In Ellies Hals stieg bittere Galle auf. Sie schmeckte einfach widerlich, und obendrein war Ellie furchtbar schwindelig. Sie kniete auf dem Badezimmerboden und verstand nicht, was es zu bedeuten hatte, dass sie sich so elend wie noch nie zuvor im Leben fühlte und sich jetzt am dritten Tag in Folge morgens übergab. Was war nur los mit ihr? Sie zerrte an der Kette der Toilettenspülung, rappelte sich mühsam auf und lehnte sich noch kurz gegen das Waschbecken, bis auch der letzte Rest von Übelkeit verflog.
Dann wischte sie sich den Mund mit einem feuchten Handtuch ab und ging mit zögerlichen Schritten in die Küche, in der Mrs. Tandy gerade mit dem Rösten ihres morgendlichen Toasts beschäftigt war. Lächelnd drehte sich die alte Dame nach ihr um, bei Ellies Anblick aber wurde ihre Miene ernst.
»Was ist, Liebes? Du siehst entsetzlich aus.«
»So fühle ich mich auch.« Ermattet sank die junge Frau auf einen Küchenstuhl. »Ich habe mich schon wieder übergeben, und mir wurde furchtbar schwindelig. Glauben Sie, ich habe mir was Schlimmes eingefangen?«
Ms. Tandy riss entsetzt die Augen auf und wägte ihre Worte sorgsam ab. »Nun ja, Liebes, ich fürchte, ja, denn ich vermute, dass du … schwanger bist.«
»Schwanger? Aber das kann nicht sein.« Wenn Ellie nicht gesessen hätte, wäre sie vor Schreck wahrscheinlich umgefallen. »Peter war vor über einem Jahr zum letzten Mal zu Hause …« Vor Verzweiflung fing sie an zu schluchzen, denn nachdem sie gerade erst begonnen hatte, das entsetzliche Geschehen zu überwinden, musste sie erkennen, dass es offenbar noch längst nicht ausgestanden war. Sie brach in Tränen aus. »O nein – das heißt, es ist von ihm, schließlich kann es gar nicht anders sein. Was soll ich tun? Peter wird mich hassen, denn er wird mir niemals glauben, dass ich nicht freiwillig mit dem Typen mitgegangen bin …« Mit dem Handrücken fuhr sie sich durch das Gesicht.
»Ich werde es ihm sagen«, sagte ihr die Wirtin zu. »Es tut mir furchtbar leid, Liebes. Damit du es ganz sicher weißt, musst du dich untersuchen lassen, aber meiner Meinung nach ist es deinem Gesicht schon anzusehen. Ich hatte mich bereits gefragt, ob es das ist, aber ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen.«
»Aber ich will kein Kind von dieser Bestie.« Das Mädchen brach in Panik aus. Sie könnte ihren Freundinnen und Nachbarinnen nicht mehr gegenübertreten, wenn sie dächten, dass sie sich auf einen anderen eingelassen hatte, statt darauf zu warten, dass ihr Mann nach Hause kam. Maureen war wirklich nett zu ihr und lud sie ab und zu zum Tee oder ins Kino ein, aber ein paar der anderen Frauen würden denken, dass ihr das nur recht geschah. Das war natürlich nicht gerecht, nachdem sie vergewaltigt worden war, und der Gedanke, dass sie jetzt von einem Mann, der sie geschlagen und sich ihr gewaltsam aufgezwungen hatte, schwanger war, war ihr verhasst. »Ich muss es loswerden – es gibt doch sicher eine Möglichkeit …«
»Tatsächlich gibt es Frauen, die dein Kind in irgendwelchen schmuddeligen Hinterzimmern für dich töten würden, aber dabei könnte es passieren, dass auch du selbst stirbst. Ich weiß, das ist nicht leicht, Ellie, doch ich wüsste nicht, wie ich dir helfen soll …«
»Aber wenn ich nichts unternehme, wird mich Peter umbringen!«, stieß Ellie aus, denn seine Mutter hatte sie bereits davor gewarnt, dass er es sich ganz sicher nicht gefallen lassen würde, falls sie ihn mit irgendwelchen anderen Männern hinterging.
»Er würde doch wohl eher den Kerl umbringen, der dich vergewaltigt hat«, beschwichtigte die Wirtin, sah sie dabei aber traurig an. »Am besten schicken wir dich erst mal weg. Dann könntest du das Kind in einem Heim der Heilsarmee bekommen, zur Adaption freigeben und zurück nach Hause kommen, ohne dass hier jemand etwas mitbekommt, auch wenn es sicherlich Gerede geben wird.«
»Aber was ist mit meinem Job?«
»Ich fürchte, dass du den nicht weitermachen kannst. Ich werde Mrs. Stimpson sagen, du wärst überstürzt zu deiner kranken Großmutter gefahren, um sie zu pflegen, und wenn du zu mir zurückkommst, findest du ganz sicher einen anderen Job. Vielleicht nicht als Frisörin, aber Arbeit gibt es im Augenblick auf jeden Fall genug.«
»Sie würden mich dann wieder aufnehmen?« Wieder füllten Ellies Augen sich mit Tränen, denn wenn Mrs. Tandy ihr nicht hülfe, hätte sie jetzt keine andere Wahl, als doch zu einer dieser Frauen, die ungewollte Babys wegmachten, zu gehen. Nur wollte sie nicht sterben, und im Grunde wollte sie auch nicht das unschuldige Baby töten, das in ihrem Innern wuchs. Es konnte schließlich nichts dafür, dass es bei einer Vergewaltigung entstanden war. »Ich will das Kind nicht kriegen, aber wenn es nicht anders geht …« Sie ließ den Kopf hängen und brach erneut in leises Schluchzen aus.
»Also bitte, Liebes.« Mrs. Tandy strich ihr sanft über den Kopf. »Von solchen Dingen geht die Welt nicht unter, und vor allem ist das auch schon anderen passiert. Ich weiß, dass der Gedanke, dass du nun von diesem Widerling ein Kind erwartest, unerträglich ist, aber das Kind kann nichts dazu, und du würdest doch sicher nicht ein unschuldiges Baby töten wollen.«
»Nein«, gab Ellie zu, auch wenn sie ohne Mrs. Tandys Unterstützung sicherlich versucht gewesen wäre, all die altmodischen Mittel zu probieren, selbst wenn sie meist erfolglos waren. Es gab erschreckende Geschichten davon, wie sich Mädchen Stricknadeln in ihren Körper rammten, um ein ungewolltes Baby umzubringen, und dann selbst starben oder, wenn sie überlebten, unfruchtbar wurden. Wenn es einen sicheren, leichten Weg gegeben hätte, hätte sie die Sache vielleicht auf der Stelle hinter sich gebracht, aber sie wollte eines Tages Peters Kinder kriegen können – falls er ihr nicht doch noch auf die Schliche kam. »Glauben Sie, dass ich es lang genug verstecken kann?« Die ängstlich-flehende Miene des jungen Mädchens zauberte ein nachsichtiges Lächeln ins Gesicht der anderen Frau. »Was soll ich tun, wenn er dahinterkommt und sich dann von mir scheiden lassen will?«
»Darüber machst du dir am besten dann Gedanken, wenn es so weit ist. Jetzt müssen wir erst einmal deine Kleider weiter machen, und am besten kaufst du dir noch ein Korsett, damit man deinen Bauch erst mal nicht sieht. Sobald ich denke, dass man ihn nicht mehr verstecken kann, sage ich dir Bescheid und schicke dich ins Heim der Heilsarmee. Ich gehe vorher schon einmal dorthin, erkläre ihnen, was passiert ist und ab wann du einen Platz dort brauchst. Die Vergewaltigung war zwei Wochen vor Weihnachten, wahrscheinlich kommt das Kind demnach im Herbst. Du müsstest also spätestens im Mai von hier verschwinden, damit niemand etwas merkt.«
Schniefend wischte Ellie sich die Tränen fort. Auch wenn ihr nicht mehr übel war, bekäme sie im besten Fall ein Stückchen Toast herunter, aber selbst die kleine Menge fester Nahrung half, dass es ihr wieder besser ging. Natürlich war sie wütend und verängstigt, doch sie hatte eine gute Freundin in der netten Mrs. Tandy, und sie war ihr wirklich dankbar, dass sie angeboten hatte, ihr in dieser Sache beizustehen.
»Dann mache ich für Montag einen Arzttermin«, erklärte sie. »Glauben Sie nicht, dass er mir helfen würde, dieses Baby loszuwerden, wenn er wüsste, dass ich vergewaltigt worden bin?«
»Ganz sicher nicht. Ich denke, du musst nun sehr tapfer sein und diese Sachen durchstehen, denn du hast einfach keine andere Wahl.«
Sie nickte, denn auch wenn sie immer noch in einem fürchterlichen Zwiespalt war, war ihr die Vorstellung, das Leben, das in ihr heranwuchs, irgendwo in einem schmuddeligen Hinterzimmer umzubringen, ein Graus. Sie legte eine Hand an ihren Bauch, wie um das Baby zu beschützen, obwohl sie von ganzem Herzen wünschte, dass das Kind von Peter wäre statt von dem brutalen Kerl, von dem sie vergewaltigt worden war. Am liebsten hätte sie die Saat des Bösen irgendwie aus sich herausgerissen, aber gleichzeitig verspürte sie das schmerzliche Verlangen, dieses unschuldige Kind vor Schaden zu bewahren. Sie hatte Mutterliebe niemals selbst erlebt. Sie war von einer Tante großgezogen worden, der sie vollkommen egal gewesen war, und hoffte, dieses Schicksal bliebe ihrem Kind erspart. Sie könnte es zwar nicht behalten, doch sie müsste einfach beten, dass es gleich nach der Geburt zu Menschen kommen würde, die ihm all die Liebe gäben, die ihr selbst nie zuteilgeworden war.
*
Peggy blickte auf die lose Bluse, die sie heute Morgen trug. Sie war hellblau mit winzig kleinen weißen Punkten, und sie passte ausgezeichnet zu dem dunkelblauen Umstandsrock, der sich entsprechend ihrem zunehmenden Leibesumfang stufenweise weiter stellen ließ. Obwohl sie erst im siebten Monat war, war sie bereits so dick und behäbig wie ein Wal. Wenn alles gut ging, würde sie ihr Kind im März bekommen, und inzwischen konnte sie es fast nicht mehr erwarten, Ables Sohn im Arm zu halten und zu schauen, ob er ihm ähnlich sah. Es würde ganz sicher ein Junge werden, denn bei Janet hatte sie nicht einmal ansatzweise so viel zugenommen wie bei dieser Schwangerschaft. Zwar war sie auch bei Pip nicht annähernd so dick gewesen, aber fülliger als bei seiner Schwester, und vor allem lag das Baby ungewöhnlich hoch. Nellie sagte auch, dass es ein Junge würde, ebenso wie Alice, deren drei Söhne alle schon als Kleinkinder gestorben waren – einer während eines Typhusausbruchs und die beiden anderen an Diphterie.
»Ich hab immer noch mehr Kinder haben wollen«, erzählte sie, als sie auf einen kurzen Schwatz zu Peggy in die Wirtschaft kam. »Nur leider hat mein Mann im Großen Krieg dann Senfgas abgekriegt.«
»Ich weiß, Liebes.« Mit einem mitfühlenden Lächeln schnitt ihr Peggy ein Stück Apfelkuchen ab. »Der geht heute aufs Haus.«
»So wirst du nie etwas verdienen, Peggy Ashley«, schimpfte Alice grinsend, schob sich dann aber genüsslich einen ersten Bissen ihres Kuchens in den Mund. »Du bist eine echt gute Bäckerin und Köchin«, lobte sie. »Aber was wirst du in den letzten Wochen machen? Du kriegst all die Arbeit dann doch ganz bestimmt nicht mehr alleine hin.«
»Das werde ich auch gar nicht erst versuchen. Janet wird mir öfter in der Wirtschaft helfen, abends kommt dann Anne, Nellie putzt inzwischen fast allein, und ich versuche, jemanden zu finden, der mir etwas in der Küche helfen kann.«
»Maureen kocht ziemlich gut, wenn auch natürlich nicht so gut wie du. Sie würde dir doch sicher helfen – bis sie selbst so dick ist, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.« Die Alte lachte meckernd auf. »Wahrscheinlich liegt es an der Luft hier in der Gegend, dass ihr alle schwanger seid …«
»Maureen hat mir schon angeboten, gelegentlich zu helfen«, meinte Peggy, »doch im Grunde wäre es mir lieber, jemanden zu haben, der mir jeden Tag zur Hand gehen kann. Ich könnte eine Anzeige aufgeben und …«
Bevor sie ihren Satz beenden konnte, ging die Tür des Schankraums auf, und eine Frau, die etwas älter war als sie, betrat mit einem Koffer in der Hand den Pub. Sie wusste sofort, wer sie war, und lächelte sie freundlich an.
»Helen – endlich haben Sie es geschafft.«
»Ja, ich habe meinen Mann verlassen«, meinte Helen Barnes und klang verwundert, doch vor allem stolz. »Er hat was über Sally und die Art, wie sie gestorben ist, gesagt, und plötzlich habe ich es nicht mehr ausgehalten und gepackt, während er bei der Arbeit war. Ich bin hierhergekommen, weil ich hoffe, dass Ihr Angebot, mich erst mal aufzunehmen, noch gilt.«
»Natürlich tut es das.« Sie hatte sich mit Helen unterhalten, nachdem deren wundervolle Tochter während eines Bombenangriffs umgekommen war. Sally war mal mit Maureen zu ihnen in den Pub gekommen, und da Peggy sie sofort ins Herz geschlossen hatte, hatte sie der Tod der jungen Frau zutiefst erschüttert, und vor allem ihre Mutter hatte ihr sehr leidgetan. Nach dem Verlust erst ihres Sohns und dann ihrer Tochter war sie ganz allein mit ihrem herrschsüchtigen Ehemann zurückgeblieben, deshalb hatte Peggy ihr ein Zimmer angeboten, falls sie je den Mut fände zu gehen. »Ich werde Janet sagen, dass sie kurz hier unten übernehmen soll, damit ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen kann. Es ist zwar sauber, aber leider ist das Bett noch nicht gemacht. Ich werde Ihnen zeigen, wo die Bettwäsche zu finden ist.«
»Ich danke Ihnen sehr …«, erklärte Helen, während Peggy an die Flurtür trat und nach ihrer Tochter rief.
Janet nickte, als ihre Mutter ihr erklärte, dass sie sie vertreten müsste, und wandte sich Alice zu, als Peggy mit der anderen Frau nach oben ging.
»Auch das noch«, stellte Alice seufzend fest. »Als hätte deine Mum nicht auch schon so genug zu tun …«
»Sie würde sogar noch ihr eigenes Bett hergeben, wenn sie dächte, dass es jemand bräuchte«, stimmte Janet ihr kopfschüttelnd zu. »Ich wusste, dass sie Mrs. Barnes ein Zimmer angeboten hat. Sie ist die Mutter von der jungen Sally, der Kollegin von Maureen, die während eines Bombenangriffes gestorben ist. Sie war nur einmal hier, doch Mum hat sie sofort ins Herz geschlossen und war völlig fertig, als sie umgekommen ist.«
»Ich weiß noch, sie hat deshalb fürchterlich geweint«, entsann auch Alice sich. »Am besten spannt ihr Sallys Mutter ein, solange sie hier bei euch wohnt. Sie könnte in der Bar bedienen oder in der Küche helfen oder so.«
»Das wird sie sicher tun. Mum sagt, sie würde eine Ausbildung zur Sekretärin machen wollen, aber solange sie zur Schule geht, hilft sie hier sicher auch ein bisschen aus.«
»Mitunter kommen die Dinge gerade so, wie man sie braucht«, bemerkte Alice und nahm einen letzten Schluck aus ihrem Glas. »Dann mache ich mich langsam wieder auf den Weg. Ich muss noch einkaufen und meinen Haushalt machen, auch wenn es da nicht gerade viel zu machen gibt, weil ich ja allein lebe.«
Janet nickte ihr zum Abschied lächelnd zu, und als sie ihren dritten Gast bediente, kehrte Peggy an die Bar zurück.
»Danke, Liebes. Du kannst weitermachen, wobei ich dich unterbrochen habe, denn jetzt bin ich schließlich wieder da.«
»Den Brief an Mike kann ich auch später fertig schreiben, also setz dich einfach erst mal hin. Maggie schläft noch, und ich komme hier auch gut allein zurecht.«
»Wenn du dir sicher bist, kann ich ja schon mal rübergehen und für heute Abend kochen.«
Janet schüttelte den Kopf, weil sich ihre Mutter hätte etwas ausruhen sollen, doch lachend meinte Peggy: »Keine Angst, ich würde es dir sagen, wenn es mir nicht gut gehen würde, Jan. Aber ich bin okay, und außerdem hat Helen zugesagt, mir in der Küche zukünftig zur Hand zu gehen. Nach ihrer Hochzeit hat sie auf Betreiben ihres Mannes ihren Job als Sekretärin aufgegeben, aber dafür heimlich einen Kochkurs in einem sehr guten Restaurant gemacht und dreimal in der Woche morgens dort gearbeitet, bis er es rausgefunden hat. Sie sagt, vor allem ihre süßen Brötchen und Biskuitrollen wären wirklich gut, doch sie käme auch mit allem anderen zurecht. Wir werden also ausprobieren, wie es für uns am besten läuft, dann brauchst du nicht mehr immer einzuspringen, wenn ich mich ausruhen muss. Schließlich hast du mit Maggie und Mike genug zu tun, wenn er endlich dauerhaft nach Hause kommt.«
Janet sah sie forschend an. »Und es wird dir ganz sicher nicht zu viel, wenn jetzt auch Helen noch hier wohnt?«
»Es ist ja nur vorübergehend, und wenn sie mir zur Hand geht, wird uns allen das das Leben leichter machen, Jan. Vor allem ist ihr Mann ein elender Tyrann, und wenn ich ihr nicht angeboten hätte herzukommen, hätte sie niemals den Mut gehabt zu gehen. Sie wird sich eine eigene Bleibe suchen, wenn sie so weit ist, aber fürs Erste bin ich wirklich froh, dass sie gekommen ist. Die arme Sally konnte ich nicht retten, aber wenn ich nun die Chance habe, ihrer Mum zu helfen, werde ich das tun.«
»Solange du dich nicht ausnutzen lässt …«
Peggy lachte leise auf. »Da müsste schon wer anderes kommen als eine Helen Barnes. Und nun werde ich rüber in die Küche gehen. Helen zieht sich schnell um, und wenn sie runterkommt, räumt sie hier erst einmal die Tische ab.«
Lächelnd wandte Peggy sich zum Gehen. Es wäre ein Geschenk des Himmels, wenn sie jetzt die Hilfe einer halbwegs guten Köchin hätte, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zu erschöpft wäre, um dieser Arbeit weiter ganz alleine nachzugehen. Die Rückenschmerzen, die sie bisher manchmal hatte, störten sie nicht wirklich, aber trotzdem wäre etwas Unterstützung sicher nicht verkehrt.
Sie hatte gerade angefangen, Mehl und Margarine abzumessen, als ein Klopfen an der Hintertür sie bei der Arbeit unterbrach.
»Herein …«
Die Tür wurde geöffnet, und Tom Barton kam herein.
»Schön, dich zu sehen, Tom, aber müsstest du denn nicht bei der Arbeit sein?«
»Ich liefere gerade ein paar Waren aus«, erklärte er. »Mr. Jackson sitzt im Laden, aber ich muss schnell zurück, denn wenn zu viele Kunden kommen, macht ihn das nervös. Nur muss ich vorher kurz mit Ihnen reden, denn ich habe ein Problem und keine Ahnung, was ich machen soll …«
Peggy konnte sehen, wie aufgeregt er war, und wusste, dass er sie niemals um Hilfe bitten würde, wäre es nicht wirklich ernst.
»Am besten setzen wir uns erst mal hin. Ich habe gerade Tee gekocht und schenke uns zwei Tassen ein.«
»Nein, danke, für mich nicht«, gab er ein wenig steif zurück. »Im Grunde hätte ich Sie nicht um Hilfe bitten wollen, aber es geht um etwas, was Sam getan hat … und was mir unendlich peinlich ist …«
Peggy spürte, dass sich ihre Nackenhaare sträubten, denn sie sah, dass Tom in ernsten Schwierigkeiten war. »Wir sind doch Freunde, Tom. Erzähl es mir. Dann sehen wir, ob ich dir helfen kann.«
»Sie wissen doch, weswegen Sam am Tag der Explosion auf diesem Trümmergrundstück war.« Als Peggy nickte, fuhr der Junge fort. »Es waren nicht nur ein paar kleine Jungs, die hofften, dass sie dort was finden würden, wofür Bert ihnen ein bisschen Schokolade oder irgendwelche anderen Süßigkeiten gibt. Als ich dort an dem Morgen ankam, war da so ein Kerl, der ihnen gesagt hat, was sie suchen sollen. Er ist verschwunden, als er mich bemerkt hat, aber trotzdem habe ich ihn dort gesehen. Und als ich vorgestern nach Hause ging, hat er mich abgepasst. Er hat gesagt, Sam hätte was gefunden, was er haben will. Er meint, dass ich es suchen soll, und wenn ich es ihm nicht gebe, wenn er nächste Woche wiederkommt, bringt er mich um …«
»Oh, Tom.« Die mütterliche Freundin starrte ihn entgeistert an. Kein Wunder, dass er nicht mehr weiterwusste und deshalb zu ihr gekommen war. »Wie konnte er so was Gemeines zu dir sagen? Woher sollst du schließlich wissen, wo die Sachen, die der junge Sam versteckt hat, sind?«
Sie sah ihm ins Gesicht und rang nach Luft. »Sag nicht, dass du das Zeug gefunden hast.«
»Mir war immer klar, dass Sam Sachen vor Ma versteckt«, räumte er ein. »Ich habe schon mal ein Versteck von ihm gefunden, aber da hat er das Zeug genommen und ist damit weggerannt. Ich wusste also, dass er auch noch andere Verstecke hat, und gestern Abend habe ich tatsächlich noch ein anderes entdeckt …« Er atmete tief durch, schob eine Hand in seine Jackentasche und zog einen flachen Schmuckkasten daraus hervor. »Das hier ist sicher jede Menge wert …«
Behutsam klappte er die Schachtel auf, und Peggy riss schockiert die Augen auf.
»Die Steine sehen wie Diamanten aus, und wenn sie echt sind, sind sie sicher ein Vermögen wert«, stieß sie mit rauer Stimme aus. Die weißen Glitzersteine waren in weißliches Metall, wahrscheinlich Platin, eingefasst und sahen wunderschön und furchtbar teuer aus. »Oh, Tom … kein Wunder, dass er dich bedroht hat. So ein Schmuckstück ist wahrscheinlich tausend Pfund wert, wenn nicht mehr …«
»Aber er hat kein Recht darauf, denn es gehört ihm nicht, und es hat auch nicht Sam gehört.« Toms Augen blitzten zornig auf. »Die Kette ist gestohlen, Peggy, und ich will mit einem solchen Typen nichts zu tun haben. Wenn ich ihm dieses Schmuckstück gebe, wird er mich wahrscheinlich zwingen, auch noch mehr für ihn zu tun, aber das will ich nicht. Und wenn ich mit dem Ding zur Polizei gehe, kommen sie vielleicht auf die Idee, ich hätte es geklaut …«
»Wenn du sie diesem Mann nicht gibst, wird er dir wehtun, Tom.« Die Wirtin sah ihn ängstlich an. »Bist du dir sicher, dass du das riskieren willst?«
»Ich bin kein Dieb, Peggy, und wenn ich mich von diesem Typen zwingen lasse, ihm den Schmuck zu geben, wird er immer wiederkommen, und dann kann ich überhaupt nicht mehr zur Polizei gehen, weil ich dann selbst schuldig bin. Ich habe mich entschieden, doch ich brauche jemanden, der mich zur Polizei begleitet und dort meine Aussage bestätigt, damit niemand denkt, ich hätte diesen Schmuck geklaut …«
Die Wirtin runzelte die Stirn. »Es dauert ja noch ein paar Tage, bis er wiederkommt. Am besten denken wir bis dahin noch mal über diese Sache nach. Es gibt doch sicher eine Möglichkeit, den Schmuck der Polizei zu übergeben, ohne dass du dadurch in Gefahr gerätst …«
»Ich habe schon die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, was ich anderes machen soll. Die Kette gehört eindeutig dem Juwelier, der sein Geschäft verloren hat, und wenn er sie zurückbekäme, könnte ihm das helfen, sich was Neues aufzubauen. Finden Sie nicht, dass er den Schmuck zurückbekommen sollte?«
»Doch, natürlich, Tom. Man sollte ihn auf jeden Fall zur Polizei bringen, aber vielleicht gibt es ja auch noch einen anderen Weg. Warum lässt du die Kette nicht erst einmal hier? Ich kenne jemanden, der uns vielleicht bei dieser Sache helfen kann … aber du müsstest mir vertrauen und würdest dann wahrscheinlich Schwierigkeiten mit dem Kerl, von dem du mir erzählt hast, kriegen, und nur du allein kannst wissen, ob du dieses Wagnis eingehen willst.«
»Auf jeden Fall. Ich bin hierhergekommen, weil ich Ihnen vertraue, und wenn Sie die Kette irgendwo verstecken, weiß ich, dass sie sicher ist.« Er sah erleichtert aus. »Ich möchte nicht, dass Sie sich Sorgen machen, doch ich hätte niemand anderen gewusst, zu dem ich gehen kann.«
»Ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist, und werde gleich jemanden kontaktieren, der uns vielleicht helfen kann.« Sie lächelte den Jungen an. »Bis dahin werde ich den Schmuck an einem sicheren Ort verwahren, und du selbst solltest langsam wieder in den Laden gehen. Mach dir keine Gedanken, Tom. Wir werden diese Sache klären.«
»Danke, Peggy. Ich bin froh, dass ich das Ding jetzt los bin, denn ich hätte es nicht gern im Haus behalten wollen, falls dort jemand einbricht, während ich im Laden bin. Und wenn ich es mit mir rumschleppe und mich der Kerl erwischt …«
»Am besten lässt du es hier. Ich melde mich bei dir«, erklärte sie und nahm die Schachtel in die Hand. »Ich lege die Schatulle sofort weg, denn schließlich will ich nicht, dass sie verloren geht, während sie hier in meiner Obhut ist.«
»Da haben Sie recht. Wir sprechen uns«, pflichtete Tom ihr grinsend bei und machte sich erleichtert, weil ihm Peggy helfen würde, das Problem zu lösen, wieder auf den Weg.
Die Wirtin trug die Schachtel in ihr Schlafzimmer, nahm dort die hübsche Stickerei vom Glück des trauten Heims von einer Wand und öffnete den kleinen Tresor, in dem sie sonst das Bargeld aus der Wirtschaft aufbewahrte, wenn sie keine Zeit hatte, um auf die Bank zu gehen. Erleichtert legte sie die Diamanten in den Safe, schloss wieder ab, hängte das Bild davor, griff nach dem Telefon, das auf dem Nachttisch stand, und wählte eine Nummer, die sie schon ein paarmal angerufen hatte, während Tom im Krankenhaus gewesen war.
Als nach dreimaligem Läuten abgehoben wurde, atmete sie auf.
»Doktor Bailey, hier spricht Peggy Ashley. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern …«
»Doch, natürlich, Peggy. Eine Frau wie Sie vergisst man schließlich nicht so leicht. Wie geht es Ihnen?«
»Gesundheitlich ganz ausgezeichnet«, meinte sie mit einem leisen Lachen, wurde aber sofort wieder ernst. »Es wäre trotzdem schön, wenn Sie mich vielleicht kurz besuchen könnten, denn ich habe ein Problem.«
»Dann komme ich am besten gleich. Wenn es Ihnen passt, bin ich in einer halben Stunde da.«
»Das ist sehr nett von Ihnen. Ja, natürlich passt mir das.«
»Dann mache ich mich sofort auf den Weg.«
Sie legten beide wieder auf, und Peggy sah sich kurz im Spiegel an. Sie hätte keine Zeit mehr, sich umzuziehen, doch sie könnte sich ein wenig schminken, sich die Haare bürsten und noch schnell die süßen Brötchen in den Ofen schieben, bevor Doktor Bailey kam. Er war so hilfsbereit gewesen, als die arme Tilly krank geworden war, und wüsste sicher auch, wie jetzt am besten mit den Diamanten und dem Mistkerl, der den armen Tom bedrohte, umzugehen war.