TÜRKEI? DU BIST VERRÜCKT
FALLEN, DIE Auf einem Segelboot gibt es viele Fallen. Ohne könnte man gar nicht segeln. Die Fallen sind die Seile, mit denen die Segel in den Mast gezogen werden. Das kann man sich vielleicht so merken: Alles, was von oben kommt, also vom Mast »fällt«, sind die Fallen. So gibt es das Großfall, mit dem das › Großsegel gesetzt wird. Oder das Fockfall für das › Vorsegel.
FENDER, DER In Norddeutschland auch »Bummsbüdel« genannt. Fender sind mit Luft gefüllte stabile Plastiktuben oder Bälle, die in Häfen die Bordwand vor anderen Schiffen oder den Stegen schützen. Das Verb lautet »abfendern«. Auf großen Schiffen werden auch manchmal alte Autoreifen verwendet – ein No-go bei Seglern, denn die Reifen machen furchtbare Streifen am Rumpf.
Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Dabei ist es erst knapp vier Wochen her, dass ich in Hannover zu schlaftrunkener Zeit in den Flieger gestiegen bin. Knapp zwei Wochen lag ich in Marmaris, lebte mich auf der Dilly-Dally ein, verpasste ihr und mir ein kleines Lifting. Immer noch warte ich auf den Tag, an dem ich das, was ich hier mache, hinterfragen werde. Aber er kommt einfach nicht. Zu groß die Vorfreude auf das, was noch kommen mag. Zu nichtig das, was ich hinter mir gelassen habe. Zu gut meine ersten Eindrücke.
In die Türkei? Bist du verrückt? Als Journalist? Der Dreiklang der Skeptiker hallt immer noch in meinen Ohren. Auch die ersten Freunde, die mich auf der Dilly-Dally besuchen kommen, haben ihre Zweifel. Die meisten waren noch nie in der Türkei. In ihren Augen sah das Land aus wie die dunkelsten Ecken Kreuzbergs, hörte sich an wie ein tiefergelegter 3er-BMW mit Sportauspuff, und die Frauen, die mit spätestens vierzehn Jahren zwangsverheiratet werden, wanderten wie abgehängte Vogelkäfige durch die staubigen Straßen. Dass die Mittelmeerregion mit den gängigen Klischees aber nichts zu tun hat, wurde mir schnell klar.
In Marmaris knattern türkische Mädels auf ihren Rollern durch die Straßen, in Hotpants, kürzer, als man sie an den wärmsten Tagen in Deutschland sieht, verziert mit Tattoos, schöner und größer als in Friedrichshain. Kippe im Mund, Handy am Ohr. Abends trifft sich die Jugend in Bars, trinkt Bier und Raki und hört Rockmusik. Das Ganze nur viel entspannter als in Deutschland, freundlicher und auch respektvoller. Fast kein Tag vergeht, an dem wir nicht irgendwo eingeladen werden. Kein Pöbeln, kein Komasaufen. Einfach Lebensfreude. Wer auch nur ein paar Brocken Türkisch spricht, wird empfangen wie ein alter Freund.
Und die Politik? Achselzucken! Ist halt so. Natürlich sind mir die Probleme in der Türkei bewusst, gerade als ehemaliger Journalist kann und darf mir der Umgang mit der Meinungsfreiheit nicht egal sein. Und natürlich habe ich meine Meinung dazu. Ebenso wie die allermeisten Türken, die ich treffe. Unsere Meinungen decken sich sogar weitestgehend. Ich bewundere aber die Unaufgeregtheit, die so manchem in Deutschland gut zu Gesichte stehen würde, anstatt sich über alles und jeden unqualifiziert aufzuregen.
In der Türkei versuchen die meisten Menschen, sich mit der Situation zu arrangieren. Aber das hat nichts mit Selbstaufgabe oder Gleichgültigkeit zu tun. Vielmehr ist jeder allzeit sehr gut informiert. »Soll ich mich jeden Tag über die Politik aufregen?«, sagte ein türkischer Freund einmal zu mir. »Was ändert das? Lieber versuche ich, das Beste aus der Situation zu machen, mein Leben zu genießen. So gut es eben geht.«
Als sich im März 2019 bei den Kommunalwahlen in Istanbul eine Sensation anbahnte, weil der Oppositionskandidat den Urnengang knapp für sich entschieden hatte, ließ die Regierung in Ankara die Wahl ausgerechnet in den Sommerferien wiederholen. Die türkischen Küstenstädte, die traditionell die Kemalisten – also die Opposition – wählen, riefen alle Istanbuler mit Slogans auf Postkartenmotiven auf, zur Urne zu gehen, um die seit fünfundzwanzig Jahren regierende AKP vom Thron zu stoßen. Eine Briefwahl gab es nämlich nicht. In der westtürkischen Provinz Çanakkale hieß es zum Beispiel: »Haifisch-Angriff erwartet an Bozcaada-Stränden am 23. Juni. Wählt in Istanbul. Werdet nicht zu Haifischfutter.« Bodrum, ein bei Türken wie Ausländern beliebter, weil mondäner Badeort an der Ägäis, gab schon Wochen vor dem Stichtag mitten im Sommer eine Schneewarnung aus. Alle Strände seien geschlossen, ließ die Stadt verbreiten. Selbst die Fluggesellschaft Turkish Airlines nahm für das Wochenende weitere vierundzwanzig Maschinen in den Flugplan auf, um die Menschen zur Stimmabgabe zurück nach Istanbul fliegen zu können. Von Kaş aus brach ein Bus-Corso mit Wahlberechtigten unter lautem Hupen und Beifall zum Bosporus auf. Zwölf Stunden hin, zwölf zurück. Zwischendurch nur kurz zur Stimmabgabe. Die sozialen Medien waren geflutet mit Fotos von Flugtickets Richtung Istanbul. Oft stand darunter: »Meine teuerste Stimme. Aber jede Lira wert.« Und so kam es, dass die Opposition einen überwältigenden Sieg feierte. Sehr zum Ärger des amtierenden Präsidenten, der einmal gesagt hatte: »Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei.«
Solche und ähnliche Anekdoten gibt es viele, in Deutschland kommen sie aber im Bewusstsein der Menschen kaum an. Nicht, weil Medien nicht darüber berichten würden. Das tun sie durchaus. Aber solche Informationen finden nur selten den Weg in die Filterblasen derer, die bereits ihr vorgefertigtes Bild der Türkei haben. Und das trägt eben Kopftuch oder Goldkettchen, je nach strikter Geschlechtertrennung. Dabei vermisse ich in Deutschland ein ähnliches Engagement der Bürger wie bei der Kommunalwahl in der Türkei. Bei uns geht die Beteiligung in den Keller, sobald das Wetter schön ist und ein Ausflug wichtiger erscheint.
Ich habe mich bewusst für die Türkei entschieden, freiwillig und gerne, trotz aller Schwierigkeiten, die es hier gibt. Nach einem Artikel, der im Online-Wassersportmagazin float erschienen ist, für das ich regelmäßig schreibe, um die Bordkasse etwas aufzubessern, wurde ich von einem Segler auf Facebook beschimpft. »Wie kann man nur in der Türkei segeln?«, schrieb er unter den Link zum Artikel. Die Frage darf natürlich gestellt werden, und ich hätte sie auch gerne fundiert beantwortet, aber während ich noch an der höflichen Antwort schraubte, ereiferte sich der Gute immer mehr. Er beschimpfte mich erst als »realitätsfern«, dann als »Unterstützer des Regimes«. Der Schritt zum »Idioten« dauerte nur zwei weitere Posts. Dann war er auch schon bei der Flüchtlingskrise angekommen, für die ich, wenn ich es richtig verstanden habe, auch verantwortlich bin. Also natürlich nicht für die Krise an sich, sondern dafür, dass das Abendland jetzt irgendwie von Muselmanen aus dem Morgenland überrannt wird. Die Gedankensprünge konnte ich leider nicht ganz nachvollziehen, was auch daran lag, dass der Eiferer aus den Niederlanden stammte und sein Deutsch etwas holprig war. Immerhin der letzte Satz war wieder gut verständlich. »Erst mal informieren!«
Ich löschte meine bis dahin verfasste Antwort mit den vielen Links zu belegbaren Quellen, wie etwa zu den Ergebnissen der letzten Kommunalwahlen, und schickte dem Mann stattdessen eine andere Nachricht. Persönlich, nicht über einen öffentlichen Post. Ich finde, das gehört sich nicht. Ich bedankte mich höflich für das Feedback und wehrte mich nur gegen eine Unterstellung: gegen die, ich hätte mich nicht informiert. Ich schrieb ihm genauso platt und oberflächlich, dass ich eigentlich in den Niederlanden segeln wollte. »Aber bei einem Blick auf die Ergebnisse der letzten Kommunalwahlen dort, bei denen die rechtspopulistische Partei FvD die meisten Stimmen bekommen hat, hielt ich es für unverantwortlich, in den Niederlanden noch Urlaub zu machen.« Auf eine Antwort warte ich bis heute.
Es war nicht das einzige Mal, dass ich für die Wahl meines neuen Lebensmittelpunktes beschimpft wurde. Meist sind es Leute, die ich gar nicht persönlich kenne, die aber meinen, mich in sozialen Medien beleidigen zu müssen. Ihr Vorwurf: Allein durch meine Anwesenheit in der Türkei unterstütze ich die Regierung in Ankara. Ich bin ziemlich sicher, dass das ziemlicher Blödsinn ist. Wie sagte schon Alexander von Humboldt: »Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, die die Welt nie angeschaut haben.« Hinfahren, umschauen und selbst ein Urteil bilden ist in meinen Augen definitiv die bessere Wahl, als Vorurteile zu bedienen.
Zumal es »die Türkei« auch gar nicht gibt. Die Menschen an der Mittelmeerküste ticken vollkommen anders als diejenigen, die die Regierung in Ankara gewählt haben. Die Argumentation »Türkei gleich Erdoğan« greift ein bisschen kurz. Die meisten großen Städte und vor allem die komplette Mittelmeerküste haben die Opposition gewählt, die meist ärmere Landbevölkerung dagegen die regierende Partei. Wenn die Touristen an der Küste wegbleiben, leiden darunter vor allem die Gegenden, die nicht die Regierung gewählt haben. Man bestraft also diejenigen, die im Austausch mit Ausländern stehen, die weltoffen sind, die eine Brückenfunktion haben. Es ist überall das Gleiche auf der Welt: Menschen, die arm an materiellem Besitz sind, sind leichter empfänglich für populistische Gedanken. Weil ein vermeintlich starker Mann ihnen die Sicherheit geben kann, die sie verzweifelt suchen. Vor allem wenn er ihnen ein gutes Leben verspricht. Oder aber sie verzweifeln und versuchen, dahin zu gehen, wo es ihnen besser geht. Vielleicht nach Deutschland. Auch das dürfte den meisten Facebook-Gelehrten nicht recht sein.
Die Türkei ist eines der spannendsten und abwechslungsreichsten Länder, die ich kenne. Vor allem aber hat das Land eine über 8300 Kilometer lange Küste. Ich bin um die Balearen gesegelt, in Kroatien, in Griechenland, Italien und natürlich auf der Ostsee – kein Revier hat mich so fasziniert wie die Türkei. Die Landschaft, die Buchten, die Geschichte – alles einzigartig. Aber wie mein südafrikanischer Freund Mark mit einem Hauch Buddhismus in der Stimme immer sagt: »Menschen machen Orte.« Und so sind es auch die Wärme und die Hilfsbereitschaft der Türken, die das Land so reizvoll machen.
Als sich der Plan auszusteigen in meinem Kopf manifestierte, sah ich mich in einem Innenhof eines kleinen Cafés sitzen, auf gemütlichen Polstern, vor kleinen Tischen. Pflanzen ranken die Mauern empor, ein großer Baum spendet Schatten. Abends füllt sich der Innenhof, die Musik wird lauter, und aus dem Café wird eine lebendige Bar. Hier würde ich Bücher schreiben wollen. Und ich wusste auch schon genau, wo dieses verwunschene Café liegt: hinter einem kleinen Durchgang am Stadthafen von Kaş, markiert mit einem schlichten Schild: »Hideaway Bar & Café«.
Kaş, irgendwo auf halber Strecke zwischen Marmaris und Antalya, ist ein ehemaliges Fischernest im historischen Lykien, einer Region reich an Kultur, mit herrlichen Ankerbuchten und liebevollen Menschen. Kaş ist zudem einer der südlichsten Punkte der Türkei. Das macht den Ort für Segler attraktiv zum Überwintern. Denn selbst die kältesten Monate des Jahres sind hier überwiegend warm, und der Wind erreicht nur selten Sturmstärke.
Seit meinem ersten Besuch 1992 ist Kaş für mich der schönste Ort der Türkei, fernab des Massentourismus, dafür beliebt bei Backpackern, Tauchern und Aktivtouristen. In den malerischen Altstadtgässchen reihen sich die schiefen Häuser mit den charakteristischen Holzerkern aneinander, Steinsarkophage stehen wie Mahnmale an den Straßen und erzählen die Geschichte eines untergegangenen Reiches. Auf den Ruinen des antiken Antiphellos ist das moderne Kaş gewachsen.
Der Ort, der bis in die Siebzigerjahre nur über Eselspfade zu erreichen war, ist mittlerweile zum Leben erwacht. In den alten Häusern haben sich quirlige Cafés, gemütliche Bars und gute Restaurants angesiedelt. Am Ufer, auf den schroffen Felsen, haben Beach-Clubs Terrassen aus Planken gezimmert, von denen Leitern in das Wasser hinunterführen. Natürlich gibt es auch ein bisschen Touri-Nippes. Hamam-Tücher hier, Silberschmuck dort. Und fast überall leuchtet das bekannte blaue Auge, das nazar boncuğu, das dem Besitzer Glück verspricht und ihn vor bösen Blicken schützen soll.
Es scheint zu wirken, zumindest blieb Kaş von nervigen ausländischen Touristenmassen verschont. Was aber wohl hauptsächlich daran liegt, dass der Ort, dessen Name auf Deutsch »Augenbraue« heißt, fernab der Bettenburgen um Antalya und Alanya mit ihren Buffetschlachten und All-Inclusive-Angeboten liegt – wo manche Urlauber schon vor der Ankunft ausrechnen, wie viel Bier sie täglich trinken müssen, um den Reisepreis rauszusaufen.
Hoch über Kaş thront der Schlafende Riese, so nennen die Einwohner des 9000-Seelen-Städtchens den schroffen Felsen, der kahl auf der Bergkette vor sich hin dämmert, weil er, wie der Name schon sagt, aussieht, als ob sich dort ein Gigant zum Dösen niedergelegt hätte: Kopf, Schultern, Hüfte, ein massiver Korpus, sogar eine Hand und Beine kann man erkennen, wenn man will. An Sommertagen starten im Gebirge Paraglider, kreisen in den warmen Aufwinden über Kaş und dem hellenistischen Amphitheater, das vor mehr als zweitausend Jahren viertausend Besuchern Platz geboten hat. Zur Landung nehmen sie Kurs auf den Stadthafen mit den typischen Gulets, die auf Taucher und Touristen warten und zum Auslaufen bereitliegen.
* * *
In Kaş, das war mir also von Anfang an klar, will ich mein Abenteuer starten. Nur muss ich von Marmaris aus erst noch dorthin segeln. Am besten mit einer erfahrenen Crew. Auch wenn gerade mal 80 Meilen zwischen den Orten liegen, will ich nicht gleich mit einem Solotrip starten. Denn Ende Oktober kann das Mittelmeer bereits recht ruppig sein.
Spontan sagten meine Freunde Kai-Uwe und Sven bei der Strandsegel-WM in Sankt Peter-Ording zu, mich zu begleiten. Zwei gute Freunde, mit denen es nie langweilig wird. Zwei Pragmatiker dazu, ausgebildet im Bootsbau bei der Norderneyer Edelwerft Dübbel & Jesse, wo sie sich vor vielen Jahren kennenlernten. Kai-Uwe war Svens Lehrmeister. Heute ist Sven Segelmacher in Schleswig, Kai-Uwe hält halb Norderney instand.
Ein bisschen Bammel habe ich schon, bevor die beiden anreisen. Vielleicht nicht ganz so viel wie Sven vor dem Fliegen, aber davor, was die beiden an der alten Lady alles auszusetzen haben. Davor, was sie finden werden.
Die Segel lassen Svens Mundwinkel nach unten sinken. »Da musst du mal was machen. Die sind durch«, sagt er gleich nach seiner Ankunft. Aber das war sogar mir klar. »Maximal ein, zwei Jahre werden sie vielleicht noch halten – bei leichten Winden«, beruhigt mich Sven ein bisschen.
Rastlos rasen die beiden ab dem ersten Tag über das Deck, schrauben, inspizieren, tauschen laufendes Gut, also Seile und Schoten, aus, spannen das stehende Gut, also Wanten und Stage, nach – so gut es eben geht und was die Ersatzteile an Bord hergeben. Der Rest wird beim Bootsausrüster gekauft. Sie setzen den Traveller, über den das Großsegel eingestellt wird, instand, nähen, werkeln an der elektrischen Wasserpumpe und finden Schalter mit Wackelkontakt, checken den Motor und starren ratlos auf den Kartenplotter, der nur ein Bild kennt, das an das Testbild nach Sendeschluss erinnert, zu der Zeit, als es nur drei Fernsehprogramme gab.
Noch bevor Kai-Uwe den Schraubenzieher ansetzen kann, hat Sven einen Kumpel aus Schleswig an der Strippe, der sich mit Kartenplottern auskennt und liebevolle Reparaturtipps gibt. Wie: »Hau dreimal links oben gegen den Monitor.« Und siehe da, das Schneegestöber löst sich auf. Zumindest für ein paar Sekunden. Aber die Diagnose ist klar. Also legen die beiden wie Herzchirurgen das Innerste des Gerätes frei, schrauben an den Eingeweiden, legen einen Bypass, und schon nach wenigen Minuten blinkt das GPS-Signal wieder in einer glasklaren Umgebung, die eindeutig Marmaris zeigt.
Der erste Tag auf See endet nach einem Badestopp mit Ankerbier an der Pier der Tankstelle in Marmaris, um Diesel zu bunkern und die Kanister mit Benzin für den neuen Außenborder zu befüllen. Die Tankwärter beömmeln sich über den Namen des Bootes. »Dilly-Dally, Dilly-Dally«, frotzeln sie immer wieder und lachen sich halb schlapp. Ich lache aus Höflichkeit mit, ohne zu wissen, was genau die Heiterkeit auslöst. Ich mag den Namen, der leicht von den Lippen geht und nicht so schwer klingt wie manch andere Bootsnamen, die angelehnt sind an die Historie oder die Astronomie. Dilly-Dally, das habe ich immerhin bereits herausgefunden, ist ein englisches Verb. To dilly-dally bedeutet so etwas wie »herumtrödeln« oder »sich Zeit lassen«. Genau das, was ich vorhabe. In meinen Augen passt der Name perfekt.
Nachdem der Tank gefüllt ist, machen wir wenige Hundert Meter entfernt direkt an der Promenade von Marmaris fest und erkunden den Ort. Es wird ein langer Abend und eine kurze Nacht.
Am nächsten Tag segeln wir früh los, um vor dem Delta von Dalyan den Nachmittag verbringen zu können. Wir ankern vor dem Turtle Beach, dessen Name schon verrät, dass hier Meeresschildkröten brüten, testen das neue Beiboot samt Außenborder, trinken Bier in einer Bretterbude am Strand, schwimmen im Meer.
Dann lichten wir den Anker, um ihn in der My Marina wieder fallen zu lassen. Eine herrliche Anlage mit tollem Restaurant – vielleicht etwas teurer, aber jeden Cent wert (und im Vergleich zu deutschen Preisen immer noch günstig). Das Restaurant liegt etwa fünf Minuten Fußweg einen Hügel hinauf, die Küche ist exzellent, der Fisch fangfrisch, der Service erstklassig. Kleine silberne Spiegel stehen auf den Tischen, darauf geschrieben der Bootsname.
Am nächsten Morgen machen wir uns etwas später auf den Weg zum Golf von Fethiye. Das Meer ist weit, nur wenige Segler begegnen uns – und eine Meeresschildkröte, die gelangweilt neben uns auftaucht. Segeln kann so schön sein. Selbst Ende Oktober.
Svens Haut liest sich bald wie ein Buch in Brailleschrift. »Fünfundsiebzig! Wahrscheinlich sogar mehr.« Den Kampf gegen die Mücken hat das tapfere Segeltuchschneiderlein eindeutig verloren. Nach drei Nächten Martyrium sieht Sven keine andere Lösung. Er muss sich einen Mückenschutz bauen. Nur wie? Etwas ungläubig starrt er mich an, als mir einfällt: »Ach so, vorne liegen ganz viele.« Hatte ich doch glatt vergessen. Kann ja mal passieren. Svens Reaktion würde in einem Comic wahrscheinlich aus Blitzen, Totenköpfen, schwarzen Wolken und ganz vielen Ausrufezeichen bestehen.
Jedenfalls konstruiert sich Sven in mühevoller Handarbeit einen wunderschönen Schneewitchensarg, in dem er allerdings so aussieht wie von Biene Majas Erzfeindin Thekla eingesponnen. Aber er fühlt sich sicher. Dass die Mücken in der nächsten Nacht Svens Kniescheibe, die wahrscheinlich am Netz anliegt, sieben Mal ansaugen, überrascht uns dann doch.
Für Kai-Uwe und mich ist Svens Anziehungskraft auf die Blutsauger ein Geschenk. Wir bleiben von den Mücken fast verschont – nicht aber von dem Gewitter, das sich auf dem Weg nach Kalkan über dem Meer aufbaut und sich über uns entlädt. Mit Blitzen, wie sie sonst nur Stroboskope in Vorstadtdiscos verfeuern, und Sturmböen bis zu 42 Knoten – satte 9 Windstärken. Natürlich direkt auf die Nase. Während Svens Blicke immer mehr die düstere Farbe des Horizonts annehmen, feiert Kai-Uwe jede Welle, jeden Blitz. »Ist das geil! Das ist ja so geil!« Ebenso unbeeindruckt wie Kai-Uwe zeigt sich auch die Dilly-Dally, die mit ihren stattlichen 14 Tonnen Eigengewicht gemütlich durch das Unwetter schippert wie ein Dampfer über den Wannsee zur besten Kaffeezeit.
In Kalkan belohnen wir uns mit einem gediegenen Dinner über den Dächern der Stadt, Blick auf den Hafen inbegriffen. Und auch auf die Blitze, die immer noch über den Bergen niedergehen. Beim dritten Absacker in einer Hafenbar kommt es dann zur Vereinigung. Aus zwei Gewittern wird plötzlich ein großes. Sturmböen peitschen durch die engen Gassen, Wasser kübelt wie aus Eimern auf uns nieder. Auf der Dilly-Dally löst sich die Bimini, der Sonnenschutz, zur Hälfte und wütet im Cockpit. Dann ist das Gewitter, so schnell, wie es gekommen ist, auch wieder vorbei. Zurück bleibt ein reingewaschenes Schiff. Und eine neue Aufgabe für Kai-Uwe und Sven: Bimini reparieren!
Am nächsten Tag weckt uns die Sonne. Und das Pfeifen in den Wanten. Windfinder hat 5 bis 6 Windstärken angesagt. Aus Westen. Achterlicher Wind bis zu unserem 30 Meilen entfernten Ziel in Kekova, einer versunkenen Stadt. Aber aus 6 werden nach dem Ablegen wieder bis zu 9 Windstärken. Kai-Uwe findet die Tour »noch geiler« als am Tag zuvor, Sven sieht wieder genauso besorgt aus. Die Genua, das große Vorsegel, haben wir bis auf Handtuchgröße gerefft, das Groß bleibt eingerollt. Trotzdem pflügt die Dilly-Dally mit bis zu 8 Knoten durch das Wasser, vorbei an Kastellorizo, raus aufs offene Meer, rein in die Bucht von Kekova. Trotz des Sturms gibt es nicht einen Moment des Zweifelns. Die Moody ist alles andere als launisch, wie es die Übersetzung des Namens nahelegt. Vielmehr macht sie mir Mut.
Hinter der Bucht von Kekova erstreckt sich eine zweite Bucht. Die steuern wir an. Absolut geschützt, bester Ankergrund auf 6 Metern Tiefe. An der Kette tanzt die Dilly-Dally in den heftigen Böen eine Pirouette nach der anderen im aufgehenden Vollmond.
»Sollte der Wind nicht längst nachgelassen haben?«, fragt Sven irgendwann besorgt, da ist es schon dunkel. Ja, das sollte er. Hat er aber nicht.
Unvorhergesehen hat sich ein Tiefdruckgebiet gebildet. Das Barometer fällt urplötzlich wie ein Bungeejumper von einer Brücke. Der Seewetterbericht spricht jetzt von Böen mit 11 Windstärken – über 100 km/h werden gemeldet. Die beiden Matrosen machen das Boot sturmsicher, bauen Bimini und alles, was Angriffsfläche bietet, ab. Ich begebe mich in die Kombüse und verdinge mich als Smutje. Sprich: Ich koche. Nicht vor Wut, sondern Pasta. Sven hat Hunger. Er kann dann etwas unleidlich werden. Als die ersten Böen mit weit über 40 Knoten, also knapp 80 Stundenkilometern, wie ein Vorschlaghammer auf die Dilly-Dally hämmern, hat Sven den Appetit aber verloren. Der halbe Teller bleibt unangetastet. Kai-Uwe nimmt noch zwei Nachschläge, schnappt sich sein Buch und liest. »Ist gerade so spannend«, erklärt er. Auch Sven versucht zu lesen, versucht zu dösen, versucht sich Mut zuzureden. Aus Deutschland erreichen uns über WhatsApp Satellitenbilder und aufmunternde Sprüche: »Müsste bald durch sein!« Aber immer wenn wir glauben, der Wind lässt nach, holt er nur noch einmal Luft. Kai-Uwe liest unbeeindruckt das nächste Kapitel. Anscheinend ist das Buch wirklich spannend. Sorgen, dass der Anker sich lösen könnte, wischt er beiseite. »Wieso, wenn der jetzt vier Stunden gehalten hat, warum sollte er dann nicht noch weitere vier Stunden halten?«, sagt er im breitesten Friesisch. Nächste Seite.
Und in der Tat: Der Anker gibt in der Nacht nicht einen Meter nach. Er hat sich komplett eingegraben, wie wir am nächsten Morgen der dicken Schlammschicht entnehmen, die meterhoch an der Kette klebt. In Anbetracht des Sturms hatten wir reichlich Kette gelassen. Eine Faustformel besagt, die Länge sollte mindestens drei Mal die Wassertiefe betragen. Je mehr Wind, desto mehr Kette. Und so steckten wir die siebenfache Länge, bei 11 Windstärken schien uns das angemessen. Platz genug zum Schwoien hatten wir auch. Außer uns lagen nur ein paar vereinzelte Gulets in der Bucht.
Der Wind hat sich in der Nacht anscheinend so verausgabt, dass ihm die Puste ausgegangen ist. Als wir Kekova verlassen, ist das Meer wie glatt gebügelt. Am Ufer liegt ein Gulet in den Felsen. Es hat die Nacht nicht überlebt.
In Kaş laufen wir den Stadthafen an. Zu meiner Freude sieht der Ort noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren. Kai-Uwe und Sven sind begeistert. Von den Bars, den Beach-Clubs, den Tauchern, von denen an diesem Wochenende eintausend im Ort sein sollen, von der entspannten Stimmung. Zum Sonnenuntergang klettern wir auf das antike Amphitheater, stoßen auf eine tolle und abenteuerliche Woche an. »Abgeliefert«, sagt Sven.
Als wir durch die engen Gassen der Altstadt schlendern, vorbei an dem großen Sarkophag, entlang der bunten Boutiquen und Bars, über den bevölkerten Platz mit dem Atatürk-Denkmal, da stehen wir plötzlich vor einer Tür, die zu einem verwunschenen Garten führt. Neben dem schmalen Durchlass steht auf dem Schild »Hideaway Bar & Café«. Es ist die Bar aus meiner Erinnerung, in der ich Bücher schreiben wollte. Wir bleiben. Länger als gewollt.
Am nächsten Morgen um 7 Uhr schultern die beiden ihre Taschen, gehen zum wartenden Taxi. Ich schaue mich um. Der Hafen, die Mole, die pittoresken Häuschen der Altstadt, Gässchen, die sich die Hügel hochschlängeln. Langsam erwacht Kaş nach einer kurzen Nacht. Es ist warm, obwohl sich die Sonne erst noch über die Berge quälen muss. Mein Gefühl ist: »Angekommen.« Ich nehme mir noch einen Kaffee, verkrieche mich wieder in der Koje und genieße die Ruhe. In vier Stunden kommen die nächsten Freunde.