51

»Anton, was machen Sie da?« Dalton weigerte sich zu glauben, was sie sah, weigerte sich zu akzeptieren, was so erschreckend real geworden war. Kincaid ignorierte ihre Frage und richtete stattdessen seine Aufmerksamkeit – und die Waffe – auf Becker. »Versuchen Sie keine Tricks, Mr. Becker!« Er erriet die Gedanken des Mannes. »Ich will Sie nicht töten, aber ich werde es tun.«

»Sieh an, sieh an«, sagte Becker und beäugte seinen Widersacher kalt. »Anton. Oder sollte ich lieber sagen Prophet

Kincaids Miene verfinsterte sich. »Nur ein Mittel zum Zweck. Ein hässliches Mittel vielleicht, aber ein notwendiges.«

»Sie waren das, die ganze Zeit?«, fragte Dalton fassungslos. »Sie haben Vorster und seine Gruppe kontrolliert?«

»Natürlich war er das«, antwortete Becker an seiner Stelle.

Kincaid legte neugierig den Kopf schief. »Das scheint Sie nicht zu überraschen?«

»Ich habe Ihre Reaktion in der Türkei gesehen, als ich den Namen Prophet sagte. Sie waren besorgt – besorgt, dass wir Ihnen auf die Spur gekommen sein könnten«, erklärte Becker, in dessen Kopf sich die Teile nun zusammenfügten. »Und Sie haben bei jedem Schritt versucht, uns aufzuhalten. Sie haben mich verhaften lassen, Vorster direkt zu uns geführt, versucht, uns vom russischen Luftraum fernzuhalten … Sie haben alles getan, um uns davon abzuhalten hierherzukommen. Sie haben sogar dafür gesorgt, dass nur wir allein auf dieser Mission sind, falls wir etwas finden. Damit Sie zur Stelle sein und uns erledigen konnten. Sodass niemand außer Ihnen je erfahren würde, was passiert ist.«

Alle Farbe wich aus Daltons Gesicht, als sie die Wahrheit endlich begriff. Das war der wahre Grund, warum Kincaid sie unbedingt hatte auf diesen einsamen Berg begleiten wollen. Er hatte den ganzen Weg auf sich genommen, nur um sie beim letzten Schritt zu torpedieren.

Ein trockenes, sprödes Lächeln zuckte um Kincaids Mundwinkel. »Sehr gut, Mr. Becker. Offenbar sind Sie klüger, als ich es Ihnen zugebilligt habe«, erkannte er mit widerwilligem Respekt an. »Aber nach wie vor bin ich derjenige mit der Waffe.«

»Ja, das sind Sie. Sie haben die Waffe, die ich Ihnen gegeben habe.« Langsam griff Becker in seine Tasche, zog einen Metallgegenstand heraus und hielt ihn hoch. Es war ein Pistolenmagazin, an dessen einem Ende eine Messinghülse schimmerte. Mit dem Daumen schob Becker die Patrone heraus, ließ sie auf den Boden fallen und wiederholte den Vorgang.

Als er die dämmernde Erkenntnis auf dem Gesicht seines Gegners sah, lächelte Becker. »Mit denen funktioniert es besser.«

Dann stürzte sich Becker auf Kincaid, wollte ihm die ungeladene Pistole aus der Hand schlagen und dann den Bastard erledigen. Kincaid mochte vieles sein, aber ein echter Killer war er nicht. Becker wusste, dass der ältere, eher wie ein Bücherwurm wirkende Mann nicht den Hauch einer Chance hatte, wenn es zu einem direkten Kampf zwischen ihnen kam. Doch kaum hatte er den ersten Schritt gemacht, knallte die Waffe. Becker spürte, wie etwas seinen rechten Arm durchbohrte, ihn herumwirbelte und seinen Angriffsschwung augenblicklich zunichtemachte. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen Arm, und warmes Blut rieselte ihm über die Haut.

»Sie sind nicht der Einzige, der sich mit Waffen auskennt«, warnte ihn Kincaid. Aus dem Lauf der Waffe stieg eine dünne Rauchfahne auf, als Becker ungläubig einen Schritt zurückwich. »Als Sie mir die ungeladene Pistole gaben, war das die letzte Bestätigung dafür, dass Sie mir auf der Spur sind. Nun, ich hatte vorausschauend meine eigene Waffe mitgebracht. Und ich warne Sie, ich bin ein ausgezeichneter Schütze.«

Becker umklammerte seinen verletzten Arm und krümmte seine Finger, um sich zu vergewissern, dass sie noch funktionstüchtig waren. Es war nur eine Fleischwunde, die ihn nicht töten, sondern nur außer Gefecht hatte setzen sollen.

»Ich kann nicht zulassen, dass Sie diese Proben entnehmen.«

»In Gottes Namen, Anton, warum nicht?« Dalton flehte ihn förmlich an, und in ihren Augen glitzerten jetzt Tränen. »Sie sind Arzt. Sie haben Ihr Leben der Rettung von Menschen gewidmet. Warum haben Sie das alles getan?«

»Weil es getan werden musste, Lori.«

Sie öffnete erschüttert und ungläubig den Mund. »Haben Sie den Verstand verloren? Milliarden Menschen werden sterben.«

»Ja, das werden sie«, stimmte er zu. »Das ist das Opfer, das wir zu bringen haben, wenn unsere Spezies überleben soll.«

»Was soll das denn heißen?« Becker wollte Zeit schinden. Er versuchte, ihn am Reden zu halten und ihn vielleicht abzulenken.

»Es wird erwartet, dass wir bis zum Ende des Jahres die Grenze von acht Milliarden Menschen überschreiten. Als ich geboren wurde, waren es nur halb so viele. Wir vermehren uns schneller, als wir zählen können, und verbrauchen unsere Ressourcen schneller, als sie wieder aufgefüllt werden können.« Er seufzte, der müde Seufzer eines Mannes, der schon unzählige Male vor demselben Problem stand und es nicht lösen konnte. »Jede Zukunftsprojektion, die wir angestellt haben, endete immer auf die gleiche Weise. Globales Aussterben. Kriege, Hungersnöte, Krankheiten, ökologischer Zusammenbruch …«

Kincaid sah von Becker zu Dalton, flehte sie um Verständnis an. »Verstehen Sie denn nicht? Wir selbst sind das Virus. Wir, die Menschheit. Wir vermehren uns und verzehren und zerstören alles, womit wir in Berührung kommen.« Er zögerte, seine Stimme wurde leiser, schmerzlicher, als er weitersprach. »Sogar uns gegenseitig.«

Becker dachte plötzlich an sein Gespräch mit Kincaid während des Hubschrauberflugs hierher. An die abgenutzte Brieftasche, das verblasste Bild der Frau, die er geliebt und verloren hatte. Plötzlich ergab seine letzte Bemerkung viel mehr Sinn.

»Sienna.«

»Was meinen Sie?«, fuhr Kincaid ihn an.

»Ihre Frau. Sie ist gestorben, richtig? Am 11. September?« Becker setzte einfach darauf, dass er recht hatte, als er fast verzweifelt fortfuhr: »Sie war an diesem Tag in New York.«

Der gequälte Ausdruck von altem Schmerz und Trauer auf Kincaids Gesicht sagte ihm alles, was er wissen musste.

»Anton …« Dalton machte einen Schritt auf ihn zu.

»Nicht!«, warnte er sie.

»Es tut mir leid, was Ihnen und ihr passiert ist.« Becker seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht verübeln, dass Sie nach einem solchen Erlebnis eine so negative Meinung von der Menschheit haben. Aber glauben Sie wirklich, dass dies hier alles in Ordnung bringen wird? Glauben Sie, das hätte sie gewollt?«

Einen Moment lang sah es tatsächlich so aus, als würde der ältere Mann einlenken, als reichte die Erinnerung an die Frau, die er verloren hatte, aus, um zu ihm durchzudringen. Es war ein flüchtiger Moment, mehr nicht.

»Es geht nicht darum, was sie gewollt hätte«, entgegnete Kincaid kalt. »Ebenso wenig geht es um mich oder um Sie oder um jemand anderen. Es geht darum, was getan werden muss.«

»Und das ist Ihre Antwort?« Dalton deutete wild gestikulierend durch die Höhle um sie herum. »Ihre eigene Spezies auszulöschen? Jeden zu töten, den Sie zu beschützen geschworen haben?«

»Nicht alle«, widersprach er. »Einige werden überleben; kleine Gruppen, die in abgelegenen Gebieten leben, die das Virus nicht erreichen wird, Regierungen und Zivilisten in unterirdischen Bunkern. Und diejenigen nicht zu vergessen, die eine natürliche Immunität besitzen wie dieses Mädchen da unten. Wenn nur ein Bruchteil der Menschheit das Virus übersteht, werden Millionen, Dutzende Millionen überleben. Genug, um neu anzufangen und die menschliche Zivilisation auf einem überschaubaren Niveau wiederaufzubauen. Vielleicht sogar aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.«

»Aber es werden trotzdem Milliarden sterben«, erinnerte Becker ihn. »Unschuldige Menschen, die es verdient haben zu leben. So wie Sienna.«

»Das hier macht mir keineswegs Vergnügen, Mr. Becker«, gestand ihm Kincaid. »Und ich wünschte wirklich, es gäbe eine Alternative. Ich habe die letzten zwanzig Jahre nach einem anderen Weg gesucht. Aber dieser ist der einzige.«

»Aber warum jetzt?«, wollte Dalton wissen. »Warum haben Sie bis jetzt gewartet?«

»Weil ich etwas Notwendiges nicht hatte«, gab Kincaid zu. »Meine Studien über Viren und Epidemien haben mich gelehrt, was man benötigt, um die Bevölkerung auf globaler Ebene zu vernichten. Was mir fehlte, war die richtige Art von Erreger. Die meisten Krankheiten mit einer ausreichend hohen Sterblichkeitsrate sind nicht ansteckend genug, um sich schnell genug zu verbreiten, und diejenigen, die sich schnell verbreiten, sind nicht tödlich genug. Nur das Djatlow-Virus kombinierte beide Extreme. Es war einfach perfekt.«

»Wie zum Teufel haben Sie es gefunden? Die Proben waren seit dreißig Jahren verschollen.«

»Als die Sowjetunion zusammenbrach, planten zwei KGB -Agenten, in den Westen überzulaufen und im Tausch gegen Geld und neue Identitäten Proben des Virus anzubieten. Sie setzten sich mit der CIA in Verbindung, um das Ganze zu arrangieren, aber sie kamen nie zum vereinbarten Rendezvous. Da der Kalte Krieg vorbei war und sich die Prioritäten geändert hatten, wurde die Akte geschlossen und die ganze Sache schließlich und endlich begraben.«

»Bis Sie darauf gestoßen sind.«

Er nickte. »Meine Nachforschungen über Viren führten mich zu der Djatlow-Akte. Schließlich war ich in der Lage, das Puzzle zusammenzusetzen, die Kette der Ereignisse zu verstehen und herauszufinden, wo ihr Flugzeug abgestürzt ist. Es hat Jahre gedauert und eine Menge Ressourcen verschlungen, aber ich habe die Maschine gefunden. In dem Wrack befanden sich die Djatlow-Proben, die all die Jahre in der Kälte konserviert wurden.«

»Und die Gruppe um Vorster?«

»Sie waren Werkzeuge, nichts weiter. Widerwärtige Werkzeuge, aber leider notwendige«, sagte er kalt. »Ich mag solche Männer nicht, aber sie waren auf ihre Weise nützlich. Sie konnten tun, was ich allein nicht hätte bewerkstelligen können.«

»Das muss man Ihnen lassen, Sie sind wirklich ein skrupelloses Stück Scheiße. Sie haben sie angeheuert, um unschuldige Menschen für Sie zu töten und Ihre Drecksarbeit zu erledigen, obwohl Sie wussten, dass das Virus sie sowieso alle töten würde. Und die ganze Zeit haben Sie in Ihrem verdammten Büro gehockt und zugesehen.«

Kincaid warf ihm einen strengen Blick zu. »Wir brauchten Iwanow, um genug von dem Virus zu produzieren, damit unser Plan funktioniert. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass sein Leibwächter uns so viele Probleme bereiten würde.«

»Was soll ich sagen? Ich bin eine professionelle Nervensäge.«

»Das sind Sie in der Tat. Und das hat uns hierhergeführt.« Sein Blick zuckte zu der Höhle unter ihm. »Ich schätze, ich sollte Ihnen danken – es ist nur passend, dass ich den Ort zu sehen bekomme, an dem alles begann.«

»Ist das der Ort, an dem Sie uns töten?«, fragte Dalton. »Es wäre die einzige logische Lösung.«

Kincaid schüttelte den Kopf, griff in seine Jacke und hielt ein Gerät hoch, das wie ein kleines metallenes Walkie-Talkie aussah. Becker erkannte sofort, dass es sich um einen Funkfernzünder handelte.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte er und deutete nach rechts.

Sie blickten hinüber, und tatsächlich war ein Block mit Plastiksprengstoff an der Höhlenwand befestigt, aus dessen Spitze ein Kabel und ein Funkempfänger herausragten. Er musste den Sprengsatz in seinem Rucksack hier hereingeschmuggelt und ihn platziert haben, während sie in der Höhle unten beschäftigt waren. Becker wusste nur zu gut, dass ein einziger C4-Block mehr als genug Sprengkraft enthielt, um die gesamte Höhle zu zerstören und Tausende von Tonnen Gestein auf sie herabprasseln zu lassen.

»Geht spazieren«, sagte Kincaid. »Sobald ihr in Sicherheit seid, sprenge ich die Höhle. Kein Gegenmittel mehr, nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt.«

»Und das war’s?«

»Was gibt es noch?«, fragte Kincaid. »Es ist vorbei. Niemand muss erfahren, was hier passiert ist.«

»Aber sie werden es erfahren, Anton!« Dalton ballte ihre behandschuhten Hände zu Fäusten. »Ich werde dafür sorgen, dass jeder weiß, dass Sie dafür verantwortlich sind. Sie werden vernichtet werden.«

Becker war sich nicht sicher, aber er glaubte, ein Lächeln hinter der Gesichtsmaske aufflackern zu sehen.

Kincaid hob die Hand, zog seine Atemschutzmaske ab, warf sie achtlos beiseite und atmete tief die kalte, trockene Luft ein. Er spürte keine Angst vor dem, was kommen würde, denn er wusste, dass seine Arbeit getan war.

»So oder so ist es für mich vorbei. Für Sie muss das nicht so sein.« Er hielt den Zünder hoch und trat einen Schritt zurück, damit sie an ihm vorbeigehen konnten. »Gehen Sie, solange Sie noch können.«

»Tun Sie das nicht, Anton«, flehte sie. »Wir können …«

»Ich habe meine Entscheidung getroffen, Lori«, unterbrach Kincaid sie. »Ich würde es vorziehen, in dem Wissen zu enden, dass Sie überlebt haben. Aber glauben Sie nicht, dass ich nicht unser aller Leben opfern würde, wenn es sein muss. Und jetzt gehen Sie!«

Daraufhin schüttelte Dalton den Kopf. »Nein.«

»Was?«

»Ich gehe nirgendwohin«, sagte sie trotzig. »Sie werden uns beide mit in den Tod nehmen müssen.«

Er starrte sie verwirrt an. »Sie würden sterben, obwohl Sie wissen, dass es nichts ändert?«

»Das würde ich.«

»Ich auch«, setzte Becker hinzu und stellte sich neben sie.

»Warum?«

Kincaid war so sehr mit dem letzten Aufbegehren der beiden gegen ihn beschäftigt, dass er nicht bemerkte, wie sich eine weitere Gestalt von hinten näherte. Sie glitt langsam und lautlos durch die Schatten, bewegte sich mit der Geschicklichkeit und Verstohlenheit eines Mannes, der ein Leben lang in den Wäldern dieses Landes gejagt hatte.

Dalton schaute Becker an und tauschte einen stummen, verständnisvollen Blick aus. Es waren keine Worte mehr nötig. Ihre Gedanken waren auf dasselbe Ziel ausgerichtet, sie akzeptierten dasselbe Schicksal.

»Denn hier sollen wir sein«, sagte Dalton leise.

Im letzten Moment registrierte Kincaid etwas. Vielleicht eine Veränderung in der Luft um ihn herum, das schwache Rascheln von Stoff, als ein Arm zurückgezogen wurde. Instinktiv drehte er sich um. Für einen Augenblick sah er die dunkle, bedrohliche Gestalt über sich auftauchen, sah eine zum Schlag erhobene Waffe und hob instinktiv den Arm, um sich zu verteidigen.

Okischews Eispickel krachte auf Kincaids hochgerissenen Arm. Die spitze, gezackte Klinge war eher ein Werkzeug als eine Waffe, und der Mann, der sie führte, war durch das Alter geschwächt, aber nichtsdestotrotz landete das stählerne Werkzeug mit genug Wucht, um seine Jacke, die Haut und die Muskeln darunter zu durchbohren. Mit einem unangenehmen Knacken brach der Knochen unter dem Schlag.

Kincaid stieß einen Schmerzensschrei aus. Der Zünder flog ihm aus der Hand und landete ein paar Meter entfernt auf dem Boden.

»Lori!«, schrie Becker und stürzte sich auf die beiden Männer, die sich stritten und kämpften.

Dalton erkannte die Gefahr, in der sie sich befanden, und eilte zu dem heruntergefallenen Zünder, der nur wenige Meter von ihr entfernt hart auf dem felsigen Boden gelandet war.

Okischew riss den Eispickel heraus und holte erneut zum Schlag aus, denn er wusste, dass sein Vorteil nicht lange anhalten würde. Aber Kincaid war nicht nur jünger und stärker, sondern auch schneller und besaß zudem eine Waffe, die weitaus tödlicher war.

Die Pistole dröhnte zweimal, die Schüsse hallten von den Wänden wider, und Okischew taumelte zurück. Der Eispickel fiel ihm aus der Hand, als er gegen die Wand stolperte, zu Boden sackte und seinen letzten Atemzug tat. Da sein unerwarteter Feind neutralisiert war, wirbelte Kincaid gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Dalton sich den Zünder schnappte.

Für Becker schien all das in Zeitlupe zu vergehen, als er sich seinem Ziel näherte, das zu weit entfernt war, um ihn aufzuhalten. Er sah, dass Kincaid die Waffe auf Lori richtete, und wusste, dass der Mann dieses Mal nicht zögern würde abzudrücken.

Nur für einen Augenblick schien ein unerwarteter Zustand von Frieden und Akzeptanz über Becker hereinzubrechen. Ein einziger, völlig klarer Gedanke schoss ihm durch den Kopf.

Alles, jeder Schritt, jede Entscheidung, jeder Konflikt und jede zufällige Begegnung hatte ihn hierhergeführt, um genau das zu tun, wozu er bestimmt war.

Sein Leben für einen anderen zu geben.

Der Moment der unnatürlichen Klarheit verging, und die Welt beschleunigte sich wieder auf ihre normale Geschwindigkeit. Seinem Instinkt gehorchend, änderte Becker die Richtung, verlagerte sein Gewicht nach links und warf sich in die Schussbahn der Waffe, gerade als Kincaid den Abzug betätigte.

Erneut dröhnte ein Schuss, Becker spürte, wie etwas gegen seine Brust schlug und ihn herumwirbelte, als er ein paar Meter entfernt auf den felsigen Boden stürzte.

Aber die Verzögerung hatte Dalton die nötige Zeit verschafft.

»Nein!«, schrie Kincaid, als sie den Zünder mit Trotz und Wut in den Augen in die Höhle unter ihnen schleuderte. Es krachte gedämpft, als die Plastikhülle unter dem Aufprall auseinanderbrach und zerstört wurde.

Schwer atmend, die Zähne gegen den Schmerz in seinem gebrochenen Arm zusammenbeißend, bewegte sich Kincaid an den Rand der gähnenden Grube vor ihm und starrte ungläubig hinab. Der Blick, mit dem er Dalton bedachte, glühte vor Wut.

»Was haben Sie da getan?«

Dalton erhob sich und stand allein vor ihm, unbewaffnet, aber ungebeugt. Sie hatte ihr Ziel erreicht.

»Was ich tun musste.«

Kincaid hob seine Waffe und zielte. Dalton zuckte nicht zurück, versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Was jetzt geschah, war genau das, was geschehen sollte. Sie akzeptierte es, so wie sie auch den Preis für ihr Handeln akzeptierte.

Doch dann sah Dalton, wie er sich plötzlich umdrehte und seine Waffe nicht auf sie, sondern auf den noch immer an der Wand befestigten Sprengstoffblock richtete. Der Zünder mochte verloren sein, aber eine Kugel würde das gleiche Ergebnis erzielen.

Kincaid hatte das alles nicht ertragen, so viel geopfert, um im letzten Moment zu scheitern. Er würde nicht zulassen, dass sein Plan zunichtegemacht wurde.

Er war so wütend und entschlossen, seine letzte Aufgabe zu erfüllen, dass er nicht bemerkte, dass sich Becker verletzt auf die Füße zog, dass er nicht das Knirschen von Schritten auf dem Boden wahrnahm, nicht das laute Rasseln von schwerem Atem. Kincaids ganze Aufmerksamkeit galt der Bombe, als er zielte und seinen Finger auf den Abzug legte.

Becker war gut dreißig Pfund schwerer als der ältere Mann, und er legte jedes Gramm dieses Gewichtsvorteils in diese letzte große Anstrengung. Er stürzte sich auf Kincaid und rammte ihm die Schulter in den Bauch. Die Waffe ging los, eine verirrte Kugel schlug einige Meter von dem Sprengstoff entfernt in die Wand ein, gerade als Kincaid zur Seite geschleudert wurde und Becker ihn immer noch um die Taille gepackt hielt.

Gemeinsam verschwanden die beiden Männer durch das Loch im Boden. Becker schloss die Augen, als er schwerelos durch die Luft segelte, einen Moment lang verloren in der völligen Empfindungslosigkeit. Er fühlte sich, als würde er in einem formlosen Traum schweben, zeitlos, ziellos, alle Sorgen vergessend.

Es fühlte sich gut an.

Einen Augenblick später erschütterte ein zermalmender Aufprall seinen Körper, als er und sein Feind auf dem Höhlenboden landeten. Der Schmerz durchfuhr ihn wie eine Explosion und trieb ihm sämtliche Luft aus der Lunge. Er hörte ein schwaches Stöhnen, ein letztes schmerzhaftes Ausatmen, und als er die Augen öffnete, sah er Kincaid, der seelenlos zu ihm hinaufstarrte, während sich eine Lache aus dunklem Blut langsam aus seinem gebrochenen Schädel ausbreitete. Der Mann konnte nicht mehr sprechen, aber irgendwie spürte Becker, dass ihm gewahr war, was soeben geschehen war. Und dass er wusste, dass er verloren hatte. Als der letzte Lebensfunke aus Kincaids Körper entwich, spürte Becker, wie er sich entspannte. Seine Arbeit war nun getan. Seine letzte Aufgabe war erfüllt.

Er hob die Hand und zog dankbar die Atemmaske herunter, denn sie würde ihm jetzt nichts mehr nützen. Sein Anzug war zerrissen, und er würde sich zweifellos anstecken. Also nahm er einen Atemzug echter Luft und schmeckte zum ersten Mal das hohe Alter dieses Ortes. Es kam ihm fast so vor, als atmete er dieselbe Luft ein, die das tote Mädchen vor all den Jahren zum letzten Mal geatmet hatte. Er rollte sich von seinem toten Gegner herunter, atmete langsam und müde aus und starrte auf das sternförmige Dach der Höhle. Es war wunderschön. Ein guter Ort zum Sterben.

»Cameron!« Dalton leuchtete mit ihrer Taschenlampe durch das Loch im Dach auf ihn herab. »Sprich mit mir!«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Becker und schloss kurz die Augen. »Geh, Lori! Verschwinde von hier! Ich werde wohl für eine ganze Weile hierbleiben.«

»Den Teufel wirst du!«

Dalton packte das Seil und ließ sich rasch in die Höhle hinab. Dort hielt sie einen Moment inne, um Kincaid zu betrachten, ihren ehemaligen Mentor. Den Mann, der ihr einst das Leben gerettet und es ihr heute beinahe genommen hatte.

Dann ließ sie den Toten liegen und eilte zu Becker, kniete sich neben ihn und öffnete die Vorderseite von Beckers Anzug, um seine Verletzungen zu untersuchen. Ihre behandschuhten Hände waren rot vor Blut.

»Oh nein …!«

»Es ist okay«, sagte er schwach. »Wie du gesagt hast, so hat es sein sollen.«

»Ich kann dir helfen«, sagte sie, öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und zog die darunter liegenden Schichten beiseite, sodass die Schusswunde in seiner Brust zum Vorschein kam. »Ich muss nur die Blutung stoppen.«

Becker schüttelte den Kopf. »Das spielt jetzt keine Rolle. Meine Zeit ist um.«

Dalton starrte ihn an. »Ich kann dich nicht einfach zum Sterben hier zurücklassen.«

»Die Welt verlässt sich auf dich, Lori. Geh und rette sie!« Er lächelte schwach. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas Heldenhaftes sagen würde.«

Becker sah, wie ihr die Tränen durch die Maske über die Wangen liefen. Sie beugte sich vor, legte ihren Kopf an seinen und hielt ihn fest.

»Du bist wirklich eine schreckliche Nervensäge, Becker«, flüsterte sie.

Becker lächelte, als sie sich von ihm löste. »Ich würde es auch nicht anders haben wollen.«

Er streckte ihr eine zitternde Hand entgegen. Sie nahm sie, ohne zu zögern, und hielt sie lange fest.

»Danke.«

Aber Becker sah sie nicht. Sein Blick war auf die andere Seite der Höhle gewandert, wo jemand stand und sie beobachtete, teilweise von Schatten verdeckt. Aber Becker erkannte jetzt genug von dem Gesicht, um sie einordnen zu können.

Es war eine junge rothaarige Frau, die ihn sanft anlächelte, mit einem Blick voller Dankbarkeit, der ihn die Schmerzen seiner Verletzungen vergessen ließ. Er hatte sie schon einmal gesehen, an einer staubigen Straßenkreuzung im Irak, kurz bevor sich sein Leben für immer veränderte, und er sah sie auch jetzt, am Ende.

Sie hatte die ganze Zeit auf ihn gewartet.

Als ihm langsam dunkel vor Augen wurde und er sich dankbar in die warme, tröstliche Decke der Gefühllosigkeit hüllte, die ihn umgab, hatte er einen letzten friedlichen Gedanken.

Du hast getan, was du tun solltest. Jetzt kannst du ruhen.