fragte Kincaid.
»Die Russen haben die Gegend nach der vermissten Expedition abgesucht«, meldete sich Okischew zu Wort. »Aber ich glaube, selbst sie haben den Gipfel des Cholat Sjachl gemieden.«
»Warum?«
»Weil sie keinen Grund hatten, dort zu suchen«, antwortete er schlicht.
Becker verstand, was er meinte. »Der Cholat Sjachl lag weitab von der geplanten Wanderroute der Gruppe. Sie haben den Berg nur aus Versehen bestiegen, weil sie sich im schlechten Wetter verirrt haben.«
Daltons Augen leuchteten auf. »Und die einzige Person, die davon weiß, spricht gerade mit uns.«
»Die Sowjets haben nie daran gedacht, sich auf dem Gipfel oder in der Nähe umzusehen, weil die Gruppe ihres Wissens nach nie so weit gekommen ist.« Becker schüttelte den Kopf, fassungslos über die Gelegenheit, die sich ihnen da offenbar bot. »Wenn wir recht haben, wartet der Schlüssel, um die ganze Sache zu stoppen, schon seit sechzig Jahren auf diesem Berg auf uns.«
»Falls Sie recht haben«, korrigierte Kincaid ihn, immer noch zweifelnd.
Dalton ließ sich jedoch nicht entmutigen. Für sie war die Lösung so einfach wie naheliegend.
»Wie auch immer, wir müssen dorthin, bevor es zu spät ist.« Sie sah Kincaid an. »Wie schnell können wir in der Luft sein?«