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»Was nehmen wir für Peggy und die anderen mit?«, erkundigte Tom Barton sich am ersten Weihnachtstag bei seinem Vater. Er hatte ein paar Stechpalmenzweige auf dem Markt gekauft und über ihrem Spiegel aufgehängt, doch abgesehen von ein paar Karten, die auf dem Kaminsims standen, war das Haus nicht weiter weihnachtlich geschmückt »Wenn ich noch den Schrebergarten hätte, hätte ich ihr eine große Kiste mit Gemüse schenken können …«

»Ich habe eine Schachtel köstlicher Pralinen aus dem Laden für sie mitgebracht«, klärte Jack ihn mit einem Lächeln auf. »Die hat Violet uns zu Weihnachten geschenkt, aber ich dachte, dass dir andere Sachen lieber wären, deshalb nehmen wir Peggy die Pralinen und dazu noch die von mir gekaufte Flasche Sherry mit. Für mehr reicht unser Geld leider nicht aus.«

»Darüber wird sie sich auf alle Fälle freuen. Wenn ich im Augenblick etwas verdienen würde, hätte ich ihr irgendwas Besonderes ganz für sie allein geschenkt, aber vielleicht kann ich das ja an ihrem Geburtstag nachholen, obwohl ich keine Ahnung habe, wann der ist.«

»Im Mai oder im Juni, glaube ich, aber das findest du bestimmt noch rechtzeitig heraus. Da ich ja morgen losmuss, wirst du sicher nach Weihnachten den Job im Laden übernehmen, und dann bekommst du selbst ein richtiges Gehalt, mein Sohn«, rief Jack ihm lächelnd in Erinnerung.

»Viel lieber hätte ich dich weiter hier.«

»Ich weiß, aber wir hatten bereits Glück, dass man mich für zwei Monate nach Hause kommen lassen hat. Sie hätten mich auch einfach noch zwei Jahre im Gefängnis sitzen lassen können.«

»Ich weiß. Und das haben wir Peggy zu verdanken, weil sie diese Petition gestartet hat.« Grinsend wandte Tom sich einem anderen Thema zu. »Mr. Jackson sah viel besser aus, als ich erwartet hätte. Dafür, dass er so krank war, hat er es ziemlich gut geschafft, die Treppe raufzukommen, finde ich.«

»Das stimmt, aber ich denke, dafür hat er seine ganze Willenskraft gebraucht. Er war total erledigt, als er oben angekommen war, und musste sich dann erst mal hinsetzen. Ich denke also, dass er dir noch eine Zeit lang fast die ganze Arbeit überlassen wird.«

»Umso besser«, antwortete Ton. »Ich habe gern zu tun, und inzwischen funktioniert mein Arm schon fast wieder normal. Die Schulter tut mir zwar noch weh, wenn ich die Dehnübungen mache, aber ohne wird sie steif. Also muss ich mich auch weiter mit den blöden Schmerzen arrangieren.«

»Ich finde, du machst deine Sache wirklich gut«, stellte Jack anerkennend fest und fügte einschränkend hinzu: »Aber du musst auf deine Ausdrucksweise achten, Tom. Vermeide möglichst jede Umgangssprache, und vor allem fluch nicht, während du im Laden bist. Mach einen guten Eindruck, denn dann bist du irgendwann bereit für einen anderen, besser bezahlten Job.«

»Wann das auch immer sein wird«, meinte Tom und zupfte an der alten Schulkrawatte, die er auf Geheiß seines Vaters trug. »Und vielleicht kann ich dann auch selbst entscheiden, was ich anziehen will.«

Lachend meinte Jack: »Ich kann dich gut verstehen, denn ich bin selbst kein Fan von diesen Dingern, aber findest du nicht auch, dass wir uns ruhig ein bisschen Mühe geben können, wenn wir erst auf Peggys Weihnachtsfeier und danach auch noch zum Essen bei ihr eingeladen sind?«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Trotzdem verzog der Junge das Gesicht. »Aber sobald wir wieder hier sind, ziehe ich das Ding dann wieder aus …«

»Zu Hause brauchst du nicht mit einem Schlips herumzulaufen.« Zögernd fügte Jack hinzu: »Da ich ja übermorgen wieder weg bin, sollten wir noch kurz darüber quatschen, wie es weitergehen soll. Bis ich wiederkomme, bist erst einmal du der Mann im Haus. Die Schwestern sagen, dass es deiner Mutter langsam wieder besser geht, aber sie sieht mich immer noch nicht an und spricht auch nicht mit mir. Natürlich geht der Großteil meines Solds an euch, und ich habe gesagt, dass er auf deinen Namen überwiesen werden soll. Ich erwarte, dass du dich um alles kümmerst und vor allem die Miete regelmäßig zahlst, wenn du und deine Mum nicht plötzlich auf der Straße sitzen wollt.«

»Ich weiß.« Tom grinste, denn obwohl sein Vater ihn gebeten hatte, ordentlich zu sprechen, verfiel er, wenn sie allein waren, selbst in den Jargon, der für das East End typisch war, zurück. Es bedeutete ihm viel, dass Jack zu Hause war, und ihm war klar, dass seinem Vater der Gedanke, ihm jetzt die Verantwortung für alles und vor allem für eine Mutter, der es, selbst wenn sie nach Hause kommen dürfte, lange noch nicht wieder gut gehen würde, aufzubürden, nicht gefiel. »Keine Angst, ich komme schon zurecht. Bis du zurückkommst, werde ich den Laden schmeißen, das verspreche ich.«

»Mit deiner Mutter wird es ganz bestimmt nicht leicht«, warnte ihn Jack. »Sam war ihr Liebling, und sie kann uns nicht verzeihen, dass er gestorben ist und wir selbst noch am Leben sind. Es ist nicht richtig, dass du dich alleine um sie kümmern musst. Ich sollte hier sein, um dich vor ihrer Gemeinheit zu beschützen – denn ich weiß durchaus, dass sie gemein sein kann.« Bei diesen Worten stieß er einen schweren Seufzer aus. »Sie war ganz anders, als wir damals miteinander ausgegangen sind. Und bevor mir klar war, dass wir nicht zusammenpassen, warst du auf dem Weg. Aber ich hätte es nicht über mich gebracht, sie und vor allem dich im Stich zu lassen, und nach Sams Geburt hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben, dass es keine weiteren Kinder geben würde, und das hat dann unserer Ehe endgültig den Todesstoß versetzt.«

»Ich wusste, dass ihr beiden niemals glücklich miteinander wart. Ich war damals zu jung, um zu verstehen, warum, aber mir war immer schon klar, dass Ma mich eigentlich nicht mag. Weißt du, warum sie mich nicht leiden kann?«

Jack schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, mein Sohn. Vielleicht liegt es daran, dass sie mich nicht leiden kann und du mir ihrer Meinung nach zu ähnlich bist. Von Anfang an war Sam ihr Liebling, und sie hat ihn so verwöhnt, dass niemand anderes mit ihm zurechtgekommen ist. Falls jemand Schuld an seinem Tod hat, dann sie selbst, aber das würde ich ihr niemals sagen …«

»Besser nicht, denn schließlich würde sie das sowieso nicht akzeptieren«, stimmte Tom ihm traurig zu. »Ich habe ihm gesagt, dass das, was er da tut, gefährlich und nicht richtig ist. Er hat geplündert, Dad. Deshalb haben sie ihn sogar mal aufs Polizeirevier geschleppt, aber sie hat sich einfach über die verdammten Polizisten aufgeregt und steif und fest behauptet, einer von den anderen Jungen hätte ihn dazu verführt.«

»Ich weiß, aber das lässt sich nicht mehr ändern«, meinte Jack. »Und jetzt sollten wir rüber auf die Weihnachtsparty gehen, auch wenn wir dort nicht lange bleiben werden, denn im Anschluss fahren wir noch mit einer Karte, ein paar Blumen und einer Tüte Fruchtbonbons zu deiner Mum ins Krankenhaus. Sie wird es uns zwar nicht danken, aber trotzdem müssen wir das tun.«

*

Würstchen im Schlafrock! Glücklich machte Tom sich über zwei der leckeren Teilchen her, trank dazu ein Bier mit Limonade, und als Peggy ihm ein Weihnachtsplätzchen anbot, lobte er das köstliche Büffet, das wieder einmal von ihr zubereitet worden war.

»Es freut mich, wenn es dir schmeckt«, gab sie zurück. »Und seht zu, dass ihr morgen zum Essen pünktlich seid, okay?«

»Wir freuen uns schon darauf.« Als ihm sein Vater winkte, stand er auf. »Wir fahren noch zu Ma ins Krankenhaus. Frohe Weihnachten, Mrs. Ashley.«

»Du sollst mich doch Peggy nennen«, rief sie ihm lächelnd in Erinnerung. »Auch dir und deinem Vater frohe Weihnachten. Ich freue mich, dass ihr morgen zum Essen zu uns kommt.«

»Da haben Sie das Haus wahrscheinlich voll.«

Nickend wandte sie sich seinem Vater zu und wünschte ihm noch eine gute Nacht.

Dann stimmte Alice Carter eins von ihren alten Liedern an, und Tom bedauerte, dass er nicht bleiben konnte, denn die Leute lachten über Alices Kapriolen und fielen grölend in den Refrain des Liedes ein. Die Atmosphäre in der Wirtschaft war an diesem Abend wunderbar, und noch nie zuvor im Leben hatte Tom ein derart ausgelassenes Fest besucht. Er wünschte sich, sie müssten noch nicht gehen, aber sein Vater hatte recht. Sie mussten noch nach seiner Mutter sehen.

Im Bus nahm Tom die allgemeine Feierstimmung wahr. Niemand guckte grimmig oder verlor auch nur ein einziges Wort über den Krieg. Es war, als ob die Londoner beschlossen hätten, dass sie sich von Hitler nicht den Spaß verderben lassen würden, auch wenn auf den Straßen alles dunkel war. Sogar die Scheinwerfer des Busses wie auch aller anderen Fahrzeuge waren abgeschirmt, damit sie aus der Luft nicht zu erkennen waren. Es wäre zu gefährlich, völlig ohne Licht zu fahren, deshalb gab es entweder spezielle Blenden für die Lampen, oder sie waren so weit übermalt, das nur noch etwas Licht nach unten auf die Straße fiel. Zwar wurde Hitler, wie es aussah, gerade durch die Russen von den Briten abgelenkt, sodass vorübergehend keine Bomben auf die Hauptstadt fielen, aber trotzdem war es besser, weiter vorsichtig zu sein.

Auch aus dem Krankenhaus fiel wegen der Verdunkelung kein Licht nach außen, aber innen herrschte Hochbetrieb, und sämtliche Stationen waren erleuchtet, obwohl in den Korridoren extraschwache Birnen hingen, um die Energie für wichtigere Aufgaben zu sparen. Sie alle wussten, dass der Energieverbrauch verringert werden musste, und selbst Wasser war inzwischen rationiert. Das hieß, dass man im Bad bloß noch ein Minimum verbrauchen durfte und das Badewasser teilen sollte, wenn es möglich war.

Tom hielt sich möglichst dicht an seinem Vater, als ihm der Geruch von Scheuermittel, Seife und abgestandenem Essen, der den grässlichen Gestank von Krankheit und Urin nur unzulänglich überdeckte, in die Nase stieg, denn Krankenhäuser waren keine schönen Orte, und er hatte Mitleid mit den Menschen, die gezwungen waren, selbst an den Feiertagen hier zu sein.

Die diensthabende Schwester der Station, auf der Tilly lag, kam auf sie zu. Sie fragte nach Toms Alter und zog die Brauen hoch, als Jack ein wenig übertrieb und ihr erklärte, dass der Junge fünfzehn wäre, obwohl sein Geburtstag erst im Frühjahr war.

»Ich fürchte, damit ist er noch zu jung für einen Besuch im Krankenhaus …«

»Bitte, Schwester, es ist Weihnachten, und in zwei Tagen muss ich zur Armee. Wenn Tom nicht hin und wieder kommen kann, bekommt meine arme Frau überhaupt keinen Besuch.«

»Vielleicht kommt sie ja schon in ein paar Wochen heim. Aber wenn es unbedingt sein muss, darf er jetzt ein paar Minuten zu ihr rein. Sobald er allerdings irgendwelchen Lärm macht, muss er wieder gehen.«

»Den wird er ganz bestimmt nicht machen, das verspreche ich. Vielen Dank, Schwester. Sie sind sehr großzügig.«

Sein Vater führte ihn zu einem Bett, das ganz hinten im Zimmer stand. Die Vorhänge waren zugezogen, und als Tom ihm folgte, zog sein Magen sich zusammen, weil es dort nach frisch Erbrochenem stank. Anscheinend hatte sich seine Mutter übergeben, ohne dass es jemand mitbekommen hatte, und nun waren ihr Nachthemd und die Bettdecke verschmutzt.

»Geh los, und hol die Schwester, Tom«, bat Jack. »Ich werde deine Mutter sauber machen, wenn mir jemand eine Schüssel Wasser bringt …«

Tom verließ das stickige Kabuff und wandte sich der nächsten Schwester zu. Angesichts der Warnung der Stationsschwester, ja keinen Lärm zu machen, sprach er möglichst leise und achtete, wie von seinem Vater angewiesen, darauf, dass ihm seine Herkunft aus dem East End nicht gleich anzuhören war.

»O ja, ich werde sofort eine Schüssel Wasser bringen. Mrs. Barton hat sich heute schon ein paarmal übergeben.«

»Hat sie sich was eingefangen?«

»Das musst du die Oberschwester fragen«, beschied sie ihm knapp. Dann trug sie eine Schüssel Wasser an das Bett und bat Tom und seinen Vater, außerhalb des Vorhanges zu warten, bis Tilly wieder sauber war.

Sie gingen in den Flur, setzten sich dort auf den Boden und warteten schweigend. Schließlich bedeutete die Schwester ihnen, dass sie mit Mrs. Barton fertig war.

Als sie zurückkamen, bedachte Tilly sie mit einem bösen Blick. »Was willst du hier?«, fragte sie Tom und nahm ihm weder die von ihm geschriebene Karte noch die Blumen ab. Sie ignorierte die Geschenke und starrte ihn weiter zornig an. Als Jack nach ihrem Befinden fragte, ignorierte sie auch das und fauchte ihren Jungen an: »Die Mühe, noch einmal nach mir zu sehen, kannst du dir sparen. Du wirst dir eine Arbeit suchen und dich dann allein durchschlagen müssen, denn ich bin zu krank, als dass ich mich auch weiter um dich kümmern kann.«

»Ich bleibe so lange im Haus, bis du zurückkommst, Ma«, erklärte er und kämpfte heldenhaft gegen die Zornestränen an. Er fand es furchtbar ungerecht, dass sie den eigenen Ehemann wie Luft behandelte und ihm die kalte Schulter zeigte wie sonst auch. Doch ihm war klar, sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte nach Sams Tod einen Zusammenbruch erlitten, und anscheinend hatte sie vergessen, wie man warmherzig oder zumindest freundlich war. »Ich habe einen Job in Mr. Jacksons Laden. Dort verdiene ich zwar erst mal nicht so gut, aber Dad schickt mir auch noch einen Teil von seinem Sold, damit ich weiterhin die Miete zahlen kann.«

»Erwarte ja nicht, dass ich dir in irgendeiner Weise helfe, denn falls sie mich je noch mal nach Hause lassen, geht es mir bestimmt nicht gut genug, um noch mal Fußböden zu schrubben oder so. Wahrscheinlich schicken sie mich sowieso erst einmal in ein Pflegeheim und dann ins Armenhaus. Das ist allein die Schuld von deinem Vater, Tom, denn er hat uns dahin gebracht. Mein lieber Junge lebt nicht mehr, und ich bin krank und deswegen zu nichts mehr nutze – also bist du nun auf dich gestellt … oder sie stecken dich ins Waisenhaus.«

»Red doch kein dummes Zeug!«, fuhr Jack sie an. »Du landest sicher nicht im Armenhaus, solange du noch ein Zuhause hast. Du musst einfach gesund werden, und dann wird Tom sich um dich kümmern, bis der Krieg vorbei ist und ich wiederkommen kann.«

»Ich will nicht, dass du jemals wiederkommst«, stieß sie verbittert aus und sah ihm erstmals ins Gesicht. »Ich hoffe, dass du eine Kugel abbekommst und elendig verreckst. Für das, was du mir angetan hast, hast du nichts Geringeres verdient.«

»Das ist nicht fair«, sprang Tom für seinen Vater in die Bresche, als er dessen schmerzerfüllte Miene sah. Im Grunde aber hasste Tilly Jack bereits seit Jahren, und wegen ihrer Krankheit ließ sie ihren Gefühlen jetzt einfach freien Lauf.

Jack schüttelte den Kopf und wandte sich erneut in ruhigem Ton an seine Frau. »Nun, Tilly, wir wünschen dir trotz allem frohe Weihnachten und wollten dich nur wissen lassen, dass du weiter ein Zuhause und vor allem einen anständigen Jungen hast, der auf dich wartet, wenn du heimkommen kannst. Aber es ist dein Leben, und wenn du dich in Selbstmitleid ergehen willst und es dir lieber ist, ins Pflegeheim oder ins Armenhaus zu gehen, musst du das tun. Leb wohl, Tilly. Falls ich den Krieg entgegen deinen Wünschen überleben sollte, werde ich dich nicht noch mal belästigen.«

Er gab Tom ein Zeichen, dass sie gehen würden, und der Junge wandte sich ein letztes Mal seiner Mutter zu. Sie sollte merken, dass er wütend auf sie war, weil sie auf diese Art mit seinem Vater sprach, vor lauter Zorn aber brachte er keinen Ton heraus. Also bedachte er sie bloß mit einem langen, durchdringenden Blick, machte dann wortlos auf dem Absatz kehrt und folgte seinem Vater in den Flur.

Vor dem Krankenhaus zog er am Ärmel seines alten Herrn. »Ich will, dass du zurückkommst, Dad«, erklärte er ihm ernst. »Ich werde Mutter gegenüber meine Pflicht erfüllen, aber im Grunde liebe ich nur dich. Ich werde sehr hart arbeiten und abends lernen, bis ich eine gute bezahlte Arbeit finde, und verspreche dir, dass stets für sie gesorgt sein wird, aber du bist der Einzige, an dem mir etwas liegt. Ich werde jeden Abend beten, dass du wohlbehalten wiederkommst.«

Tom hatte Tränen in den Augen, doch er weinte nicht. Er ließe es nicht zu, dass die Gehässigkeit seiner Mutter ihn zum Weinen brächte, denn er war kein kleiner Junge mehr. Er war ein Mann und würde auch die Arbeit eines Mannes tun.

Sein Vater drückte ihm die Schulter, und als Tom den Kopf hob, nahm er Tränen auf Jacks Wangen wahr. Sein Dad war Manns genug, um sich seiner Gefühle nicht zu schämen, und lautlos kullerten auch Tom Tränen über die Wangen. Schweigend gingen sie ein Stück, ehe der Vater tröstend einen Arm um seine Schultern schlang und dadurch das Gefühl der Leere, das der Sohn in seinem Innersten verspürt hatte, vertrieb.

»Jetzt ist es schon zu spät, um noch irgendwohin zu gehen, Tom, aber wir können uns auf morgen freuen. Am besten fahren wir einfach heim und trinken noch einen Kakao, bevor wir schlafen gehen. Wer weiß, was dir der Weihnachtsmann am Morgen bringt.«

Mit einem erstickten Lachen meinte Tom: »Auf alle Fälle habe ich etwas für dich. Es ist nicht viel, aber vielleicht kannst du es brauchen … wo auch immer du bald kämpfen musst.«

»Danke, Junge.« Lächelnd legte Jack den Arm noch fester um die Schulter seines Sohns. »Tilly kann nichts dafür, dass sie so ist. Sie ist eine verbitterte und unglückliche Frau, und sicher habe ich sie irgendwann dazu gemacht, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie …«

»Eine spitze Zunge hatte sie schon immer«, meinte Tom. »Das ist bestimmt nicht deine Schuld. Es ist was, was sie meiner Meinung nach schon immer in sich hatte, und vielleicht hat sie ja immer schon ein anderes Leben haben wollen.«

»Kann sein. Das werden wir nie wissen, mein Sohn. Aber nun lass uns nicht mehr daran denken, denn wir haben schließlich Weihnachten. Spitz deine Ohren. Hörst du das?«

Sie traten vor die Kirche, in der in diesem Augenblick ein Weihnachtslied gesungen wurde, gingen in den Vorraum, blieben schweigend stehen und lauschten andächtig der herrlichen Musik.

Als sie verklang, erklärte Jack mit einem Lächeln: »Mit der Kirche hatte ich im Grunde nie etwas am Hut – aber ich habe immer schon an irgendwas geglaubt, und wenn ich weg bin und wenn deine Ma … nun ja, falls du dich je alleine fühlst, denk dran, dass du im Grunde nie alleine bist. Gott kümmert sich um uns auf seine eigene, wenn auch ab und zu geheimnisvolle Art.«

»Ich werde nicht alleine sein«, rief Tom seinem Vater grinsend in Erinnerung. »Dort, wo ich wohne, passen alle aufeinander auf. Vor allem Peggy und Maureen …«

»Da hast du recht«, pflichtete Jack ihm leise lachend bei. »Als junge Frau war Peggy Ashley eine echte Schönheit, Tom. Vor Jahren war ich einmal fürchterlich in sie verliebt, aber für sie gab es nur ihren Mann.« Er schüttelte den Kopf. »Ich finde es ein bisschen seltsam, dass er sich hier kaum noch blicken lässt. Man sollte meinen, dass er wenigstens an Weihnachten nach Hause kommen würde, denn wer ist schon an den Feiertagen gern allein?«

*

Zur selben Zeit saß Laurence Ashley in der letzten Reihe einer kleinen Dorfkirche in Schottland, doch alleine war er nicht.

Es war Eileens Idee gewesen, Weihnachten die Messe zu besuchen, und obwohl er angenommen hatte, dass er sich dort langweilen würde, war er gern mit ihr zusammen und hatte ihr den Wunsch erfüllt. Nun saß er also im Dämmerlicht der ungeheizten Kirche, und in seinem Inneren breitete sich ein Gefühl von Frieden aus.

Seit Peggy ihm in dem verfluchten Brief geschrieben hatte, dass sie von dem jungen Able schwanger wäre, hatte er zuerst mit heißem Zorn und dann mit einem Gefühl von Bitterkeit gekämpft, bis er vor einem knappen Monat Eileen Martin erst zum Essen eingeladen hatte und danach in ihrem Bett gelandet war.

Seitdem gingen sie regelmäßig essen oder auch ins Kino und waren nicht nur gute Freunde, sondern obendrein so etwas wie ein Paar. Wobei es etwas völlig anderes war als mit Marie, die wie er selbst ein Mitglied des Geheimdienstes gewesen war. Bei der Französin hatte er sich plötzlich wieder jung gefühlt, der Sex mit ihr war etwas völlig anderes gewesen als der routinierte Beischlaf mit der eigenen Ehefrau, und er hatte sie abgöttisch geliebt. So ging es ihm bei Eileen nicht. Sie war zwar durchaus hübsch, und es war nett mir ihr im Bett, doch sie war weder weltgewandt noch übertrieben einfallsreich. Entsprechend war er nicht in sie verliebt, und wenn er sich nicht irrte, machte auch sie selbst mit ihm einfach das Beste aus der alles andere als schönen oder leichten Zeit.

»Das war sehr schön, nicht wahr, Laurie?« Eileen berührte seinen Arm. »Obwohl ich sonst nur selten in die Kirche gehe, habe ich die Weihnachtsmesse immer schon geliebt.«

»Es war tatsächlich schön, vor allem der Chor«, stimmte er ihr zu, bevor er mit ihr in die Kälte trat. »Frohe Weihnachten, liebe Eileen. Gehen wir noch zu dir?«

»Natürlich. Sicher würde es ein bisschen seltsam wirken, wenn du mich mit auf dein Zimmer nehmen würdest«, meinte sie und blickte auf das große, abgeschiedene Haus, das hinter einer hohen Mauer lag und in dem er und die Kollegen bis zum Ende des verdammten Krieges zu Hause waren. »Ich hoffe, dass du über Nacht und morgen noch zum Essen bleibst. Du hast doch morgen frei, nicht wahr?«

»Ich habe sogar eine ganze Woche Urlaub«, antwortete er und lächelte sie an. Eileen gegenüber achtete er sorgfältig auf seine Ausdrucksweise, und von seinem Londoner Akzent war heutzutage kaum noch was zu hören. Infolge der Kontakte zu den Leuten aus der Mittelschicht, die er hier überwiegend hatte, hatte er sich deren Art zu sprechen angewöhnt. »Also könnten wir nach Weihnachten zusammen ein paar Tage wegfahren, wenn du willst.«

»Ich habe meine Wirtschaft, und wo ist es gerade schöner als in einem gemütlichen und warmen Haus? Fühlst du dich übrigens als Pub-Besitzer vielleicht einfach zu mir hingezogen, weil ich selbst Wirtin bin?«

Er lachte leise auf. »Nun ja, ich fühle mich in Pubs durchaus zu Hause, und dein Pub ist wirklich nett, Eileen. Ich habe echt Glück, dass ich so eine schöne Stammkneipe gefunden habe, während ich hier oben bin.«

»Und ich finde es andersrum sehr praktisch, jemanden zu haben, der mir ab und zu ein bisschen helfen kann«, zog sie ihn auf. »Zum Beispiel als mein Schankkellner krank war, hätte ich die Fässer ganz unmöglich selbst aus dem Schuppen holen können. Vor seinem Tod hat das immer mein Mann gemacht.«

Er nickte stumm. Womöglich hoffte sie darauf, dass er auch nach dem Krieg in Schottland bliebe, doch sobald er aus dem Dienst fürs Militär entlassen würde, würde er ins Pig & Whistle zurückkehren.

Er dachte kurz an sein Zuhause und an seine Ehefrau. Er war noch immer wütend, auch wenn er sich zwischenzeitlich eingestanden hatte, dass ihn durchaus eine Mitschuld an dem Techtelmechtel zwischen ihr und diesem Ami traf. Es wäre nicht so schlimm, wenn sie jetzt nicht ein Kind von diesem Kerl erwarten würde. Vielleicht hätte er ihr ihren Seitensprung auf Dauer ja verziehen, aber er war sich alles andere als sicher, ob er noch einmal mit ihr zusammenleben könnte, wenn sie nun das Kind von einem anderen bekam.

Am besten würde er sich erst darüber Gedanken machen, wenn es so weit war …