Tom war allein, als sie am nächsten Morgen in den Laden kam, und lächelnd registrierte sie, dass er mit der gestreiften Schürze und dem weißen Hemd mit hochgerollten Ärmeln unter schwarzen Ärmelschonern sehr professionell aussah.
»Guten Morgen, Mrs. Ashley«, grüßte er sie höflich. »Womit kann ich Ihnen heute dienen?«
»Maureen hat mir erzählt, ihr hättet Zuckerrübensirup, und ich hoffe, dass noch eine Büchse für mich davon übrig ist.«
»Nachdem ich mich an Ihre leckere Siruptarte erinnert habe, dachte ich, ich stelle vorsorglich zwei Dosen für Sie weg.« Grinsend legte er die beiden Büchsen in den von ihr auf dem Tresen abgestellten Einkaufskorb.
»Dazu hätte ich gern jeweils zwei Dosen Büchsenfleisch und Streichwurst, meine wöchentliche Zuteilung an Butter, Margarine, Zucker, und ich denke, meine Marken reichen noch für je fünf Scheiben Kochschinken und Speck. Dazu brauche ich eine Packung Streichhölzer, drei Kerzen und ein Stückchen Seife.«
Tom ging die gewünschten Waren holen, rechnete den Preis zusammen und erklärte: »Das macht insgesamt zwei Pfund, acht Shilling, sieben Pence. Die Seife und die Kerzen sind ein Sonderangebot, denn sie liegen schon eine Weile hier herum.«
»Danke.« Peggy zahlte, blickte über ihre Schulter, und da sie allein im Laden waren, fügte sie hinzu: »Ich muss dir etwas sagen, Tom – derjenige, der mir geholfen hat, die Petition zugunsten deines Dads zu starten, hat gesagt, dass er uns wieder helfen wird. Er kennt jemanden bei der Polizei und hat gesagt, sie würden diesem Schurken eine Falle stellen. Mehr hat er nicht gesagt.«
Obwohl Tom nickte, runzelte er gleichzeitig die Stirn. »Und Sie sind sich sicher, dass Sie ihm vertrauen können?«
»Unbedingt, denn Doktor Bailey ist ein anständiger Mann, der auch schon deiner Mum am Tag der Explosion geholfen hat. Ich weiß nicht, was er vorhat, bin mir aber sicher, dass er eine Lösung finden wird …«
Bevor sie weitersprechen konnte, ging die Tür des Ladens auf, und Mrs. Tandy kam herein. Sie lächelte dem jungen Tom und Peggy zu und tauschte ein paar Nettigkeiten mit den beiden aus.
»Wir sprechen uns«, versprach die Wirtin Tom, ehe sie ging, und höflich wandte er sich seiner nächsten Kundin zu.
»Ich hätte gerne ein paar Malzbonbons«, erklärte Mrs. Tandy, denn die anderen Sachen brachte Tom ihr immer freitags heim. »Die arme Ellie fühlt sich nicht so gut, da dachte ich, die muntern sie vielleicht ein bisschen auf.«
»Bestimmt. Ich finde, dass sie in den letzten Tagen etwas blass aussieht. Sie ist doch hoffentlich nicht krank?«
»O nein, sie ist nur etwas müde. Sie hat einen Brief bekommen, dass es ihrer Großmutter nicht gut geht, und das hat ihr ziemlich zugesetzt.«
Nickend wog er die gewünschten Bonbons gab und tat wie früher schon Maureen noch eine kleine Extra-Süßigkeit hinzu. Das fiel auch Mrs. Tandy auf, und lächelnd meinte sie: »Es ist sehr angenehm, wie freundlich man jetzt hier wieder bedient wird, Tom. Dein Vater war genauso nett wie du. Ich weiß, was er getan hat, aber dieser Überfall war meiner Meinung nach ein Ausrutscher, wie er jedem mal passieren kann.«
»Wir machen alle Fehler, und mein Vater würde alles dafür geben, wenn er diese Sache ungeschehen machen könnte«, stimmte Tom ihr zu.
»Nun ja, jetzt dient er seinem Land, und mehr kann man von keinem Mann verlangen, findest du nicht auch?«
Mit der Bonbontüte in der Hand verließ sie das Geschäft, und Tom verschloss das nur noch halb gefüllte Glas und stellte es mit dem Gedanken, dass er Bonbons auf die Einkaufsliste für den Großmarkt schreiben müsste, wieder ins Regal.
*
»Ich habe jetzt im Krankenhaus gekündigt, denn obwohl ich durchaus noch ein bisschen länger hätte machen können, ist mein Bauch nicht mehr zu übersehen, und vor ein paar Tagen hat die Oberschwester mich schon komisch von der Seite angeschaut. Da dachte ich, bevor ich rausgeworfen werde, sollte ich aus freien Stücken gehen«, erklärte Maureen lachend.
»Es tut der Schwester sicher leid, dich zu verlieren«, stellte Peggy fest.
»Auf jeden Fall. Ich gehe auch nicht gern, solange noch so viel zu tun ist, aber leider bleibt mir keine andere Wahl. Vor allem heißt das, dass ich dir nun ab und zu zur Hand gehen kann, obwohl mir Janet bereits erzählt hat, dass dir eure neue Mitbewohnerin beim Kochen hilft. Aber ich kann ja auch servieren, wenn Janet oder Anne mal eine Pause braucht.«
»Helen ist tatsächlich eine wunderbare Köchin. Zwar behauptet Jan, dass meine süßen Brötchen besser wären, und sie hat ihre eigenen Methoden, aber sie macht köstliche Biskuitrollen, und der Pflaumencrumble mit Vanillesoße, den sie gestern zubereitet hat, ging weg wie nichts.«
»Dann wirst du es in der Küche ja jetzt leichter haben, auch wenn Janet meint, dass Mrs. Barnes sich nebenher in einem Abendkurs in Steno und in Schreibmaschineschreiben eingeschrieben hat.«
»Vor ihrer Heirat war sie Sekretärin, aber Mr. Barnes hat sie gezwungen, diese Arbeit aufzugeben, und als sie sich einen kleinen Job in einem Restaurant gesucht hat, hat er ihr nicht einmal den gegönnt. Der Kerl ist ein Tyrann, der einfach alles kontrollieren muss.«
»Ich weiß noch, dass er auch zu Sally schrecklich war.« Maureen traten Tränen in die Augen. »Es bringt mich immer noch zum Weinen, wenn ich daran denke, wie sie umgekommen ist … dieser verdammte Krieg!«
»Ich weiß, Liebes«, erklärte Peggy voller Mitgefühl. »Ich weiß gar nicht, wie viele Menschen durch die ganzen Bomben umgekommen sind.«
Die beiden Frauen schwiegen kurz, denn trotz der Trauer waren sie dankbar, dass die Deutschen sich nicht mehr auf London konzentrierten, weil sie anderswo beschäftigt waren.
»Sally hat mir mal erzählt, dass ihr durchaus etwas an ihrer Mutter liegen würde und sie hauptsächlich zu Hause ausgezogen wäre, weil sie ihren Vater hasst. Nachdem ich ihn getroffen habe, kann ich das gut nachvollziehen, denn Mr. Barnes ist tatsächlich ein grauenhafter Mensch.«
»Ich bin nur froh, dass Helen ihn verlassen hat. Jan denkt, er würde kommen, um sie heimzuholen, wenn er wüsste, wo sie ist – aber dem werde ich die Meinung geigen, falls er sich hier wirklich blicken lässt.«
Maureen nickte lächelnd, als sie Peggys Augen blitzen sah. »Da kriege ich ja beinahe Mitleid mit dem Kerl. Und ich muss langsam heim, um meiner Gran etwas zur Hand zu gehen. Es ist nicht leicht für sie, dass sie sich praktisch ganz allein um Shirley kümmern muss. Nur gut, dass ich in Zukunft häufiger zu Hause bin, auch wenn sie sagt, dass sie sehr gut allein klarkommt und ich dich lieber hier im Pig & Whistle unterstützen soll.«
»Ich habe Hilda immer schon für ihre eiserne Entschlossenheit bewundert«, stellte Peggy fest. »Sie war stets sehr gut zu dir, Maureen, und auch zu ihrem Sohn, obwohl er das im Grunde nie zu schätzen wusste.«
»Doch, inzwischen schon.« Nach einer kurzen Pause fuhr Maureen mit leiser Stimme fort: »Was ich dir jetzt erzähle, bleibt am besten erst mal unter uns. Ich mache mir Gedanken über ihn, denn Violet ist furchtbar ungeduldig, und ich habe nicht den Eindruck, dass ihr wirklich etwas an ihm liegt. Sie geht fast täglich aus und bleibt dann immer Stunden weg. Sie sagt, sie müsste ihre Kundinnen besuchen, und mein Vater ist dann fast den ganzen Tag allein. Ich schaue in der Regel vor der Arbeit bei ihm rein, und Tom geht morgens – und wenn Dad nicht runterkommt – auch später noch mal zu ihm rauf. Manchmal hütet Dad den Laden, während Tom die Lieferungen ausfährt, aber spätestens nach einer halben Stunde wird es ihm zu viel, und gestern hat er einer Kundin aus Versehen zwei Shilling mehr herausgegeben, als sie hätte kriegen sollen. Sie war so ehrlich, ihn drauf hinzuweisen, doch das würden ganz bestimmt nicht alle tun.«
»Wahrscheinlich hat er Glück, dass er nach seiner schlimmen Krankheit überhaupt noch etwas machen kann. Es tut mir leid, dass Violet nicht liebevoller ist, schließlich ist sie seine Frau …«
»Die meiner Meinung nach nicht völlig unschuldig an seiner Krankheit ist, denn sie hat ihm all dieses fetttriefende Essen vorgesetzt. Ich habe meinem Vater morgens immer Toastbrot oder Haferbrei gemacht, obwohl er Speck und Eier liebt, aber sie kocht ihm täglich einen Riesenteller voller ungesunden Zeugs und ist beleidigt, wenn er es nicht isst.«
Mit nachdenklicher Stimme fragte Peggy: »Weiß sie überhaupt, dass das Geschäft nicht deinem Vater, sondern deiner Großmutter gehört?«
Nach kurzem Zögern räumte Maureen ein: »Gran hat darauf bestanden, es auf meinen Namen umzuschreiben, weil sie sichergehen wollte, dass mich diese Frau nicht eines Tages um mein Erbe bringt.«
»Oje. Wenn Violet nicht weiß, dass ihm der Laden nicht gehört, geht sie wahrscheinlich davon aus, dass er mal ihr gehören wird, falls es zum Schlimmsten kommt.«
Bei dem Gedanken wurde Maureen schlecht. »Ich hatte mich bereits die ganze Zeit gefragt, ob sie womöglich auf ein ordentliches Erbe hofft und Dad in der Erwartung, dass der nächste Schlaganfall ihn umbringt, absichtlich so viel alleine lässt.«
»Du denkst doch nicht …« Ihre Freundin riss entsetzt die Augen auf.
»Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich so weit gehen würde, meinen Vater umzubringen, aber sie tut auch nicht wirklich was, damit er sich noch mal von seinem Schlaganfall erholt.«
»Nur gut, dass du und Tom euch um ihn kümmert«, stellte Peggy seufzend fest. »Und dabei hat der arme Junge es auch so schon alles andere als leicht.«
»Meinst du, weil sein Vater jetzt bei der Armee und seine Mutter immer noch nicht aus dem Krankenhaus entlassen worden ist?«
»Das auch. Aber dazu hat er nun auch noch ein Problem mit einem fiesen Kerl, dem man so schnell es geht das Handwerk legen muss.«
Jetzt riss Maureen entsetzt die Augen auf. »Das klingt ziemlich gefährlich. Kann ich irgendetwas tun?«
»Das kann ich noch nicht sagen, aber vielleicht können wir dich als Zeugin brauchen oder so. Heute Abend werde ich noch einmal mit Doktor Bailey reden und dich wissen lassen, ob du uns in dieser Sache helfen kannst.«
»Du weißt, wo du mich findest«, bot Maureen ihr lächelnd an und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie fand, die arme Peggy sah etwas müde aus, was aber in der letzten Phase einer Schwangerschaft nicht anders zu erwarten war, und wenn sich Peggy nicht verrechnet hatte, brächte sie ihr Kind in sechs bis sieben Wochen auf die Welt.
Nachdenklich trat sie den Heimweg an. Stimmte die Vermutung ihrer Freundin, dass die Frau ihres Vaters dachte, sie würde einmal üppig erben, stieße Henry etwas zu? Er war ein stolzer Mann und hatte ihr wahrscheinlich nicht erzählt, dass seine Mutter die Besitzerin des Ladens war. Vor allem war er sicher davon ausgegangen, dass er ihn mal erben würde, wenn die alte Dame starb. Anscheinend hatte sie mit gutem Grund darauf bestanden, dass er nun auf Maureens Namen statt auf ihren weiterlief.
»Ich habe seinen Pachtvertrag noch mal um ein paar Jahre verlängert«, hatte ihr die Großmutter erklärt. »Solange Krieg herrscht und hier ständig Bomben fallen, könnte ich das Geschäft schlecht verkaufen, doch ich habe ihm gesagt, ich würde es vielleicht nach Kriegsende verkaufen wollen. Er war deshalb ziemlich wütend und meinte, dass ich ja wohl nichts verkaufen kann, was einmal ihm gehören soll. Deswegen ist mir klar, dass dir die beiden jede Menge Ärger machen werden, sollte ich vor Henry gehen, Maureen.«
Es war Maureen nicht angenehm, dass jetzt das Haus und das Geschäft auf ihren Namen liefen, aber Hilda war so aufgewühlt gewesen, dass sie nachgegeben hatte, auch wenn es wahrscheinlich Streit mit ihrem Vater und Violet geben würde, wenn sie irgendwann dahinterkämen, dass sie übergangen worden waren. Sie wagte nicht sich vorzustellen, was Henry denken würde, wenn er wüsste, dass nun sie die Eigentümerin des Ladens war, so dankbar und so nett er sich ihr gegenüber derzeit auch benahm. Sie würde Violet und ihn ganz bestimmt nicht auf die Straße setzen, aber eine angemessene Miete würde sie auf jeden Fall verlangen, denn das hätte ihrer Meinung nach auch Hilda all die Jahre machen sollen. Zwar musste ihre Gran nicht ganz so knapsen wie die meisten anderen Witwen, die sie kannte, und natürlich trug Maureen inzwischen ihren Anteil zu den Lebenshaltungskosten bei, doch wenn sie alle Rechnungen beglichen hatte, blieb am Ende eines Monats nichts mehr übrig. Wenn sie allerdings ein bisschen Miete fürs Geschäft bekommen oder Henry sich als ein fürsorglicher Sohn erwiesen und darauf bestanden hätte, sie mit ein paar Shilling wöchentlich zu unterstützen, hätte das auf alle Fälle einen Unterschied gemacht.
Während Henry wegen des entgangenen Erbes vielleicht etwas angesäuert wäre, wäre Violet sicher außer sich vor Zorn. Doch falls sie hoffte, dass er sterben und sie alles erben würde, wäre es wahrscheinlich besser, wenn sie wüsste, dass sie leer ausgehen würde, stieße ihrem Gatten etwas zu. Auch wenn Maureen dadurch den momentanen Waffenstillstand zwischen ihnen bräche, nähme sie den Zorn der anderen Frau bereitwillig in Kauf, um ihrem Vater weitere Rücksichtslosigkeiten zu ersparen. Nur ließe Violet, wenn Maureen ihr jetzt die Meinung sagte, ihren Zorn auf sie vielleicht an ihrem Vater aus.
Maureen war hin- und hergerissen, und sie hatte keine Ahnung, was das beste Vorgehen wäre, um ihrem Vater beizustehen.
Vielleicht war es ja auch verkehrt, so schlecht von Violet zu denken, denn sie war im Krankenhaus sehr liebevoll mit Henry umgegangen und schien sich gefreut zu haben, als er vor den Weihnachtstagen endlich heimgekommen war.
Nun aber ging sie völlig anders mit ihm um. Sie hatte keinerlei Geduld mit ihrem kranken Mann, und statt die Kundschaft ihres Unternehmens weiterhin zu Hause zu empfangen und sie mit dem Anblick eines halb gelähmten Kranken zu verschrecken, suchte sie sie jetzt in deren Häusern auf.
Im Grunde kannte sie die Stiefmutter nicht gut genug, um sich ein Urteil anzumaßen, überlegte sie und lief mit schnellen Schritten heim. Tom hatte bei der Durchsicht der Bestände unter anderem Puddingpulver in verschiedenen Geschmacksrichtungen ausgegraben, und um Shirley eine Freude zu bereiten, würde sie nach ihrer Heimkehr Erdbeerpudding machen, auf den ihre kleine Tochter ganz versessen war.
*
Tom schloss die Tür des Ladens ab, steckte den Schlüssel ein und lief pfeifend heim. Bald würde er den ersten Lohn bekommen, und dann hätte er zum ersten Mal seit seinem Unfall endlich wieder einmal etwas eigenes Geld. Nachdem er morgens die Regale ausgewaschen hatte, tat ihm seine Schulter etwas weh, zumindest aber hatte er auf diese Art auch in der Zeit, in der die Kunden hatten auf sich warten lassen, was zu tun gehabt.
Vielleicht sollte er eine kleine Süßigkeit für seine Mutter kaufen und sie noch einmal im Krankenhaus besuchen, um ihr zu erzählen, dass er eigenes Geld verdiente und zu Hause ebenfalls alles bestens lief. Das hatte er auch seinem Vater schon geschrieben, und er wusste, dass sein Dad sich freuen würde, wenn er diese Zeilen las.
Er schob den Schlüssel in das Schloss der Hintertür, doch sie schwang bereits quietschend auf, und er entdeckte, dass sie aufgebrochen worden war. Erschaudernd schob er sie mit einer Stiefelspitze auf, ging in die Küche, machte Licht und sah das Ausmaß der Zerstörung, die dort angerichtet worden war. Die Stuhlkissen waren zerfetzt, die Polsterung der alten Couch war aufgeschlitzt und fast die ganze Rosshaarfüllung auf dem Fußboden verteilt.
Im Wohnzimmer sah es nicht anders aus. Die Schubladen der Anrichte waren aufgerissen und ihr Inhalt überall im Raum verstreut, das Porzellan und selbst die Rahmen der Bilder an den Wänden waren zertrümmert und nicht ein einziges Kissen der von seiner Mutter heiß geliebten dreiteiligen Sitzgruppe noch ganz.
Im ersten Stock sah es genauso aus. Die Bettdecken und -kissen lagen auf dem Boden, die Matratzen waren aufgerissen, Glas und Porzellan zerschlagen und die Schubladen geleert. Selbst ein paar Dielenbretter waren herausgerissen worden, und die Kleider aus dem Schrank seiner Mutter waren auf dem Fußboden verteilt.
Was für ein Chaos! Hilflos blickte Tom sich um.
Jemand hatte das gesamte Haus durchwühlt und eindeutig mit böser Absicht alles Mögliche kaputt gemacht. Die Freude, weil er bald den ersten Lohn bekommen würde, löste sich in Wohlgefallen auf. Er könnte einen Teil der Schäden reparieren, aber andere Dinge waren unrettbar verloren. Als Erstes müsste er versuchen, halbwegs aufzuräumen, und dann jemanden besorgen, um instand zu setzen, was für ihn allein zu schwierig war.
Noch während er sich nach den ersten Sachen bückte, überlegte er es sich noch einmal anders, denn er wusste, wer der Übeltäter war, und musste überlegen, wie am besten vorzugehen war. Er wollte Peggy nicht noch einmal stören, aber jemand anderes fiel ihm nicht ein. Es sei denn, er ginge zu Maureen.
Genau. Er müsste erst einmal mit einem Menschen reden, und obwohl ihm Peggy angeboten hatte, dass er immer zu ihr kommen dürfte, wäre es nicht richtig, lüde er auch diese Angelegenheit auf ihren Schultern ab. Am besten ginge er also erst einmal zu Maureen und sähe auf dem Rückweg noch bei Peggy rein.
*
»Du musst damit zur Polizei gehen«, riet Maureen, als er erzählte, was geschehen war. »Vielleicht sind deine Eltern ja versichert, und dann brauchen sie den Polizeibericht, wenn die Versicherung nicht denken soll, dass du den Schaden selbst des Geldes wegen angerichtet hast.«
»Falls wir jemals versichert waren, hat Mum den Beitrag sicherlich nicht mehr bezahlt. Ich habe trotzdem vor, zur Polizei zu gehen – nur bin ich mir nicht sicher, ob ich ihnen alles sagen soll.« Er hatte Maureen auch die Sache mit dem Schmuck erzählt, und da sie offensichtlich keine Ahnung hatte, was sie ihm deswegen raten sollte, stellte er mit einem leisen Seufzer fest: »Ich hab Peggy eigentlich damit in Ruhe lassen wollen, aber vielleicht weiß sie, was ich machen soll …«
»Ich komme mit. Wir werden hören, was sie denkt, auch wenn ich selbst finde, dass die Polizei etwas davon erfahren sollte, Tom.«
Tom stimmte zu, obwohl er sich noch immer nicht ganz sicher war, ob er es ratsam fände, alles zu erzählen.
Maureen holte ihren Mantel, gab ihrer Großmutter Bescheid, dass es nicht lange dauern würde, und gemeinsam liefen sie zum Pub. Es war ein kalter Abend, und der Nebel, der sich mit dem Rauch aus den Kaminen mischte, dämpfte ihre Schritte auf dem Bürgersteig.
Peggy saß bei ihrer Ankunft in der Küche und sprach dort mit einem attraktiven Mann, der einen teuren Anzug trug. Sie stellte ihn als Doktor Bailey vor, den Mann, der nach dem grauenhaften Unfall für die arme Tilly da gewesen war. Er war als Arzt am London Hospital, in seiner Freizeit aber war er häufig kostenlos für Leute, die sich einen Arztbesuch nicht leisten konnten, da.
»Anscheinend ist noch mal etwas passiert«, bemerkte Peggy, als sie Toms und Maureens unglückliche Mienen sah. »Ich habe Doktor Bailey von der Sache mit dem Schmuck erzählt, ihr könnt also ganz offen sein.«
Nach kurzem Räuspern beschrieb Tom die Szene, die sich ihm geboten hatte, als er von der Arbeit heimgekommen war. »Ich kann zwar einen Teil der Schäden selbst beheben, aber mit den Polstermöbeln komme ich alleine nicht zurecht. Ma war sehr stolz auf ihre Polstergarnitur, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch zu retten ist. Ich fürchte, sie ist ruiniert.«
»Wie schrecklich.« Peggy verzog wütend das Gesicht. »Wir können nicht zulassen, dass dieser grausame und skrupellose Kerl so weitermacht.« Sie blickte Doktor Bailey an. »Was meinen Sie, Michael?«
»Ich meine, dass der junge Mann mit mir zur Polizei gehen und die Geschichte meinem Freund Maurice erzählen soll. Ich habe ihn bereits ins Bild gesetzt, und jetzt soll er sich die Zerstörung selbst ansehen und sagen, wie aus seiner Sicht am besten vorzugehen ist.«
»Ich könnte dir beim Aufräumen helfen«, bot Maureen dem Jungen an und bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick.
»Ich glaube nicht, dass Tom in nächster Zeit dort bleiben sollte«, mischte sich der Doktor ein. »Aber ich glaube, hier bei Ihnen ist schon alles voll, Peggy.«
»Für einen mehr ist immer Platz …«, erklärte sie, doch ihre Freundin schüttelte den Kopf.
»Du hast auch so bereits genug zu tun, Peggy. Er könnte doch bestimmt zu Alice Carter ziehen«, schlug sie vor, und als sie Tom ansah, nickte dieser stumm. »Ich weiß, dass sie sich freuen würde, wenn du bei ihr einziehen würdest, Tom. Sie hat mir gerade erst erzählt, dass sie dich gerne aufnehmen würde, falls du nicht alleine leben willst.« Dann wandte sie sich abermals den beiden anderen zu. »Wenn Tom zur Polizei geht, laufe ich kurz hin und gebe ihr Bescheid.« Sie erklärte Doktor Bailey, dass es von Toms Haus nur ein paar Häuser bis zu Alice wären, und er nickte zustimmend.
»Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Idee. Wir wollen schließlich nicht, dass Tom hier in der Wirtschaft ist, wenn wir dem Schurken eine Falle stellen. Falls er hier in der Nähe lebt, nimmt er wahrscheinlich jeden Tag denselben Weg.« Er wandte sich dem Jungen zu. »Am besten fahren wir jetzt zur Polizei – falls du bereit bist, mir in dieser Sache zu vertrauen, Tom. Ich bin mit meinem Wagen da und kann dir unterwegs erklären, wie wir den Kerl erwischen wollen.«
»Ja …« Der Junge atmete erleichtert auf, als er den Blick des Arztes sah. Er wünschte sich, sein Vater wäre da, denn mit Jack Barton in der Nähe wäre all das nie passiert. Aber es war nun mal geschehen, und er war froh, dass ein erwachsener Mann auf seiner Seite war. Der Doktor hatte seiner Ma geholfen, und er war ihm dankbar, dass er nun bereit war, auch ihm selbst beizustehen. Er wollte nicht, dass Peggy und Maureen sich Sorgen machten, weil sie schließlich Frauen und obendrein noch schwanger waren. Bei Peggy würde es wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, und sie konnte deshalb sicher keinen Ärger brauchen, aber dieser Mann war offenbar kein Feigling, und wenn er bereit war, ihm zu helfen, würde Tom ihm dafür ewig dankbar sein. »Ich bin sehr froh, dass Sie mir helfen wollen, Sir.«
Der Doktor lächelte und ging voran zu seinem Wagen, einem Morris Baujahr 1930, der mit seinen alten Ledersitzen und dem wunderschönen Holz der Armaturen nicht nur komfortabel, sondern auch eine reine Augenweide war. Dann fuhren sie durch die dunklen Straßen, und als ihm der Arzt erklärte, was sein Freund, der Polizist, ihm vorgeschlagen hatte, blickte Tom ihn voller Ehrfurcht an. Dies war ein Mann, der aktiv gegen das Verbrechen kämpfen wollte, und er würde ihn in diesen Kampf miteinbeziehen. Die meisten Männer hätten ihm bestimmt erklärt, sobald er Anzeige erstattet hätte, wäre alles andere eine Angelegenheit der Polizei, das aber hätte Doktor Bailey nicht genügt.
»Das klingt für mich nach einem sehr guten Plan«, erklärte er. »Der Kerl will diese Kette unbedingt und ist sicher stinkwütend, weil er sie bei seinem Einbruch nicht gefunden hat.«
»Auf jeden Fall – und du willst wirklich mitspielen? Du weißt, dass er wahrscheinlich auf dich losgehen wird, wenn du ihm nicht sofort erzählst, wo diese Diamanten sind.«
»Das ist mir klar, aber wenn dieser Freund von Ihnen ihn dafür erwischt, ist es das wert, und wenn ich ihm sofort erzählen würde, dass das Zeug bei Peggy ist, würde er sicher merken, dass etwas nicht stimmt.«
»Da hast du recht.« Der Doktor lächelte ihn an. »Natürlich wollte Peggy nicht, dass wir dich in die Sache mit reinziehen, aber wenn wir ihn erwischen wollen, haben wir keine andere Wahl.«
Tom grinste breit. »Peggy ist echt super, nur hat sie ein viel zu weiches Herz. Mit ein paar blauen Flecken komme ich zurecht, wenn wir diesen Dreckskerl dafür hinter Gitter bringen – sorry, Sir. So hätte ich es nicht formulieren sollen.« Er wurde rot, denn schließlich hatte ihn sein Vater ausdrücklich vor der Benutzung irgendwelcher Schimpfwörter gewarnt. Tatsächlich gab er sich inzwischen große Mühe, sich so beherrscht wie möglich auszudrücken, aber manchmal gingen eben die Gefühle mit ihm durch.
»Schon gut, Tom, denn nach allem, was passiert ist, muss ich selbst sagen, dass der Typ ein elendiger Dreckskerl ist. Du bist sehr mutig – und vergiss nicht, falls du Hilfe bei den Reparaturen und dem Austausch des kaputten Schlosses brauchen solltest, bin ich gerne für dich da.«