20

»Fünf lächerliche Pfund in Münzen, eine Handvoll Billigschmuck und ein paar Silbersachen. Das war der gesamte Lohn für all die Mühe, und wahrscheinlich habe ich noch Glück, wenn mir ein Pfandleiher für all den Krempel fünfzig Mäuse zahlt.« Bryan baute sich im Wohnzimmer vor seiner Mutter auf und funkelte sie zornig an. »Wo waren denn all die Wertsachen, von denen du gesprochen hast?«

»Ihr Vater hat gesagt, sie hätte allen Schmuck und alles Silber mitgenommen, als sie ausgezogen ist. Und so, wie er sich aufgeregt hat, dachte ich, die Sachen wären jede Menge wert. Aber wie es aussieht, hat er mir auch da was vorgemacht …« Sie runzelte die Stirn, weil Bryan einfach nie zufrieden war. Sie hatte ihm bereits ihr ganzes im Verlauf der Jahre angespartes Geld gegeben, doch er verlangte einfach immer mehr. Auch wenn sie ihre Schwiegermutter und Maureen nicht leiden konnte, fühlte sie sich etwas schuldig, weil ihr Sohn bei ihnen eingebrochen war, denn schließlich hatte sie ihn erst auf die Idee gebracht, dass es dort Geld und Schmuck zu holen gab. »Auf jeden Fall kann ich dir nichts mehr geben …«

»Willst du damit etwa sagen, dass der Kerl sein Testament geändert hat?«

»Nein, aber das Haus und das Geschäft haben ihm nie gehört. Sie waren das Eigentum von Hilda, die jetzt alles auf Henrys blöde Tochter überschrieben hat. Sie wollten ein Pfund Miete in der Woche, wenn ich weiterhin dort hätte wohnen und den Laden hätte führen wollen, also habe ich gesagt, ich sähe mich nach einer anderen Bleibe um. Tatsächlich habe ich nun eine kleine Unterkunft in Bermondsey und ziehe dieses Wochenende um.«

»Verdammt!« Ihr Sohn bedachte sie mit einem hasserfüllten Blick. »Dann gibt es also kein Geld? Kein Haus, das du verkaufen kannst?«

»Nur vierzig Pfund und dazu noch die Möbel«, log sie, weil sie nicht die Absicht hatte, ihm noch einmal alles Geld zu geben und dann selbst ohne einen Penny dazustehen. »Es tut mir leid, mein Junge. Ich war mir ganz sicher, dass der Laden und das Haus an mich gehen würden, wenn er einmal nicht mehr ist.«

»Du dummes Weib.« Er hob die Hand und schlug ihr derart kraftvoll ins Gesicht, dass ihre Lippe aufplatzte. »Du hast mich glauben lassen, dass ich nächste Woche meine Schulden abbezahlen kann. Weißt du, was sie mit mir machen werden, wenn ich ihnen das verdammte Geld nicht rüberschieben kann?« In seinen Augen blitzten Angst und Zorn, als er sie aber wieder ansah, drückte seine Miene eisige Verachtung aus, und sie hob schützend eine Hand vor ihr Gesicht.

Er hatte sie verletzt, und sie empfand im Augenblick nur Hass auf ihn. Wie glücklich war sie doch gewesen, als er ihr geschrieben hatte, dass er sie nach all den Jahren wiedersehen wollte, doch im Grunde hatte er lediglich Geld von ihr gewollt. Er war ein Dieb, ein Feigling, der so tat, als ob er es an den Bronchien hätte, um nicht zur Armee zu müssen, und jetzt hatte er es auch noch auf ihren letzten Penny abgesehen. Doch den Gefallen, ihm auch noch ihr allerletztes Geld zu geben, würde sie ihm ganz bestimmt nicht tun. »Ich gebe dir noch einmal vierzig Pfund, damit du hier verschwinden kannst – und danach wirst du niemals wieder auch nur einen Penny von mir sehen.«

»Du Miststück hast mich angelogen …«, brüllte Bryan und packte seine Mutter im Genick. »Du hast mir etwas vorgemacht. Natürlich hast du irgendwo noch Geld versteckt. Das kann bei einem derart gut gehenden Laden und bei deinem eigenen Unternehmen gar nicht anders sein. Du solltest mir die Kohle besser geben, denn sonst wirst du es bereuen …«

»Ich habe dir doch schon gesagt, ich habe nur noch vierzig Pfund«, setzte sich Violet trotz der Angst, die sie empfand, zur Wehr. »Wenn die dir nicht genügen, kannst du gerne noch das Schloss des Ladens unten knacken und dort Zigaretten oder sonst was klauen.« Es war bestimmt nicht klug, dass sie ihm widersprach, inzwischen aber hatte sie von Bryan ein für alle Mal die Nase voll und wusste aus der Zeit mit seinem Vater, dass sie sich behaupten musste, damit er sie irgendwann in Ruhe ließ. »Und falls du …«

Weiter kam sie nicht, bevor ein Schlag sie durch das Zimmer fliegen ließ. Bevor sie sich von ihrem Schreck und ihrem Schmerz erholen konnte, legte er ihr schon die Hände um den Hals und drückte zu. Sie bohrte ihm die Fingernägel in die Hände, rang nach Luft, und schließlich wurde alles schwarz, und sie verspürte einen grenzenlosen Schmerz in ihrer Brust. Dann ließ er plötzlich von ihr ab, versetzte ihr noch einen Stoß, und sie stieß gegen den Sims des steinernen Kamins und fiel dann einfach um.

»Wach auf, du blödes Weib …« Er riss sie an den Schultern hoch, und während ihr der Speichel aus dem Mund rann und ihr Kopf zur Seite rollte, brüllte er: »Wo ist das Geld?«

Danach ließ er sie vor Schmerzen halb bewusstlos liegen, riss die Schubladen der Anrichte heraus, stürmte ins Schlafzimmer und zerrte dort die Sachen aus dem Schrank. Alles, was er fand, war etwas Schmuck, doch Geld war nirgendwo versteckt. Schließlich stieß er auf das Sparbuch in der Handtasche ihrer Mutter, auf dem wenigstens noch fünfzig Pfund zu holen waren, und steckte es stirnrunzelnd ein. Zwar bräuchte er dann eine Frau, die sich als seine Mutter ausgab, um das Geld von diesem Sparbuch abzuheben, aber das bekäme er auf alle Fälle hin. Und später würde er noch einmal wiederkommen und die Alte zwingen, ihm auch noch den letzten Rest von ihrem Geld zu geben, doch vorher würde er noch runter in den Laden gehen und sich die Zigaretten und vielleicht noch irgendwelche anderen Sachen, die was wert waren, holen.

*

»Ich fahre morgen Nachmittag ins Krankenhaus und bringe Peggy ein paar Blumen und eine Karte«, sagte Anne zu Helen, bevor sie an diesem Abend heim zu Mavis ging. »Soll ich auch Ihren Namen draufschreiben?«

»Danke, aber ich will selbst morgen früh mit einer Karte und einer Schachtel Pralinen zu ihr fahren. Ich möchte sie besuchen, denn sie war sehr gut zu mir. Aber ich fahre schon früh los und bin dann rechtzeitig, bevor die Mittagsgäste kommen, wieder hier.«

»Da wird sich Peggy sicher freuen«, meinte Anne. »Dann also gute Nacht. Er war ein anstrengender Abend, und ich freue mich schon auf mein Bett.«

»Ich mich auch. Ich will noch kurz mit Janet sprechen, aber dann gehe ich rauf.«

Anne trat in die kalte Abendluft hinaus und hoffte, dass mit Peggy und den Zwillingen alles in Ordnung war. Für Frauen in Peggys Alter waren Geburten oft nicht leicht, und ängstlich überlegte Anne, wie es um ihre Chancen, Kinder zu bekommen, stand. Zwar war sie selbst erst Anfang dreißig, aber schließlich hatte Peggy vorher schon zwei Kinder auf die Welt gebracht, wohingegen sie ihr erstes Kind bekäme – falls sie überhaupt je schwanger würde, was nicht sicher war.

Sie kämpfte gegen ihre dummen Tränen an, doch sie vermisste Kirk entsetzlich und hatte große Angst um ihn. Warum nur hatte es auf ihrer Hochzeitsreise nicht mit einer Schwangerschaft geklappt? Wenn sie jetzt wenigstens ein Kind von ihm erwarten würde, wäre das ein großer Trost.

Als sie die Straße überquerte, sah sie die Gestalt, die aus dem Haus der Jacksons kam. Sie sah nicht aus wie Tom, war aber eindeutig ein Mann, doch schließlich ging es sie nichts an, wen Violet in der Wohnung über dem Geschäft empfing, deswegen tat sie den Gedanken ab und setzte ihren Heimweg fort.

Als sie das Haus betrat und ihren Mantel auszog, kam die ältere Dame, bei der sie zur Untermiete wohnte, lächelnd in den Flur.

»Da sind Sie ja. Ich bin extra noch wach geblieben, weil ich Ihnen sagen wollte, dass drei Briefe gleichzeitig von Ihrem Mann gekommen sind. Ich habe Sie schon einmal auf Ihr Bett gelegt.«

»Oh, danke, Mavis.« Lächelnd meinte Anne: »Wahrscheinlich waren zwei der Briefe ewig unterwegs. So ist es oft.«

In freudiger Erwartung seiner Nachrichten lief sie nach oben, und die arme Mavis, die sie hatte fragen wollen, ob sie vor dem Schlafgehen noch eine heiße Schokolade mit ihr trinken wollte, kehrte abermals alleine in ihr Wohnzimmer zurück.

*

Tom hatte gerade Wasser aufgesetzt, als er ein Klopfen an der Haustür hörte, doch bevor er sie erreichte, wurde sie bereits geöffnet, und ein Mann betrat den Flur. Der Junge hatte seit zwei Tagen das Gefühl, als würde er beobachtet, und seine Nackenhaare sträubten sich, ehe er aber die Gelegenheit bekam, den Schürhaken zu schnappen, sah er, wer es war.

»Dad!«, rief er und stürzte überglücklich auf seinen Vater zu. »Was machst du hier? Du bist doch wohl nicht desertiert?«

Jack Barton grinste und zerzauste seinem Sohn das Haar. »Als würde ich das jemals tun! Abgesehen von dir und Sam ist die Armee das Beste, was mir je passiert ist, denn ich fühle mich dort pudelwohl. Vielleicht bleibe ich sogar dauerhaft dabei, selbst wenn der Krieg einmal vorüber ist.«

»Schön, dich zu sehen«, erklärte Tom und fiel ihm um den Hals. »Wie lange hast du Zeit?«

»Eine Woche«, meinte Jack. »Wir haben unsere Grundausbildung abgeschlossen, und jetzt werden wir wer weiß wohin verschickt. Ich bin bei einem Versorgungstrupp und schaffe Munition und Lebensmittel an die Front. Natürlich muss ich irgendwann bestimmt auch mal zur Waffe greifen, allerdings ist die Logistik nun mal genauso wichtig, und sie haben gemerkt, dass ich sehr gut organisieren kann. Ich muss mich aber trotzdem erst noch einarbeiten und bin deshalb erst mal ganz hier in der Nähe stationiert und werde erst danach woanders eingesetzt.«

»Heißt das, dass du nicht kämpfen musst?«, erkundigte sich Tom in hoffnungsvollem Ton.

»Das weiß ich nicht. Wo immer unsere Jungs auch sind, verlassen sie sich darauf, dass wir ihnen bringen, was sie brauchen, und zwar dann, wenn es nötig ist. Ich werde an der Waffe ausgebildet, weil ich sie, was ich auch immer tue, vielleicht irgendwann einmal benutzen muss, und dazu habe ich den Führerschein gemacht. Das heißt, dass ich nach Ende dieses Krieges für jede Menge Sachen zu gebrauchen bin. Und was die andere Sache angeht … tja, wer weiß.«

»Ein Job bei der Armee ist doch echt gut«, erklärte Tom. »Ich hätte mich am liebsten selbst schon längst dorthin gemeldet, aber Jungs in meinem Alter nehmen sie leider nicht.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber du bleibst gefälligst hier und kümmerst dich um Mr. Jackson und Maureen …«

Tom erstarb das Lächeln auf den Lippen.

»Was ist?«

»Mr. Jackson ist tot«, klärte Tom ihn auf. »Er ist im Treppenhaus gefallen, und ich habe ihn gefunden und den Arzt gerufen, der gesagt hat, sicher hätte er direkt vor seinem Sturz noch einmal einen Schlaganfall gehabt.«

»Das tut mir leid zu hören.« Jack schüttelte den Kopf. »Wird Violet den Laden übernehmen?«

»Ich glaube nicht.« Tom sah sich um, obwohl er wusste, dass sie ganz alleine waren. »Sie hat sich mit Maureen und Hilda Jackson angelegt. Ich weiß nicht alles, Dad, aber ich glaube, Hilda will den Laden mit Maureens und meiner Hilfe weiterführen. Es wird sich also erst mal kaum was ändern, außer dass die Wohnung über dem Geschäft erst einmal leer stehen wird, falls sie sie nicht vermieten will.« Er goss das heiße Wasser in die große braune Kanne auf dem Tisch. »Ich war dabei, als Hilda neue Schlösser in die Tür des Ladens und des Lagers einbauen lassen hat. Ich glaube, Violet ist nicht mehr da, weil ihre Wohnung gestern und im Grunde auch schon vorgestern im Dunkeln lag. Wobei sie ihre Möbel noch nicht abholen lassen hat. Oder zumindest habe ich den Möbelwagen nicht gesehen.«

»Wann wirst du wieder in den Laden gehen?«

»Ich dachte, dass ich heute früh vielleicht zu Hilda gehe und sie frage, ob ich dort ein bisschen aufräumen soll, bevor wir wieder aufmachen. Sie hat gesagt, ich könnte erst einmal zu Hause bleiben, aber wenn wir morgen wieder öffnen wollen, sollte ich, auch wenn wir heute Sonntag haben, vielleicht wenigstens im Laden nach dem Rechten sehen. Anscheinend hat sich Violet einfach aus dem Staub gemacht. Obwohl sie Samstag sicher niemanden bekommen hat, um ihre Möbel auszuräumen, außer ihr Geliebter hätte sich dazu bereit erklärt. Denn Alice denkt, sie hätte was mit einem Kerl, der deutlich jünger ist als sie.«

»Manchmal sollte Alice wirklich ihre Klappe halten. Sicher war der junge Mann, den sie getroffen hat, ihr Sohn aus erster Ehe oder so«, traf Jack den Nagel auf den Kopf, ohne es zu wissen.

»Genau das hat auch Alice selbst schon gesagt.« Verlegen blickte Tom seinem Vater ins Gesicht. »Sie ist in Ordnung, Dad. Sie hat mich bei sich aufgenommen, nachdem hier eingebrochen worden ist. Natürlich habe ich so gut wie möglich aufgeräumt, aber zum Glück ist Mum noch in der Klinik, weil ich mir den Polsterer für ihre Garnitur im Wohnzimmer nicht leisten kann.«

»Die war ihr ganzer Stolz.« Jack schüttelte den Kopf, als er die Schäden, die der Junge nicht allein hatte beheben können, sah. »Ich konnte es nicht glauben, als du mir von diesen Diamanten und davon, dass Peggy dir geholfen hat, geschrieben hast. Die Kette war anscheinend etwas ganz Besonderes, wenn dieser Knocker extra deshalb bei uns eingebrochen ist. Aber du hast gesagt, sie hätten ihn erwischt?«

»Das stimmt, aber bei seiner Überführung in das Militärgefängnis hat der Schweinehund dem Polizisten, der ihn auf der Fahrt bewacht hat, vorgemacht, dass er ganz dringend muss. Und als sie ihn dann an der Landstraße zum Pinkeln rausgelassen haben, ist er quer über die Felder abgehauen. Er ist ein Deserteur und in seiner Uniform hier rumgelaufen, damit alle denken, dass er seinen Dienst fürs Vaterland versieht. Wenn die Armee ihn jetzt erwischt, kommt er vors Kriegsgericht, und wir gehen alle davon aus, dass er dann standesrechtlich erschossen wird.«

»Haben sie denn eine Ahnung, wo er ist?« Jack runzelte erneut die Stirn. »Solange dieser Teufel noch auf freiem Fuß ist, will ich nicht, dass du alleine nachts im Haus bist, Tom.«

»Ich habe ja erst gestern rausgefunden, dass der Kerl noch mal entkommen ist. Maureen ist extra hergekommen, um es mir zu sagen. Der Inspektor, der den Einbruch gestern früh bei ihnen untersucht hat, hat es ihr erzählt.«

»Denken sie, dass er der Einbrecher gewesen ist?«

»Maureen denkt es anscheinend nicht. Ich glaube, dass es irgendwas mit dem Geschäft zu tun hat, Dad – und mit dem ganzen Ärger, den es mit Violet gegeben hat. Sie kann es nicht gewesen sein, weil Hilda zu dem Zeitpunkt, als bei ihr eingebrochen wurde, bei ihr in der Wohnung war, aber vielleicht war es ja jemand, den sie kennt.«

»Ich wünschte mir, ich wäre hier, um auf dich aufzupassen, Tom.«

Grinsend schüttelte der Sohn den Kopf. »Ich habe ja den Schürhaken – und dazu hat mir Doktor Bailey auch noch eine Polizeipfeife geschenkt. Er sagt, die sollte ich benutzen, falls mir Knocker noch mal auf der Straße auflauert. Er meint, dann fiele er vor Schreck bestimmt tot um.«

»Da hat er sicher recht«, pflichtete Jack dem Doktor bei. »Aber trotzdem fühle ich mich schlecht, wenn du hier ganz alleine bist – was sich aber, solange deine Mutter nicht nach Hause kommt, nicht ändern lässt.«

»Ich hatte überlegt …« Jetzt runzelte der Sohn die Stirn. »Angenommen, dass sie nie mehr wiederkommt: Lohnt es sich dann, das Haus hier weiter zu behalten? Schließlich könnte ich mir ja auch irgendwo ein Zimmer suchen oder vielleicht sogar in die Wohnung über dem Geschäft einziehen. Wenn du die Absicht hast, auch nach dem Krieg bei der Armee zu bleiben …«

»Vielleicht werde ich das wirklich tun, denn deine Mutter hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mich hier nicht mehr sehen will. Ich werde stets in deiner Nähe bleiben und mich regelmäßig bei dir melden, aber wenn du vorhast, auch mal zur Armee zu gehen …«

»Ich bin mir noch nicht sicher, was ich einmal machen möchte, Dad. Vielleicht behalte ich auch meinen Job im Laden und verdiene mir in meiner Freizeit noch mit anderen Sachen was dazu, obwohl es sicher lustig wäre, eine Zeit lang zur Armee zu gehen.«

»Entscheide einfach selbst, ob du hierbleiben möchtest oder nicht – falls deine Ma nicht bald zurückkommt, ist das Haus für dich allein auf Dauer schließlich viel zu groß, und es gibt jede Menge Leute, für die so ein Haus genau das Richtige wäre.«

»Genau so sehe ich das auch. Ich kenne eine Reihe von Familien, die jetzt gerade auf der Suche sind – du hättest also nichts dagegen, wenn ich hier nicht länger bleiben will?«

»Für mich wird dieses Haus nie wieder ein Zuhause sein. Ich habe es für dich und deine Ma erhalten wollen, aber wenn es Tilly vorzieht, weiter in dem Pflegeheim zu bleiben …«

»Wo es echt schrecklich ist«, erklärte Tom. »Es ist das alte Arbeitshaus, hat Nellie mir erzählt. Sie war dort mal bei einer Freundin zu Besuch und hat es dort gehasst. Ich hab Ma dort auch besuchen wollen, aber sie haben gesagt, dass sie niemanden sehen will. Also habe ich es gelassen, aber glaubst du, ich soll trotzdem einmal nach ihr schauen?«

»Wenn du erträgst, dass sie dich dann wie Luft behandelt«, meinte Jack. »Ich werde hinfahren und ihr ein paar Süßigkeiten und vor allem ein paar ihrer Kleider bringen, auch wenn sie mich ebenfalls bestimmt nicht sehen will.«

»Dad …«, begann Tom, dann aber klopfte es vernehmlich an der Tür, und eine kreidebleiche Hilda Jackson kam hereingestürzt.

»Mrs. Jackson – was ist los? Ist etwas mit Maureen?”

»Maureen geht es gut, und ich bin wirklich froh, dass ich nicht wollte, dass sie heute früh alleine in den Laden geht. Du warst heute noch nicht drüben?«

»Nein – ist was passiert?« Toms Nackenhaare sträubten sich, als er ihre entsetzte Miene sah.

»Es wurde eingebrochen, aber das ist nicht das Schlimmste …« Hilda setzte sich abrupt auf einen Stuhl. »Es geht um Violet. Sie wurde angegriffen, und der Fußboden ist voller Blut. Maureen ist gerade unten, um die Polizei zu rufen, und ich habe ihr verboten, raufzugehen. Kannst du mit rüberkommen, Tom, um uns zu sagen, was aus deiner Sicht alles im Laden fehlt?«

»Natürlich«, sagte er ihr zu. »Aber Sie bleiben besser erst mal hier und trinken eine Tasse heißen Tee, in Ordnung? Mein Vater wird sich um Sie kümmern und Sie später rüberbringen, wenn Sie mit den Polizisten reden wollen.«

»Ja, Hilda, am besten tun Sie, was der Junge sagt«, meinte auch Jack. »Der süße Tee ist gut gegen den Schock. Es war doch sicher grauenhaft für Sie, als sie dort auf dem Boden lag …«

»Im Grunde mochte ich sie nie«, gab Hilda widerstrebend zu. »Aber das hab ich ganz sicher nicht gewollt …«

»Natürlich nicht«, pflichtete Jack ihr bei und wandte sich an seinen Sohn. »Und du läufst rüber zu Maureen und achtest darauf, dass sie unten bleibt. In ihrem Zustand führt ein solcher Schock vielleicht zu einer Fehlgeburt.«

Tom schnappte seine Jacke und lief los.

Maureen saß in der kleinen Küche hinter dem Geschäft und machte sich dort einen Instant-Kaffee mit ein wenig Dosenmilch. Der Raum war kalt und roch ein bisschen feucht, als hätte man dort schon seit Längerem nicht mehr geheizt. Als Tom versuchte, ihr die Kaffeedose abzunehmen, fielen ihm das Zittern ihrer Hände und die übertrieben großen Augen auf.

»Lassen Sie sich Zeit«, bat er in sanftem, ruhigem Ton. »Sie haben einen Schock.«

»Ich habe sofort einen Krankenwagen und die Polizei gerufen«, sagte sie und schluchzte leise auf. »Sie liegt vor dem Kamin im Wohnzimmer, und wer auch immer sie so zugerichtet hat, hat alle Zigaretten und ein bisschen Schokolade aus dem Laden mitgehen lassen, aber alles andere, was irgendeinen Wert hat, ist noch da.« Sie nahm den ersten vorsichtigen Schluck Kaffee. »Möchtest du auch einen?«

»Ich habe gerade Tee getrunken«, antwortete Tom. »Mein Dad ist heute Morgen heimgekommen, weil er eine Woche Urlaub hat. Er kümmert sich um Hilda und serviert ihr gerade einen süßen Tee.«

»Violet hatte uns versprochen, dass sie Sonnabend den Schlüssel bringen würde, und als sie das nicht getan hat, sind wir hergekommen, um nachzusehen, ob sie wirklich ausgezogen ist. Gran ist alleine raufgegangen, als sie die Tür zwischen dem Laden und der Treppe offen stehen sah. Jemand hat das neue Schloss, das wir dort hatten anbringen lassen, aufgebrochen, Tom. Aber die Schlösser an den Außentüren waren noch intakt, er muss also bereits im Haus gewesen sein. Das heißt, dass Violet den Kerl gekannt hat, der auf so brutale Art und Weise auf sie losgegangen ist.«

»Glauben Sie, dass sie noch lebt?«

»Ich weiß es nicht. Gran hat geschrien, als sie sie oben liegen sah, und kam dann schneller als seit Jahren wieder runter ins Geschäft gerannt, aber sie hat mir nicht erlaubt, hinaufzugehen …« Maureen brach ab, als jemand das Geschäft betrat. Tom folgte ihr, als sie nach vorne ging, und hörte schweigend zu, als sie dort mit dem Polizisten sprach.

Der Constable notierte alles sorgfältig in einem kleinen schwarzen Buch und sah sie fragend an. »Dann haben Sie also die Frau Ihres Vaters gar nicht selbst gefunden, Ma’am?«

»Nein. Meine Großmutter ging rauf, als sie das aufgebrochene Schloss der Tür zwischen dem Laden und der Treppe sah, und ich blieb hier, um nachzusehen, was entwendet worden war. Und dann kam sie so schnell wie möglich wieder runter und verbat mir wegen meines Zustands, selbst raufzugehen.«

»Was sehr vernünftig war …« Der Officer bedachte Tom mit einem argwöhnischen Blick. »Und wer bist du?«

»Ich arbeite für Mrs. Jackson und Maureen«, erklärte Tom. »Bisher war ich auch noch nicht oben, aber ich weiß von Maureen, dass Mrs. Violet Jackson neben dem Kamin in ihrer guten Stube liegt, und wenn Sie möchten, kann ich Ihnen zeigen, wo das ist.«

»Stimmt, was er sagt?«, wandte der Polizist sich wieder an Maureen.

»Ja. Tom arbeitet im Laden und hat meinen Vater bis zu dessen Tod versorgt. Ah, da kommen ja Toms Dad und meine Großmutter.«

Mit einem Nicken grüßte er die Neuankömmlinge und meinte: »Nun, dann sehe ich mich erst mal oben um und höre mir dann an, was Ihre Großmutter zu sagen hat. In letzter Zeit geht es hier in der Gegend ganz schön rund. Da fragt man sich unweigerlich, ob das nicht alles vielleicht irgendwie zusammenhängt …«

Tom führte ihn hinauf und sah sich um. Anscheinend hatte jemand irgendwas gesucht, denn alle Laden waren aus der Anrichte gezogen, und ihr Inhalt war im ganzen Raum verstreut.

Violet selbst lag in der Nähe des Kamins. Der Polizist ging zu ihr, kniete sich daneben, presste ihr zwei Finger an den Hals, ergriff ihr Handgelenk und blickte zu dem Jungen auf.

»Der Puls ist zwar ganz schwach, aber zumindest lebt sie trotz der Kälte hier im Zimmer noch. Hat jemand einen Krankenwagen alarmiert?«

»Ja, Maureen meinte, sie hätte ihn schon vor der Polizei bestellt …«

»Gut.« Der Polizist sah sich im Zimmer um. »Anscheinend hatte jemand es auf Wertsachen oder das Geld, das sie zu Hause hatte, abgesehen.«

»Sieht fast so schlimm aus wie damals, als bei mir drüben eingebrochen wurde«, meinte Tom. »Und auch bei Mrs. Hilda Jackson und Maureen ist eingebrochen worden …«

»Dann scheint hier eine wirklich fiese Type unterwegs zu sein. Wann warst du zum letzten Mal hier oben. Tom, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Ich war Dienstagfrüh mit Mrs. Hilda hier, weil Mrs. Violet nicht sehr nett war und Maureen nicht wollte, dass die alte Dame ganz alleine zu ihr geht. Ich habe alle Schlüssel, aber danach war ich nicht noch einmal hier. Mrs. Hilda hat gesagt, dass ich versuchen sollte, Mrs. Violet bis zu deren Auszug möglichst aus dem Weg zu gehen.«

»Dann hast du also keine Ahnung, was hier vorgefallen ist?«

»Bis vor zwei Tagen hat hier abends immer Licht gebrannt. Als Dad vorhin nach Hause kam, habe ich ihm erzählt, ich dächte, Mrs. Violet wäre einfach abgehauen …«

»Dann war dein Vater also weg?«

»Er ist bei der Armee, Sir, und hat gerade seine Grundausbildung dort gemacht«, erklärte Tom ihm stolz. »Und jetzt kommt er zu einem Versorgungstrupp.«

»Du gäbst einen sehr guten Zeugen ab«, stellte der Polizist mit einem anerkennenden Nicken fest, und als von unten Stimmen in die Wohnung drangen, ging er vor die Tür und rief: »Hier oben, Doktor. Sie hat einen furchtbar schwachen Puls, aber sie atmet noch.«

Zwei Männer kamen herauf, liefen zu Violet und überprüften wie zuvor der Officer den Puls der Frau. Dann nickten sie einander zu, sahen sich die Kopfverletzung an und hoben sie behutsam auf die Trage, die für den Transport nach unten und dann weiter in die Klinik vorgesehen war.

»Ich bin Constable Jenkins, und ich soll in dieser Angelegenheit ermitteln«, stellte sich der Officer den beiden vor. »Man hat uns einen Einbruch und dazu noch einen angeblichen Mord gemeldet. Können Sie mir sagen, wie die Chancen unseres Opfers stehen?«

»Um das herauszufinden, muss sie erst einmal ins Krankenhaus. Anscheinend wurde sie gewürgt. Sehen Sie die Druckstellen an ihrem Hals? Und danach wurde sie gestoßen, hat sich dabei ihren Schädel angeschlagen und ist umgekippt. Wenn Ihre Leute sich genauer umsehen, finden sie wahrscheinlich Blut am Sims oder am Gitter des Kamins.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmte der Officer dem Sanitäter zu. »Am besten sieht die Spurensicherung sich in der ganzen Wohnung um. Und informieren Sie uns bitte, wenn Sie wissen, wie es um sie steht.«

»Natürlich, Constable.«

Dann trugen sie die Trage aus dem Raum, und Tom entdeckte einen Gegenstand, der auf dem Boden lag. Als er sich aber danach bückte, hielt der Constable ihn auf.

»Fass bitte erst einmal nichts an. Natürlich werden deine Fingerabdrücke hier überall zu finden sein, denn schließlich warst du erst vor ein paar Tagen hier, und wie es aussieht, wurde diese Wohnung schon seit Längerem nicht mehr geputzt. Aber wir dürfen nichts verändern … also sag mir einfach, was dir aufgefallen ist.«

»Das sieht nach einem Füller aus«, erklärte Tom und wies auf einen eleganten Stift, der auf dem Boden lag. »Am besten fragen Sie Maureen oder die alte Mrs. Jackson – doch bei Mr. Jackson habe ich so einen Stift niemals gesehen, und vor allem sieht er für mich eher wie ein Damenfüller aus.«

Der Polizist marschierte dorthin, wo der Füller auf dem Boden lag. Der Stift war schwarz mit einem goldenen Band und offensichtlich eine gute Marke, doch die Farbe passte nicht zu einer Frau.

»Das hast du gut erkannt«, lobte er Tom. »Am besten schreibe ich die Position des Füllers auf und überlasse es dann meinen Leuten, ihn zu finden, auch wenn dieser Stift mir irgendetwas sagt …« Er blickte auf, als er die schnellen Schritte auf der Treppe hörte, und im nächsten Augenblick betrat Maureen den Raum. »Sie kommen genau zur rechten Zeit. Können Sie mir sagen, ob Ihr Vater oder vielleicht Ihre Stiefmutter so einen Stift besessen hat?«

Maureen trat neben ihn und blickte auf das Schreibgerät, das auf dem Boden lag. »Ich habe diesen Füller noch nie zuvor gesehen. Dad kam mit Tintenfüllern nicht zurecht und hat sie nur benutzt, wenn er dazu gezwungen war, um Formulare auszufüllen oder so. Bloß hat er das seit Jahren schon nicht mehr selbst gemacht und immer mich gebeten, das zu tun. Aber vielleicht hat der Stift ja Violet gehört, oder sie hat ihn ihm geschenkt.«

»Das könnte sein«, stimmte der Constable ihr zu. »Aber vielleicht ist es auch ein Beweisstück, also fassen Sie den Füller und auch sonst nichts an. Am besten gehen Sie und der Junge wieder runter, und ich sehe mich noch kurz allein hier oben um. Oder vielleicht darf ich auch Ihr Telefon benutzen, denn ich brauche ein paar Spezialisten hier.«

»Natürlich, Officer. Komm mit nach unten, Tom. Du müsstest bitte nachsehen, was alles im Laden fehlt, damit ich der Versicherung den Schaden melden kann. Ich hoffe nur, mein Vater hat die Prämien auch bezahlt.« Sie hielt den Atem an und stieß mit einem unterdrückten Schluchzen aus: »Hier oben räumen wir wann anders auf, denn erst mal muss die Polizei hier schließlich ihre Arbeit tun.«

»Das übernehme ich«, bot Tom ihr an. »Sie sollten heimgehen, Maureen. Sie hatten bereits genügend Aufregung für einen Tag. Ich bleibe hier und sperre ab, sobald die Polizei hier fertig ist.«

Nickend ging Maureen nach unten in die Küche, wo ihre Großmutter sich mit Jack Barton unterhielt, und atmete tief durch.

»Tom hat angeboten, hierzubleiben und auf alles aufzupassen«, sagte sie. »Wir beide sollten jetzt erst mal nach Hause gehen, Gran. Wir dürfen hier nichts anfassen, bevor die Polizisten ihre Arbeit abgeschlossen haben, und es wird wahrscheinlich ein paar Tage dauern, bis sie uns erlauben, oben aufzuräumen. Anscheinend hat dort irgendjemand Geld gesucht. Wobei er, wie es aussieht, kaum was mitgenommen hat.«

»Die Sachen oben in der Wohnung sind auch nicht viel wert«, erklärte Hilda ihr. »Dein Vater war bestimmt kein armer Mann, auch wenn ich keine Ahnung habe, wofür er sein ganzes Geld verpulvert hat. In all den Jahren hat er dir kaum etwas bezahlt, und er ging höchstens zweimal in der Woche in den Pub. Der Laden war die reinste Goldmiene, als er von deinem Großvater betrieben worden ist. Er hat damit pro Woche immer um die zwanzig Pfund Gewinn gemacht.«

»Dad war ein fürchterlicher Geizhals.« Ein seltsames Lächeln huschte über Maureens Gesicht. »Du bist eindeutig nicht die Einzige, die dachte, dass er all sein Geld an irgendeinem sicheren Ort gebunkert hat. Nun hat irgendwer nach diesem Geld gesucht, und falls es tatsächlich da oben in der Wohnung war, bin ich mir sicher, dass derjenige es gefunden hat.«

Die alte Dame nickte zustimmend. »Es ist tatsächlich Riesenglück, dass Violet nach all den Stunden, die sie dort gelegen hat, noch lebt. Es muss ein echter Teufel sein, der sie dort einfach liegen lassen hat. Er hätte doch zumindest einen Krankenwagen rufen können, oder etwa nicht?«

»Um dadurch zu riskieren, dass man ihn erwischt? Wahrscheinlich dachte er, sie wäre tot. Sicherlich hat er sie erst so zugerichtet und die Wohnung dann durchwühlt, denn er hat offensichtlich nicht befürchtet, dass ihm dabei irgendjemand in die Quere kommt.«

»Vergiss nicht, dass sie ihn hereingelassen haben muss«, rief ihre Gran ihr in Erinnerung. »Sie muss ihn reingelassen haben, und danach kam es aus irgendeinem Grund zum Streit.«

»Vielleicht wollte er Geld, das sie ihm nicht gegeben hat. Sie dachte schließlich, dass sie ein Vermögen erben würde, aber das ist eben nicht passiert.« Maureen runzelte nachdenklich die Stirn. »Wahrscheinlich hat sie diesen Menschen glauben lassen, dass sie Geld hat, und als sie ihm dann nichts geben konnte, hat das seinen Zorn geweckt …«

»Das klingt, als hätten sie sich gut gekannt«, mischte sich Jack zum ersten Mal in ihre Unterhaltung ein. »Vielleicht waren sie sogar verwandt …«

»Dad hat mir mal erzählt, sie hätte einen Sohn, der aber schon vor Jahren abgehauen wäre, ohne dass er sich danach noch mal bei ihr gemeldet hat …«

»Dann war das bestimmt der vermeintliche Geliebte, mit dem Alice sie gesehen hat«, rief Tom, der in dem Augenblick von oben kam. »Sie hat gesagt, dass Violet öfter einen Mann getroffen hat, der seinem Alter nach ihr Sohn sein könnte … und womöglich war er das ja auch. Vielleicht war er in Schwierigkeiten und hat sich bei ihr gemeldet, damit sie ihm aus der Klemme hilft …«

»Das sind doch reine Mutmaßungen«, wehrte Maureen ab und wandte sich dem Polizisten zu, der durch die Tür der Küche trat. »Vielleicht hat Violet einen Sohn. Auf alle Fälle wurde sie in letzter Zeit des Öfteren mit einem jungen Mann in einem Café in der Commercial Road gesehen.«

Noch einmal zückte er sein kleines schwarzes Buch, befeuchtete mit seiner Zunge kurz die Spitze seines Bleistifts und schrieb sich das Wenige, das ihm die anderen erzählen konnten, auf.

»Violet dachte, dass sie einen Anspruch auf das Silber und den Schmuck von meiner Mutter hätte, und am Dienstag wurden diese Dinge und noch ein paar Sachen meiner Gran aus unserem Haus gestohlen – und jetzt das. Glauben Sie nicht, dass all das irgendwie zusammenhängt?«

»Das entscheiden andere als ich und auch als Sie, falls ich das sagen darf.« Er nahm den Helm ab und fuhr sich mit seinen langen Fingern durch das kurz geschnittene Haar. »Auf unserem Revier gibt es Leute, deren Job es ist, so was herauszufinden, also werde ich jetzt dort Bericht erstatten und dann wieder meine ganz normale Arbeit tun. Aber ich werde alles weitergeben, was mir hier berichtet worden ist.«

Kopfschüttelnd meinte Hilda: »Arme Violet. Ich hatte selbst öfter Streit mit meinem Sohn, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, auf mich loszugehen.«

»Das ist natürlich sehr traurig, aber so etwas kommt öfter vor«, erklärte ihr der Polizist. »Wahrscheinlich würden Sie sich wundern, wenn Sie wüssten, wie brutal es häufig in Familien zugeht – und wie häufig Söhne ihre eigenen Mütter schlagen oder sie bestehlen. Wir werden oft in solche Haushalte gerufen, und Sie können mir glauben – manche dieser jungen Männer würden ihre eigene Großmutter erwürgen, wenn sie auch nur eine halbe Krone in der Tasche hat.«

»Komm mit, Gran«, bat Maureen beim Anblick ihres abermals erschreckend kreidebleichen Gesichts. »Am besten bringe ich dich erst mal heim. Tom wird sich hier um alles kümmern – und Sie lassen es uns bitte wissen, falls wir Ihnen noch helfen können, Officer.«

»Auf alle Fälle, Mrs. Hart. Sie alle waren mir bereits eine große Hilfe, aber jetzt ist es am besten, wenn Sie alle gehen und nur der junge Tom mich weiter unterstützt. Er hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, also kann er mir nun eine Tasse Tee aufbrühen und mir erzählen, was er von den Leuten in der Gegend hält.«

»Soll ich dann auch noch bleiben, Officer?«, erkundigte sich Jack.

»Nein, Sie können gehen. Sie haben während Ihres Urlaubs sicher Besseres zu tun. Tom ist bei mir in guten Händen – das verspreche ich.«

»In Ordnung, Tom?«

»Es geht mir gut«, erklärte dieser, bevor er mit dem Wasserkessel vor die Spüle trat. Erst als die anderen gegangen waren, drehte er sich wieder zu dem Polizisten um. »Was wollen Sie wissen, Constable?«

»Erzähl mir, was für Leute in der Gegend leben«, forderte ihn Jenkins auf. »Du kannst anscheinend wirklich gut beobachten. Ich möchte mir ein Bild vom Alltag dieser Menschen machen, und es wäre gut zu wissen, ob hier irgendwelche Strolche wohnen, ob sich irgendwelche Leute überworfen haben – lauter Sachen in der Art.«

»In Ordnung«, meinte Tom und lächelte verstohlen. Wahrscheinlich dachte dieser Polizist, er wäre wegen seines Alters leichter zu beeinflussen, doch ihm war klar, worum es seinem Gegenüber ging. Er sollte seine Nachbarn bei ihm anschwärzen, aber so was täte er niemals. »Da gibt es leider kaum was zu erzählen. Die meisten Leute sind echt nett. Vielleicht bis auf den Kerl aus der Artillery Lane, der wegen eines Radios, das sie aus der ausgebombten Wohnung hatten retten können, auf seinen eigenen Schwager losgegangen ist.«

»Weißt du noch, wann das war?« Begierig wurden abermals der Bleistift und das kleine schwarze Buch gezückt.

»Vor etwas über einem Jahr. Inzwischen sind die beiden wieder beste Freunde, denn am Ende hat das Radio nicht mehr funktioniert, und die zehn Pfund, damit es jemand für sie repariert, waren ihnen zu viel, weshalb es auf dem Müll gelandet ist.« Tom trug die Kanne an den Tisch und atmete tief durch. »Der größte Schuft hier in der Gegend war eindeutig dieser Knocker – dieser Kerl, der kleine Jungen für sich in den Trümmern hat wühlen lassen und erst vor Kurzem wegen Diebstahls festgenommen, aber dann geflohen ist. Deswegen würde mich nicht wundern, wenn sich rausstellen würde, dass auch diese neuen Taten auf sein Konto gehen.«

»Und wie kommst du auf die Idee, dass er es war?«

»Er hat sich hier in letzter Zeit oft rumgetrieben …«, stellte Tom mit einem gleichmütigen Achselzucken fest. Er wollte nicht zu sehr in die Geschichte einbezogen werden, damit sie nicht plötzlich dächten, auch er selbst hätte womöglich was mit dem Verkauf von irgendwelchem Diebesgut zu tun. »Ich habe keine Ahnung, wer es war. Ich wollte damit einfach sagen, dass mir niemand anderes einfällt, der was gegen Mrs. Jackson oder deren Enkeltochter hat. Die zwei sind überall beliebt. Maureen ist wirklich hilfsbereit, und obwohl Mrs. Hilda manchmal etwa brummig ist, ist sie im Grunde auch sehr nett. So etwas würde also nur ein Fremder tun. Der Täter wird also ganz sicher nicht hier aus der Gegend sein.«

*

Jack kam mit einer Packung Fish and Chips zurück ins Haus, ging direkt in die Küche, nahm zwei Teller aus dem Schrank und wärmte sie im Ofen auf, bevor er noch zwei Gabeln und zwei Messer holen ging.

Auch Tom war in der Küche und wusch sich die Hände, als sein Vater mit dem Wasserkessel zu ihm an die Spüle trat.

»Ich habe drüben so viel Tee getrunken, dass ich jetzt gerne mal was anderes hätte«, meinte Tom. »Wie wäre es mit einer Flasche Bier – für mich mit Limonade …«

»Warum nicht? Wenn du dich wie ein Mann benimmst, hast du schließlich auch einen Anspruch auf ein männliches Getränk«, stimmte Jack lächelnd zu. »Und, war der Constable mit deiner Aussage zufrieden, mein Sohn?«

»Bei manchen Sachen hat er aufgehorcht, aber im Grunde habe ich ihm nur erzählt, was jeder weiß. Das Offensichtliche hat ihn nicht weiter interessiert. Nämlich, dass Violet den Mann, der ihr das angetan hat, kannte und ihn reingelassen hat. Aber das können wir nicht beweisen, und wir müssen einfach darauf hoffen, dass sie wieder zu sich kommt und es der Polizei dann selbst erzählt.«

»Das müssen wir. Die arme Frau. Ich weiß natürlich, dass sie eine spitze Zunge hat, aber sie ist kein wirklich schlechter Mensch.«

»Natürlich nicht. Sie hat Maureen zwar nie besonders gut behandelt, aber …« Achselzuckend fügte Tom hinzu: »Ich mag Maureen und Hilda. Sie waren immer nett zu mir – und Peggy auch. Habe ich dir schon erzählt, dass sie vor ein paar Tagen Zwillinge bekommen hat?«

»Du nicht, aber Alice, als ich ihr auf meinem Weg hierher begegnet bin. Ich habe Peggy heute Nachmittag auch schon im Krankenhaus besucht … nachdem ich vorher kurz bei deiner Mutter war.«

»Wie geht es Mum?«, erkundigte sich Tom. »Hat sie mit dir gesprochen?«

»Nein.« Jack schüttelte den Kopf. »Die Schwester hat gesagt, dass es ihr langsam besser gehen würde und sie vielleicht bald nach Hause kommen könnte, aber meiner Meinung nach ging es ihr schlechter als zuvor. Der Speichel ist ihr übers Kinn gelaufen, und sie hatte einen geradezu erschreckend leeren Blick. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe Angst, dass sie dir jede Menge Ärger macht, falls sie noch mal nach Hause kommt. Wir müssen abwarten, wie es mit ihr weitergeht.« Jack seufzte, doch dann fingen seine Augen an zu leuchten, und er meinte: »Peggy hat nach dir gefragt und mir erlaubt, ihr kleines Mädchen auf den Arm zu nehmen. Der Junge liegt noch immer in dem Kasten, wo er Sauerstoff bekommt, aber die Schwester hat zu ihr gesagt, dass seine Atmung immer besser würde und sie denken, er dürfe bald nach Hause. Peggy hatte Tränen in den Augen, als sie mir davon erzählt hat, und genauso ging es mir auch, denn sie ist wirklich eine wunderbare Frau.«

»O ja, und wir haben echt Glück, dass sie hier in der Nähe wohnt.« Grinsend wandte Tom sich ab und stellte die im Ofen vorgewärmten Teller auf den Tisch.

»Ich habe ihr gesagt, dass du das Haus vielleicht nicht mehr behältst, falls deine Mutter nicht mehr wiederkommt. Sie hat gesagt, du könntest, wenn du wolltest, dann bei ihr einziehen.«

»Ich weiß.« Mit einem noch breiteren Grinsen fügte Tom hinzu: »Wie es aussieht, bin ich bei den Leuten in der Gegend sehr beliebt. Dasselbe Angebot hat Alice mir gemacht, und Maureen meinte, falls ich über ihrem Laden wohnen wollte, könnte ich das tun und müsste nicht mal Miete für die Wohnung zahlen.« Mit nachdenklicher Stimme fuhr er fort. »Wenn ich mir sicher wäre, dass Mum nicht mehr heimkommt, würde ich das Angebot wahrscheinlich annehmen. Dort wäre auch genügend Platz für dich, wenn du nach Hause kommst.«

»Denk drüber nach, mein Sohn.«

»Oder ich könnte erst einmal zu Alice ziehen …«

»Wie es aussieht, fliegen dir die Frauenherzen nur so zu«, bemerkte Jack. »Ich hoffe nur, das steigt dir nicht zu Kopf.«

»Die Frauen mögen dich doch auch. Das heißt, ich trete lediglich in deine Fußstapfen«, gab Tom zurück und blickte auf die abgelegten Stiefel seines Vaters, die er trug. Sie waren ihm natürlich noch zu groß, und um sie nicht beim Laufen zu verlieren, zog er immer extra drei Paar Socken an.

»Ich habe sie dir eigentlich geschenkt, um reinzuwachsen«, lachte Jack. »Ich werde dir ein neues Paar besorgen, Tom.«

»Bob Hall meinte, dass er ein Paar in meiner Größe für mich hat. Er hat die Stiefel schon vor Jahren für einen Kunden repariert, aber der hat sie dann nicht abgeholt. Ich brauche bloß vier Shilling für die neuen Sohlen zu bezahlen, dann gehören sie mir.«

»Dann hole ich sie morgen für dich ab«, sagte Jack zu. »Schließlich kannst du nicht in diesen Sieben-Meilen-Stiefeln durch die Gegend laufen.«

»Ich werde übrigens noch Peggys Küche streichen, bevor sie nach Hause kommt«, erzählte Tom. »Janet hat mich gefragt, ob ich das machen würde, als ich vorhin aus dem Laden kam. Du könntest mir ja helfen, wenn du willst. Ich dachte mir, ich fange nach dem Abendessen an.«

»Natürlich werde ich dir helfen«, versprach ihm Jack. »Und morgen kann ich dann alleine weitermachen, während du im Laden bist. Wir machen alles schön und frisch, damit sich Peggy freut, wenn sie nach Hause kommt.«

»Dann haben wir eine nette Überraschung für sie, wenn sie aus der Klinik kommt«, pflichtete Tom ihm bei. »Wenn wir zusammen abends streichen und du tagsüber alleine weitermachst, wird bis zu ihrer Heimkehr sicher alles fertig sein.«